Vom Wesen der Zahl oder von der heiligen «Ordnung der Neun» zum Dezimalsystem
Vom Wesen der Zahl oder von der heiligen «Ordnung der Neun» zum Dezimalsystem von Michael Stelzner Inhaltsverzeichnis 1. Die Frage nach dem Zahlensystem ist eine
von Michael Stelzner
Was lebt, das folgt einer Ordnung. Ohne Ordnung ist Leben nicht denkbar. Die Ordnung wiederum ist ohne die Zahl nicht denkbar. Erst die geordnete Folge der Zahlen macht das Grundmuster der Ordnung, die Sukzessivität anschaulich. Deshalb versuchen wir ebenso folgerichtig vor dem Hintergrund des linearen Zahlenstrahls die Welt und ihre Phänomene zu verstehen und zu ordnen. Aus dem Hintergrund des linearen Zahlenstrahls heraus lernen wir immer komplexere Ordnungssysteme zu durchschauen. Doch bleibt der lineare Zahlenstrahl das Ur- und Bezugsmuster jedes höheren und komplexeren Musters.
Der Rückbezug zu dem denkbar einfachsten Muster ist die Grundlage für jeden Wissenserwerbs. Wissenschaft ist Mustererkennung und zu ihnen gehören auch die Geisteswissenschaften, einschließlich die der Religion. So lassen sich alle Weisheits- und Religionslehren auf die sogenannte »Zahlenkunst« zurückführen. So nannte Platon in seiner Politeia die Beschäftigung mit den Zahlen und er gab ihr das höchste Gewicht:
„ … was allen Künsten und Forschungen und Wissenschaften unentbehrlich ist, und was denn jeder mit als Erstes erlernen muss. Diese ganz bescheidene Weisheit: die richtige Kenntnis der Eins, der Zwei und der Drei.“
Vor allem ließ Platon keinen Zweifel darüber aufkommen, das unter der »richtigen« Kenntnis die Schau der Ideen der Zahlen zu verstehen ist:
„Es obliegt uns also dies Fach (Zahlenkunst) zum gesetzlichen Lehrfach zu machen und diejenigen, die künftig im Staate der höchsten Amtsgewalt teilhaftig sein sollen, zu veranlassen sich der Zahlenkunst zuzuwenden und sich mit ihr zu befassen nicht etwa bloß in laienhafter Weise, sondern bis sie durch reine Vernunfttätigkeit zur Anschauung der wahren Natur der Zahlen gelangt sind, eine Art der Behandlung, die nichts gemein hat mit Kaufen und Verkaufen wie bei Kaufleuten und Krämern…“. Für Platon war jenes Lehrfach ein „besonders feines Fach“, weil es, wie er es ausdrückte, „die Seele offenbar nötigt auf dem Wege des reinen Denkens sich der reinen Wahrheit zu nähern.“
Die »Zahlenkunst« erzählt von den Ideen. Vor allem aber lässt sie diese nicht willkürlich neben einander stehen. Das würde wiederum zur Verzweiflung führen. Die »Zahlenkunst« erzählt vielmehr von der sukzessiven Ordnung der Ideen. Die Sukzessivität basiert auf einem „Wiedererkennen“ und aus ihm erwächst die Kontinuität die wir in den Zahlen finden, denn jede Zahl ist, weil sie sich in der Eins, der Einheit und Vollkommenheit wiedererkennt.
Das überschaute Nacheinander der Existenz von Archetypen ist der Maßstab jeglicher bewussten Ordnungssuche und es vermag dem Bewusstsein die Sicherheit und Ruhe zu geben, nach dem es strebt.
