Sobald ein Bewusstsein (5) die prinzipielle Vollkommenheit allen Seins erfasst, erkennt es auch die wahre Konstitution des Menschen. Sie ist Gegenstand des 5ten Archetyps und insofern auch Gegenstand der 5ten Offenbarung.
Um ihren gewaltigen Zusammenhang zu umreißen, kann ich nachfolgend nur einige Schlaglichter auf die koranische «Offenbarung der Fünf» werfen. Zum besseren Verstehen ihrer Symbole erfolgt zuvor ein kurzer, wiederholender Blick auf den Archetyp der Fünf:
5 ist die Zahl des Bewusstseins und das besteht in der Fähigkeit der Schau. Das Ziel der Schau ist ein Zusammenfluss der Gegensätze in welcher der Mensch die Gottheit zur Erscheinung bringt (siehe 1—5). Die Polarität fordert das Bewusstsein heraus, sie mit der Einheit und Ganzheit in Einklang zu bringen. Solange sie nicht ins Licht der Ganzheit (1) gestellt ist, gibt sie weder Halt, noch führt sie zu Sinn und Erfüllung. Doch sind Gegensatz und Widerspruch die Voraussetzung, um das Licht sichtbar werden zu lassen. Die Religionen und ihre Schriften versuchen, jene grundlegende Verbindung zwischen den Brüchen des Lebens (2) und dem Ganzen (1) den Menschen vor Augen zu führen. In der «Offenbarung der Fünf» alias der «5ten Offenbarung» wird der Leser gezwungen, den unausweichlichen Gegensatz zu reflektieren und sein Potential und die aus ihm erwachsende Verpflichtung zu erfüllen.
Der vom schauenden Subjekt wahrgenommene Gegensatz wird in der «Flussform der Zahlen» durch die Stellung der Zahl 5 sichtbar. Die Zahlenstruktur zeigt, dass das Subjekt (5) über zwei Sichttiefen verfügt. Die erste und vordergründige wird vom fleischlichen Auge erfasst und entspricht der real existierenden Polarität 4-5, der Polarität zwischen der Substanz (4) und dem Geist in Form des Bewusstseins (5). Die zweite, hinter die Substanz der Dinge (4) reichende Sicht kann nur vom geistigen Auge erfasst werden. Sie entspricht der größeren Polarität 1—5, die über das konkrete Dasein (siehe Dreieck II / 4-5-6) hinaus reicht. Aus ihr heraus reflektiert das Bewusstsein das allgemeine Sein (1) in seiner Polarität (2) und Funktion (3). Das Bewusstsein vermag die zwei Perspektiven in ihren Dimensionen zusammenzuführen. Es greift und begreift die Wirklichkeit (4 ← 5 plus 1 ← 5). Im Zusammenfluss der zwei Sichtweisen führen Wissen und Glaube zur Gewissheit.
Aus einer ausschließlich auf die Substanz gerichteten Sicht und ihrem dinghaften Wissen erscheint der Glaube widervernünftig und suspekt, denn er beleidigt die linearlogisch funktionierende Vernunft, die den Menschen seine herausgehobene Stellung im Tierreich und sein Menschsein einst hat erkennen lassen. Das Vermögen zu glauben, übersteigt die linearlogisch funktionierende Vernunft und erweckt eine höhere, welche die erste einschließt. «Vernunft» kommt von «vernehmen» und «wahrnehmen». Der Glaube nimmt auch das wahr, was jenseits der Substanz wirkt. Das gilt für die Theologie und Philosophie ebenso wie für die Mathematik und Physik. Auch ihre Vernunft kommt – wie wir immer wieder erfahren – zu einem «Ende», das auf ein Mehr verweist.
Der Koran eröffnet den Blick auf dieses Mehr. Er thematisiert konsequent den Widerspruch und fängt ihn mit dem Archetyp der Fünf wieder ein. Die 5te Offenbarung ist deshalb keineswegs einer Sure allein zuzuordnen. Doch das Bestechende ist, dass jede der überlieferten Zuordnungen im eigentlichen Wortsinn «eindeutig» ist. Der umfassende Blick der Fünf auf das Ganze zeigt, dass es am Ende der Wahrheit egal ist, wie man sie erlangt hat, sofern man sie denn erlangen will.
