Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

Der Salomonische Tempel und die Zahlen¹

von Michael Stelzner

Der König SALOMO war der dritte und zugleich letzte König (SAUL – DAVID – SALOMO) vor der Spaltung des jüdischen Herrschaftsgebietes in ein Nord- und ein Südreich. Salomo erbaute den ersten Tempel analog der Trias, aus welcher die erste wirkliche Manifestation, die Vierzahl hervorgeht. Der archetypische Tempelbau wurde zum Vorbild des gesamten jüdisch-christlichen Kulturkreises. Jener legendäre, in Jerusalem errichtete Tempel und dessen Maße sind noch heute der gemeinsame Orientierungspunkt von Religionen, Weisheitslehren sowie der von Templern und Freimaurern. Auch die Sixtinische Kapelle empfindet die Größenverhältnisse des Salomonischen Tempels nach, welche die Bibel im Buch der Könige sehr genau und in ganzen Zahlen angibt. Die Maße des Heiligtums sollen die entscheidenden Informationen für das religiöse Denken im Abendland enthalten. Der Heiligen Schrift nach soll der Tempel des Salomos nicht nur das irdische Abbild des Himmelreichs sein, sondern ein Bild für den gesamten Weltenbau zeichnen. Mit anderen Worten. Die Maße verbergen nicht weniger als die Geheimnisse der Schöpfung! Diese aber sind ideeller Natur. Sie sind Archetypen. Das deckt sich mit dem Befund der Archäologie, die bis heute keinen Beweis für dessen einstige, reale Existenz fand.

Der Bibel nach (1Kön 6,1; 6,37) wurde der Tempel im vierten Jahr der Herrschaft SALOMOs „begründet“, d.h. seine Grundmauern gelegt (n. Luther). Mit dem Erkennen des Wesens der Vier und des Hervortretens der fruchtbaren Wirkung der Zwei und des Zweimachens beginnt eine neue Zeit mit einem neuen Bewusstsein: „Und der König ordnete an, dass man große Steine breche, wertvolle Steine, um die Grundmauern des Hauses mit Quadern (4 = 2 x 2) zu legen“ (1 Kön 5, 31). 

Mit dem konkret gesetzten Anfang durch die Vier erhält auch das Ende eine Kontur. Nach sieben Jahren (967 v. Chr.) war der Bau „vollendet“ (1Kön 6,38). Wieder begegnen wir der Verbindung von Vier und Sieben. Die Vierzahl symbolisiert die irdische Vollkommenheit (s. Paradies) und über die Siebenzahl nimmt im Bewusstsein der Subjekte jener Archetyp Gestalt an, der das Berechenbare und Rationale mit dem Unberechenbaren und Irrationalen zu einem Ganzen verbindet analog der Sieben-Tage-Erzählung in der Genesis.

Die Zahlen Vier und Sieben bergen die großen Erkenntnisse, deren Entdeckungen das Ziel menschlichen Erkennens ist. Wenn die Vier und die Sieben den Bericht über den Tempel und seine Maße einleiten, darf man vermuten, dass ihnen auch die wichtigen Informationen folgen, die den Menschen jene höhere Ordnung erkennbar machen, die das Jenseitige und Irrationale das ihnen unbestreitbar begegnet und beunruhigt, einfängt.

Wenn die Tempelmaße das Wesen der Sieben offenlegen, dann gilt das auch für die ihr notwendig vorangehenden sechs Archetypen, aus denen sie erwächst. Die Abb. Tempxx zeigt eine Skizze der genauen Tempelmaße und seiner Maßverhältnisse. Die Reduktion der in der Bibel angegebenen Maße auf einfache ganzzahlige Verhältnisse deckt eine Geometrie auf, die ausschließlich und exakt aus den Zahlen 1 bis 7 besteht. Die durch sie sichtbarwerdenden Maßverhältnisse bilden sukzessiv die archetypischen Muster ab, wie sie die Zahlen erzählen.