Der Rückbezug auf nicht mehr reduzierbare Urmuster kennzeichnet das naturwissenschaftliche Tun ebenso wie das der Religionen. Die von Letzteren als Metaphern verwendeten Zahlen finden wir beispielsweise in den heiligen Schriften und in den Maßen von Sakralbauten. Bezeichnenderweise geht es dabei nicht um hochkomplexe Zahlenzusammenhänge, sondern um die einfachsten. So fällt auf, dass sich die Maße von Sakralbauten oder die Angabe von Größen in heiligen Schriften fast ausschließlich auf Linien und nicht auf Flächen oder Volumina beziehen. Deutlich wird das am Beispiel von zentralen Heiligtümern, wie dem Salomonischen Tempel (Link), den Pyramiden (Link) oder der Begründung wichtiger Maßstäbe (s. Königselle), die regelmäßig auf das Kreisgleichnis zurückzuführen sind.
Tatsächlich erfassen wir selbst die komplexesten Zusammenhänge – sofern wir sie überhaupt erfassen können – über das Einfache und die einfachste uns bekannte Ordnung ist die Linearität des Zahlenstrahles. Wir leben in der Linearität und erleben uns in der Linearität. Wir leben zwischen Geburt und Tod. Über diesem linear Erscheinendem existiert immer ein noch größeres Etwas, zu dem wir nur einen sehr beschränkten Zugang haben. Aus der Polarität und der Existenz der Zahlen heraus betrachtet sind das die für uns nicht unmittelbar greifbaren Größen »Null« und »Unendlich«.
Für Aristoteles ist unendlich, was nicht zu Ende gedacht werden kann. In der Aussage übersieht man leicht, dass der Begriff des Unendlichen erst mit dem Einlassen auf eine Linearität entsteht. Nur in der linearen Vorstellung kann das Unendliche zum Begriff werden. Denke ich mir die Ausdehnung als Linie, dann erscheint mir in der Vorstellung ihres fehlenden Endes das Unendliche.
Das Lineare ist aber nur eine Hilfe und nicht die letzte Wirklichkeit. Wie das Lineare sind auch die mathematisch-physikalischen Begriffe beschränkt. Über sie hinaus gelangt man nur mit Hilfe der Metaphysik. Die Metaphysik geht einen Schritt weiter und stellt die denkbar größte Polarität in Rechnung, indem sie erklärt, dass das Unendliche zugleich das unbestimmte und unbestimmbare Göttliche (Ganze) enthält, das maß- und größenlos ist. Aus der naturwissenschaftlichen Sicht ist das ein Übergriff, der nicht mit Entitäten belegt werden kann und einer Ontologie entbehrt. Das ändert sich mit einer Metaphysik vor dem Hintergrund von Zahlenarchetypen.
Das Unendliche gehört zwar nicht zu den Zahlenarchetypen, bedarf derer aber, um erfasst werden zu können, denn das einfachste Beispiel der Unendlichkeit, genauer gesagt einer unendlichen Menge, sind die (natürlichen) Zahlen. So kann das Unendliche nicht wirklich, ohne ihre Existenz vorauszusetzen, gedacht werden. Nur die in ihnen verborgene Qualität verleiht auch dem Unendlichen seine Existenz und seinen Sinn. Man kann unendlich weiter zählen. Man könnte – scherzhaft klingend – fragen: Was fangen wir „am Ende“ damit an? Denn keiner würde einen Sinn darin sehen, wirklich unendlich lange, respektive bis zu seinem Lebensende, zu zählen. Das Ende ist immer schon gegenwärtig und zeitigt – im wahrsten Sinne des Wortes – die konkreten Gegebenheiten, die unser Leben ausmachen. Das Ende und der Anfang sind die beiden Pfeiler der Lebenswelt. Sie begrenzen nicht nur die uns erscheinende Lebensspanne; sie sind ihre Stützpfeiler. Die Vorstellung von einem Anfang und einem Ende sind Vorstellungen von extremen Grenzen. Sie bleiben aber Grenzen und die gehören zum Archetyp der Zwei und der Polarität, der seinerseits eine Polarität zur Eins und Einheit bildet. Wer etwas über das Wesen des Unendlichen erfahren will, der kann das endlich nur über das Wesen der Polarität und die erklärt sich in der Beziehung der Zwei zur ihr vorangehenden Eins.