Der Weg zur Wahrheit führt über die Dinge (4). Das machte es uns möglich, über die Chronologie der vier Offenbarungen eine prinzipielle Ordnung zu erkennen. Die 5te Offenbarung sprengt nun den Rahmen wieder, denn tatsächlich liegt eine vollständige Chronologie aller Offenbarungen nicht vor. Die Überlieferungen berichten, dass eine solche im direkten Auftrag des Propheten vom Imam Ali innerhalb von «sechs Monaten» erstellt worden sei. Jenes «Buch Ali» sei aber nicht mehr vorhanden. Einige Quellen berichten, dass die sogenannte «Mushaf Ali» doch noch vorhanden, aber nicht mehr öffentlich zugänglich sein soll.
Andere noch vorliegende aber unvollständige Überlieferungen behaupten, die eröffnende Sure 1 (Sure Fatiha) entspräche der 5te Offenbarung und sie sei gleich zweimal offenbart wurden, im «ersten» und im «letzten Jahr» der Offenbarungen, d.h. in Mekka und in Medina. Im ersten Jahr sollte sie die 5te Stelle eingenommen haben.²¹ Die so beschriebene innere Polarität der ersten Sure wirft ein anderes und zweites Licht auf die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit. Sie ist keine Singularität im strengen Sinn mehr. Vielmehr geht sie mit der Polarität einher. Umgekehrt ist so auch die Polarität nun keine profane mehr. Sie entspricht eher dem sogenannten «Alfa und Omega» eines ersten Ganzen, das die Regie für alle nachfolgenden Manifestationen führt. Genau das macht die Basmala. Die sogenannte Eröffnungsformel ist die regieführende Formel im Koran.
Für Stefan Makowski, dessen Schrift ich die vorangehende Folge der ersten vier Offenbarungen entnommen habe, ist die 5te Offenbarung völlig selbstverständlich die Offenbarung der Basmalla.²² Wir wollen sie deshalb als Erste unter dem Blickwinkel der 5 in Augenschein nehmen.
Die Eröffnungssure, die «Fatiha» ist die 1te Sure im Koran. Sie besteht aus der Basmala und den ihr folgenden 7 Versen:
Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen
(1) Lob sei Allah, dem Weltenherrn,
(2) dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
(3) dem König am Tag des Gerichts.
(4) Dir dienen wir, und zu Dir rufen wir Hilfe wir.
(5) Leite uns den rechten Pfad,
(6) den Pfad derer, denen Du gnädig bist,
(7) Nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden.
Die Basmala wurde bei der Zusammenstellung des Korans – mit Ausnahme der Sure 9 – vor jede einzelne Sure gesetzt, so auch vor die Sure 1. Die Sure hat für das Ganze und in Bezug auf die Basmala eine besondere Bedeutung. Sie schreibt in ihrem Vers 2 der Gottheit Allah eine Zweiheit von Attributen zu, das Erbarmen und die Barmherzigkeit. Kurzum: Die Zwei alias das Zweite werden der Willkür entzogen. Der Vers 2 stellt die Zwei in den Dienst der Eins. Die Eröffnungssure macht in ihrem 2ten Vers das, was auch die Basmala macht. Sie huldigt dem Namen Allah durch eben diese zwei Attribute. Die bedeutungsschwere und ausdruckstarke Gleichsetzung des 2ten Verses mit der Überschrift – dem Ganzen – lässt den Leser leicht eine andere, ebenso starke Aussage übersehen, welche die erste in einer weiteren Dimension bekräftigt: Die Basmala thematisiert nicht Allah, sondern den «Namen Allah»! Das ist von Bedeutung, da der Name die un(be)greifbare Gottheit ein Stückweit (be)greifbar macht.
Ein Name entsteht im Akt der Zuordnung und des Unterwerfens des Benannten unter etwas Allgemeineres und Höheres. Der Benennungsakt strukturiert den Blick und richtet ihn aus. Im Falle der Gottheit handelt es sich um die erste denkbare Orientierung und die ist zahlensymbolisch gesehen die Ausrichtung der Zwei an der Eins. In der Basmala ist es der «Name Allah“, der das vermeintlich zwiespältige Wesen der Zwei einfängt. Die zwei dinglichen Attribute, das Erbarmen und die Barmherzigkeit sind etwas (Be)Greifbares. Die Begreifbarkeit erlangen sie über das Höhere, hier über den Namen der Gottheit. Er bekundet die göttliche Natur aller in ihrem konkreten Dasein namentlich erfassbaren Dinge.
Im Text der Sure fehlt nun aber der rahmende Begriff «Name». An seine Stelle tritt ein neuer und erweiterter Rahmen. Er wird durch die Verse 1 und 3 gebildet. Der im 2ten Vers genannte «Erbarmer» und «Barmherzige» wird durch die alternativen Begriffe «Weltenherr» – im Vers 1 – und «König» – im Vers 3 – gerahmt. Das bedeutet, dass eine Polarität durch eine andere und größere auf fraktale Weise systematisch eingefangen wird.