Dabei beziehen sich alle Verhältnisse auf das Urverhältnis an sich, auf das Verhältnis der Zwei zur Eins, das vom Dienst der Gespaltenen (2) an der Einheit (1) berichtet. Jenes Muster wird bereits ausgiebig durch die dem Tempel vorgelagerten Elemente ins Bild gesetzt. Das sind in erster Linie die als Einheit auftretenden zwei Säulen vor dem Tempel. Aber auch das „eherne Meer“, dessen Gestelle sowie der „goldene Altar“ und der „goldene Tisch“, auf dem sich die „Schaubrote“ befinden, gehören wie v.a.m. dazu. Sie alle entfalten auf ihre Art das Bild einer fruchtbaren Polarität. 

Noch vor der detaillierten Beschreibung der Gegenstände beschreibt der Text das besondere Bewusstsein (5) der Subjekte, welches die Kunstwerke hervorbringt und das ebenso von der fruchtbaren Polarität getragenen wird. SALOMO vollbringt die Werke eben gerade nicht allein. Vielmehr greift er auf den „anderen“ und „zweiten“ König zurück, auf HIRAM, dem König von Tyrus (1.Kön 5,15). Der liefert SALOMO für den Tempelbau „Zedernholz und Wacholderholz“ (1.Kön 5,24). Holz entsteht aus dem Leben der Bäume. Das Bauholz aber ist tot. Die bewusst hergestellte Verbindung von Leben und Tot symbolisiert den bewussten Dienst des Zweiten am Ersten, den Dienst des Todes am Leben. Im Bau des Tempels wird dieses Prinzip des Erhebens ansichtig.

Die Figur des HIRAM hat ebenso zwei Seiten. Er wird nicht nur als König von Tyrus erwähnt, der von sich aus dem SALOMO seine Dienste anbietet. Der Name HIRAM kommt ein zweites Mal vor, diesmal nicht als König, sondern als „Sohn einer Witwe“, der ein Bronzeschmied ist. Der Fachmann bietet seine Dienste nicht aktiv an. SALOMO lässt ihn holen, um die außergewöhnlichen und anspruchsvollen Bronzearbeiten am Tempel auszuführen (13ff). 

Der „Sohn einer Witwe“ ist die Beschreibung für den „Sohn der Halbheit“. „Halbsein“ ist die Voraussetzung des Spezialisten. HIRAM beherrschte die Kunst, Bronze zu erstellen und zu formen. Bronze ist eine Legierung aus den zwei Metallen Kupfer und Zinn. Der „Sohn der Witwe“ war im wörtlichen und zweifachen Sinn berufen, die zwei Bronze-Säulen, die vor dem Tempeleingang stehen sollten und durch die jeder „verbindend“ und „verbindlich“ hindurchzutreten hatte, bevor er das Heiligtum des Namens JHWH betreten konnte, anzufertigen. 

Die „Säulen vor dem Eingang“ demonstrieren, wie sich die Polarität (zwei Säulen) zur Trias (Vorhof) entfaltet und in den vom pythagoreischen Dreieck aufgespannten Tempelraum mündet (siehe 3-4-5). Das ihm folgende Allerheiligste (ohne den Luftraum darüber, der dem Vorraum gleicht) ist keine Singularität (1), wie man allgemein erwarten könnte. Das wahre und höchste Heilige ist die Erscheinung einer dreidimensionalen Polarität (2)! Erst diese Gesamtschau macht es möglich, das Wesen der Sechs und schließlich das der Sieben zu erfassen. Die Sieben ist die Diagonale vom Hauptraum bis in den äußeren Winkel des Allerheiligsten. Das „diagonal verbindende“ Denken ermisst eine Dimension, welche die vorangehenden rechtwinkligen Vorstellungen übersteigt. Was überstiegen wird, das verschwindet nicht. Vielmehr wird hier gerade auch das Erhaltungsprinzip ersichtlich, denn die Sieben entsteht nicht nur aus der Sechs, die ihr Grund- und Bodenmaß ist. Sie erwächst vor allem auch aus dem rechten Verhalten (s. rechter Winkel), das die Substanz über das Prinzip Sechs mit dem Heiligen verbindet.