Das absolute Nichts existiert nicht. Das Nichts „ist nicht“. So verlangt es seine Definition. der Schluss ist auch aus einer qualitativen Sicht, wie sie die Lehre von den Zahlenarchetypen entwickelt, konsequent. Was keine Qualität hat, ist nicht existent und kann auch nicht gezählt werden.
Wie das Unendliche gehört auch die Vorstellung von der absoluten Lehre alias dem Nichts oder der Null nicht zu den Zahlen. Sie stehen außerhalb ihrer und begrenzen sie von zwei Seiten. Die Null ist der polare Gegenpol zum Unendlichen. Wie die Erklärung des Unendlichen der konkreten Zahlenordnung bedarf, so bedarf ihr auch die Erklärung der Null. Auch die Null ist ohne die Vorstellung des Zahlenstrahls nicht denkbar.
Die Null ist keine Zahl und wurde aus guten Gründen die längste Zeit auch nicht als Zahl, sondern als ein Zeichen angesehen, das die Aufgabe hat, einen Leerraum zwischen den Zahlen zu kennzeichnen. Aus dem Leerraum wurde später ein Punkt und sodann ein Kreis. Die Wahl des Kreises als Zeichen für die Null war genial, denn der Kreis ist der mit Dimension erfüllter Punkt. Erst die Dimension macht ihn wirklich sichtbar. Als Kreis „ausgezeichnet“ kann man der Null, dem Nichts sodann ansehen, dass dessen Existenz von grundsätzlicheren Existenzen bedingt wird. Nur durch die Existenz der Archetypen, der konkreten und ganzen Zahlen erscheint auch die Null, das Nichts. Aber eben nur dann! Erscheint sie jedoch einmal durch diese Existenzen, dann gibt sie ihnen einen erhobenen Wert. Aus der Eins wird die Zehn. Durch das Hinzunehmen der Null und des Nichts erwächst aus der ungreifbaren und numinos wirkenden Einheit und Ganzheit (1) deren Funktion. So entsteht die Handlungsfähigkeit. Das Symbol für den 10 hebräischen Buchstaben, dem Jota (y) ist die Hand. Sie symbolisiert das Handeln im Sinne des Greifens und Begreifens. In der Zehn erscheint durch das Erheben und das Aufwerten erstmals ein wirklich Konkretes (s.a. Tetraktys 10 = 1+2+3+4). Alles vor der Zehn war ein Geistiges, eine Theorie. Das erste Konkrete ist noch sehr klein, aber dennoch ein Konkretes. Das Jota ist deshalb der kleinste der hebräischen Buchstaben. Er war immer schon in der Eins, dem Alef (a) verborgen enthalten, tritt nun aber sichtbar hervor und begründet eine neue Dimension.
Die Fehleinschätzung der Null entsteht, weil ihre Betrachter ihre eigene Existenz nicht erkennen und somit nicht angemessen würdigen. Die Negation der eigenen Existenz führt das schauende Subjekt in die Enge anstatt in die Fülle, die es im Anblick der Eins, Einheit und Ganzheit wahrnehmen würde (s. Symbolik 1—5). Die Engführung des Blicks erzeugt Angst. Sie erfasst das Subjekt, wenn es auf das Unendliche (∞) oder das Nichts (0) schaut und dieses Paar nicht als den polaren Ausdruck der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit erkennt. In diesem Nichtwissen verhaftet, versucht ein so irrendes Subjekt die in seiner konkreten, physischen Welt geltenden, aber reduzierten Regeln auf die Einheit und Ganzheit anzuwenden und sie zu unterwerfen. Das misslingt, weil das Subjekt den von den Archetypen geforderten Dimensionswechsel nicht mitvollzieht. Das Zählen und Rechnen allein, das die Teile und das Teilen priorisiert, funktioniert nicht mehr ganzheitlich, wie es seiner Natur entspräche. Die von der Zwei und Polarität beherrschte, neue Qualität erscheint nun übermächtig. Das trifft insbesondere die Naturwissenschaften, die sich auf das Zählen und Rechnen in der Mathematik stützen.