Die Begriffe «Weltenherr» und «König» beschreiben auf noch präzisere Weise das Dinghafte und Konkrete im Dasein als es der Begriff «Name» vermag. Die von Sure 1 ins Bild gesetzte und erweiterte Ausdrucksform bezeugt Allah als den Herrscher über mindestens zwei Dimensionen, die Dimension des Geistes und die Dimension der Substanzen.
Die eröffnende Basmala besteht aus 19 Buchstaben. Exegeten, die in ihr die 5te Offenbarung erkennen, folgen dem Bezug der Zahlen 5 und 19. Sie erkennen in der Schau (5) der 19 das eigentliche Sein, um dessen Erkennen sich die Religion rankt. Ausgangspunkt ist das Wesen der Fünf, also das Vermögen, die Eins und Einheit (1) zu erschauen (5) analog dem Symbol 1—5. Der Koran erfasst das Verhältnis der zwei Archetypen frühzeitig in seiner ersten Offenbarung, die aus 5 Versen bzw. aus 19 Wörtern oder 4x 19 Buchstaben besteht. Was in der ersten Offenbarung angelegt ist, das entfaltet sich wiederum auf fraktale Weise in der fünften Offenbarung. Die so aufeinander aufbauenden koranischen Bilder machen sinngleich das, was die Zahl 5 und der aus ihr hervorgehende goldene Schnitt in der Geometrie macht: Sie machen die Einheit des Seins über die Dimensionen hinweg sichtbar.
Da das Ganze sich mehrdimensional entfaltet, kann sein Entfalten ebenso in anderen Zusammenhängen und Linearitäten nachvollzogen werden, so beispielsweise im Entstehen der Suren und ihrer Ordnung. Von besonderem Interesse sind hierbei wiederum die 5 Verse der allerersten Offenbarung. Sie werden zum ersten Teil der Sure 96, die nach weitgehend übereinstimmendem Urteil der Exegeten auch die erste vollständig offenbarte Sure ist. Die Sure «Vom Gerinnen» beschreibt die Fünf alias den Menschen mit seinem schauenden Bewusstsein (5) als ein aus der Substanz (4), der Vierzahl hervorgehendes Wesen. Das Erheben der Fünf ist die eine Hälfte der Beschreibung. Die andere Hälfte beschreibt das Erbe des aus der Vierzahl Erhobenen. Als solcher ist der Mensch notwendig in der Substanz verhaftet und dem Wesen der Zeit und ihrem Vergehen unterworfen. Jene zweite Seite greift die Sure 76, die Sure «Vom Menschen» auf, die auch die Sure «Von der Zeit» genannt wird.
Die Verbindungen der Suren 1 («Die Öffnende»), 96 («Vom Geronnenen») und 76 («Der Mensch») sind auf verschiedene Weisen im wörtlichen Sinn eindeutig. Doch sind die Verbindungen ihrer Natur nach inhaltliche, also vorwiegend erzählende und nur sekundär auch zählende. Man sollte sie deshalb primär über die Zahlenstruktur der Archetypen erfassen und die Inhalte wie nachfolgend ausgeführt, in den auftretenden Zahlen suchen.
Die aus 5 Versen bzw. 19 Wörtern oder 4x 19 (= 76) Buchstaben bestehende erste Offenbarung entfaltet sich über die 5, das «Wesen Mensch» auf unterschiedliche und sich doch ergänzende Weise in den Suren 96 («Vom Geronnenen») und 76 («Der Mensch»). Der in der 1ten Offenbarung noch in fraktaler Form verborgene Inhalt erscheint (4) sowohl in der Sure 96 («Vom Geronnenen») als auch in der Sure 76 («Der Mensch») in (be)greifbaren Formen. Der Inhalt wird zur direkten Erscheinung (4). Die Sure 96 macht es uns leicht, in dem von ihr gezeichneten Bild vom «Vom Geronnenen» und konkreten Benennen der Zahl 19, das Prinzip des Konkret-Werdens zu erschauen. Die Sure 76 («Der Mensch») hingegen verlangt mehr als nur das Benennen der Zahl 19 oder die Nachzählbarkeit von 19 konkreten Wörtern. Um den in der 1ten Offenbarung verborgenen Inhalt in der Sure 76 zu entdecken, d.h. zu «erschauen» (5), muss man die zählende und die erzählende Seite der Archetypen jetzt zusammenzudenken. Erst so erblickt man das in ihr verborgene «Maß». Der Exeget muss konkret die Archetypen 4 und 19 zusammendenken, denn die 76 ist das Produkt von 4x 19. Er muss Inhalt (19) und Form (4) zusammendenken. Erst dann erhebt sich die Sure 76, die «Sure vom Menschen», über die Linearität, d.h. über das «Maß der Wörter» und schafft ein neues Bewusstsein.