 

Abb. Tempxx:  Der Salomonische Tempel – Das Haus des Namens JHWH ist ein Haus der Botschaften der Zahlen 1 bis 7.  (s. Bilder/Bibel/Salomonischer Tempel.cdr)

Welche Relevanz die archetypischen Muster des Salomonischen Tempels auf die Beziehungen der Menschen zu ihrer Gottheit JHWH haben, das verrät uns die Schrift durch zunächst merkwürdig klingende Formulierungen. Die Texte sprechen nicht vom „Tempel JHWHs“, wie das so oft gesagt wird. Sie sprechen vielmehr ausdrücklich vom „Tempel des Namens (!) JHWHs“. Der Tempel ist nicht einfach der Tempel der jüdischen Gottheit! Wer den Tempel betritt, der darf „nur“ hoffen, dass sich ein Name, eine Bezeichnung offenbart, nicht etwa eine von ihm unabhängige Gottheit. Er darf hoffen, dass er begreift, woher die Bezeichnung kommt und was sie bedeutet. Der Tempel konfrontiert den Menschen nicht mit einer unangreifbaren und unbezwingbaren Gottheit, deren Willkür er ausgeliefert ist. Er konfrontiert ihn mit dem, was er der Gottheit zuruft, also mit seiner Antwort auf die Ansprache, die er erfahren hat. Mit anderen Worten: Das ihm sich Offenbarende ist unmittelbar auf das schauende Subjekt bezogen.

Wenn das Subjekt (5) Mensch den Salomonischen Tempel betritt, dann muss es die einzig sichere Tatsache, die Existenz der Polarität akzeptieren. Das nach Erkenntnis strebende Subjekt muss zwischen zwei Säulen hindurchschreiten. Das Betreten eines jeden Heiligtums setzt diesen Schritt in und durch die Polarität voraus. Ein Bewusstsein, das diesen ersten Schritt nicht realisiert, bekommt keinen Kontakt zur Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit. Das Wissen um die Polarität, deren Entfaltung in der Triade und deren Erfüllung im Sinne des pythagoreischen Dreiecks bilden den Kontext um das „Haus des Namen JHWHs“. 

Die Herausforderung durch die Zweiheit gipfelt in der Herausforderung durch die Sieben. Sowohl die Zwei als auch die Sieben verlangen die Rückbindung des Fremden und Anderen (2) an das jeweils Vorangehende. Die Polarität (2) will an die Einheit (1) gebunden werden und die 7 an die Welt (1-6), aus der heraus sie entstanden ist. Im Falle der 7 wird die Forderung nach Rückbindung noch konkreter und deutlicher als schon bei der 2. Die Beziehung der 2 zur 1 ist noch sehr abstrakt. Die Beziehung des unberechenbaren Jenseits (7) zum berechenbaren Diesseits (1-6) hingegen kann das erwachende Bewusstsein aus der Alltagserfahrung und seiner Vorstellung von der Einheit heraus erfahren.

Hat das Subjekt das Wesen der Sieben einmal durchschaut, dann entdeckt es im Nachhinein in ihm die gleichen Strukturen wie in den Dingen (4). Die erste Erfahrung auf dem Weg ist das Hindurchschreiten durch die zwei Säulen. Schon ihre Strukturen enthielten alle notwendigen Informationen:

Die zwei Säulen des Eingangs sind mit je 2 Reihen Granatäpfeln zu je 200 gekrönt. Der Granatapfel ist das Symbol der fruchtreichen Vielheit. Er zierte traditionell weibliche Gottheiten. Die zur 200 erhöhte, „gekrönte“ Zwei erinnert an die Zwei, die im Begriff des göttlichen Schöpfens (bara = 2-200-1) in die 200 mündet und zweimal im ersten Satz der Bibel die „Pforte zur Thora“ bildet. Sie erinnert ebenso an die zwei Engel, die Cheruben, welche auf Gottes Geheiß mit flammenden Schwertern den Eingang des Garten Eden bewachen. Die zwei Säulen vor dem Tempel Salomos haben die gleiche Aufgabe. Wer ihre Botschaft nicht kennt, dessen Geist betritt nicht wirklich den Tempel.