Dabei ist gerade die Mathematik in der Lage, das wahre Wesen der Null zur Anschauung zu bringen. Denn: Die Null ist „die Zahl“, (durch) die man nicht teilen kann. Das Nichtvorhandene ist eben auch nicht teilbar. Und doch ist es im weitesten Sinn einmalig. Insofern findet sich auch in der Null das Wesen der Eins (1 = 0). Beide jenseits der Zahlen „existierenden“ und einander polar gegenüberstehen Pseudozahlen Null und Unendlich ziehen ihre Existenz aus der Existenz der Eins. Das kann die Mathematik beweisen:
(Literaturhinweis: https://www.youtube.com/watch?v=IFAX5jD1fsk )
Was die Mathematik beweisen, nicht jedoch verstehen kann, das entfernt den Menschen von der von ihm ersehnten Gewissheit und inneren Ruhe, zu deren Suche sie einst angetreten ist. Die Kategorien der Wissenschaft greifen nicht, wenn es um Sinnfragen wie die nach dem Tod und der Vergänglichkeit des Menschen geht, denn die verlangen danach, die tiefen Wurzeln des Menschen freizulegen.
So erscheint etwas Paradoxes und doch zutiefst Wahres: Der vom Menschen realisierte Tod wird sein letzter (Be)Lehrer! Seine Lehre aber kommt aus der Welt der Existenzen und findet in der Welt der Existenzen statt. Wer vom Tod befreit werden will, der muss sich von ihm trennen. Das aber ist nur möglich in der Welt der Existenzen. Nur dort kann er das notwendige Prinzip des Nichtanhaftens erlernen, dass ihn auch von der Anhaftung am Tod befreit. Frei wird man nur in der Welt, in der man die Kontinuität in der Ordnung erkennt und erkennt, dass sie nur über das Wiedererkennen möglich wird, so, wie jede Zahl sie selbst ist, weil sie sich in der Eins wiedererkennt.
Fußnoten
¹ Plato, Sämtliche Dialoge, Band IV, Der Staat, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Felix Meiner Verlag, Leipzig 1923, Siebtes Buch, 522 St.
² Plato, Sämtliche Dialoge, Band IV, Der Staat, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Felix Meiner Verlag, Leipzig 1923, Siebtes Buch, 525St.
³ Der Beweis wurde entnommen aus https://www.youtube.com/watch?v=IFAX5jD1fsk .
⁴ Ein beindruckendes Beispiel der Belehrung durch den Tod findet man in der »Katha Upanischad 6« (ca. 500 v. Chr.). Die Belehrung durch den Totengott führt in die letzten Geheimnisse ein. Sie wiederum werden in einer viergliedrigen letzten Ordnung und Wirklichkeit vorgestellt, die aus einer Vierheit besteht:
1 Puruscha – der „Allesdurchdringer“ ohne ein Merkmal, formlos, eigenschaftslos
2 Das Ungeschaffene, aus dem ATMAN folgt
3 ATMAN, der Inbegriff des Absoluten ( Brahman).
4 Die eigentliche Wirklichkeit.
Dem Vierten, der eigentlichen Wirklichkeit geht eine Triade voran. Ihre „Teile“ führen für sich genommen allerdings immer zum Widerspruch. Schlüssig werden sie erst durch den Dritten der Dreiheit, die Drei-Einheit, symbolisiert durch ATAMN. Er ist der triadische Kern, aus dem die eigentliche Wirklichkeit erwächst.
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