Dieses andere und neue Bewusstsein (5) entfaltet der Koran von der ersten bis zur letzten Sure auf immer neue und ausführlichere Weise. Verfolgt man dessen Entwicklung bis zu seiner letzten, der 114ten Sure, so fragt man sinngemäß nach der «letzten Botschaft». Dabei findet man eine auffällige Verbindung zur Sure 76 («Der Mensch»). Die Sure 144 trägt den Namen «Die Menschen». Die letzte Sure greift die Urbeziehung 1-4, die Beziehung von dem Einen und den Vielen, die Beziehung von Ganzheit (1) und Substanz (4) auf. Sie zeigt, dass die Ur-Beziehung alias die Ur-Formel auch die «Dimension Mensch» formt. Sie überträgt das wesenhafte Prinzip Mensch auf seine konkrete Vielzahl, auf «Die Menschen». Man möchte hinzufügen: … und auf deren Eins-Sein.
Die Botschaft der letzten Sure geht auch darüber noch hinaus, denn sie beantwortet nicht nur die Frage der Anthropologie, sondern auch die Frage nach der Gottheit des Menschen. Die Sure thematisiert nicht allein die Pluralität des Menschen, sondern auch die der Gottheit. Auch die Gottheit ist im eigentlichen Wortsinn eindeutig eine plurale. Sie ist «Herr», «König» und «Gott der Menschen». Die vorangehende Botschaft, dass alles Dasein primär kein dingliches, sondern ein prinzipielles Dasein ist, umfasst nun auch das Wesen der Gottheit. Der Mensch (5) erkennt: Es ist ein Fließendes im Sinne der Sechs. Die aus 19 Wörtern bestehende letzte Sure 114 hat 6 Verse.
Das Bild rundet sich in Beantwortung der Frage ab, warum der Koran ausgerechnet 114 Suren hat. Im Hinblick auf seine 19er-Struktur gibt sie der 114 (= 6 x 19) einen Sinn. Die Zahl 19 ist das «Nadelöhr» zwischen der Struktur des Korans und seinen Botschaften. Die über allem stehende Basmala erschließt sich über sie ebenso wie der Sinn der geheimnisvollen Koran-Vorbuchstaben.
Bei der Besprechung der 5ten Offenbarung und der Suche nach ihrer Stelle im Koran, kann man die tiefgründigen Forschungen von Theodor Nöldeke nicht übersehen. Nach den von ihm erstellten chronologischen Reihen der Offenbarungen der Koran-Texte ist die 5te Offenbarung die Sure 108.²³ Es ist die kürzeste aller Suren und besteht aus nur 3 Versen:
Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen
(1) Wahrlich, Wir haben dir Überfluss gegeben.
(2) Darum bete zu deinem Herrn und schlachte (Opfer).
(3) Siehe, dein Hasser soll kinderlos sein.
Wenn es bei der Fünf um das «Erschauen» der Einheit und Ganzheit (siehe 1—5) geht und man dieses auf den kleinstmöglichen Nenner bringen möchte, dann ist das die Zahl Drei alias das Dreieck. Die Drei erhebt sich aus der Ebene der Linie, wie sich die Fünf nach ihr und nach ihrem Vorbild aus der Ebene der Flächen erhebt. Die Symbolik der Pyramide erzählt von diesem kurzen aber ausdruckstarken Weg des Erkennens. Der Koran erstellt eine Brücke zu ihm in der Sure 108.
Im Zusammenhang mit der kürzesten Sure muss auch die längste, die Sure 2 genannt werden. Auch hier verrät ihr Archetypus, warum sie die längste Sure ist. Bringt man alles, wie bei der Sure 108 geschehen, auf den kürzesten Nenner, so kann man den Urgrund dafür, dass es das unendliche und vielfältige Dasein überhaupt gibt, nur in der Polarität, der Zwei erblicken. Mit der Zwei und Polarität, der ersten «Existenz» im weitesten Sinn kam es zum «Dasein» an sich. Die Zwei stößt die Tür für jede Vielheit und damit zur Fülle auf.