Die Kapitelle der Säulen tragen weiterhin ein „Geflecht in Gitterart“ mit „7 Schnüren in Kettenart“. Gitter und Geflecht stehen für die Vier, also für die Qualitäten der konkreten, materiellen Welt. Die ihnen aber zugleich zugeordnete Sieben hingegen „verkörpert“ ihren Gegenpol, das Jenseitige. Die sprachliche Verknüpfung der 7 mit der 4 ist ein Sinnbild für die anstehende, besondere Leistung des Bewusstseins (5), das sich als die Krönung der Schöpfung erkennen soll. Die Zahl 7 ist für ein solches Bewusstsein nicht mehr nur purer Zufall im Sinne von Willkür. Sie ist vielmehr auf das Diesseits bezogen. Das dem Subjekt scheinbar willkürlich Zufallenden wird vom Bewusstsein als eine „logische Linearität“ erkannt. Die Schnüre stehen für das Lineare und die Kettenart für das fest miteinander Verknüpfte.

All die Beziehungen, sowie der Tempel selbst sind Metaphern, die ihrem Inhalt nach und nicht wörtlich in einem dinglichen Sinn verstanden werden wollen. Die Raumgleichnisse mit ihren Zahlen „erzählen“. Sie sind nicht in einem zählenden oder rechnenden Sinn zu verstehen. Die legendäre Weisheit SALOMOs weiß das zu unterscheiden. SALOMO ließ „wegen der sehr großen Menge all die Geräte ungewogen“! (1 Kön 7,46f) Nicht das spezifische Maß, sondern das Maßgebende ist das Entscheidende. Nicht anders versteht sich der weitere Text zur Einweihung des Tempels, der berichtet, dass sich ALLE im 7.(!) Monat versammelten und soviel opferten, dass man die Schafe und Rinder „nicht zählen noch berechnen konnte“ (1 Kön 8,1-5). SALOMO war der dritte König des noch ungeteilten Landes und der Hintergrund seiner Weisheiten ist das Wissen um das Wesen der Drei, das sich über die linearen Dinge erhebt. Lange nach ihm formuliert es das erste und das vierte der Evangelien in den Worten von JESUS neu: 

Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen ihn wiedererrichten“ (Joh 2,19; s.a. Mt 26,61).

Zusammenfassung

Der Salomonische Tempel, das „Haus des Namens JHWH“ bringt alle religiöse Weisheiten auf den Punkt. Er macht es, indem er analog der Genesis die Archetypen 1 bis 7 sichtbar in Beziehungen setzt. Seine Maße erzählen von der Freiheit eines reifen Bewusstseins. Die Bibel formuliert die unantastbare Freiheit und Würde des Menschen unmittelbar nach der zweifachen Beschreibung des Heiligtums: „Aber sollte  Gott wirklich bei den Menschen auf Erden wohnen?  Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen. Wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ (2 Chr 6,18)

Fußnoten

¹ Der Aufsatz ist ein Auszug aus der von mir erstellten, ausführlichen Beschreibung der Zahlen des Tempels.

² Siehe Robin Richmond: Michelangelo und die Sixtinische Kapelle, Herder, Freiburg, Basel, Wien 1999, ISBN 3-451-26912-0.

³ Siehe FINKELSTEIN und SILBERMAN: Keine Posaunen vor Jericho, C.H. Beck, München 2002.

⁴ „Und HIRAM, der König von Tyrus, sandte seine Knechte zu SALOMO, denn er hatte gehört, dass man ihn zum König gesalbt hatte anstelle seines Vaters. HIRAM war nämlich allezeit ein Freund Davids gewesen“ (1.Kön 5,15). Dieser „zweite“ und „andere“ König hatte schon einst SALOMOs Vater DAVID ein Haus gebaut. Das erfahren wir in 2 Sam 5,11: „Und HIRAM, der König von Tyrus, sandte Boten zu DAVID und Zedernholz und Zimmerleute und Mauerleute. Die bauten DAVID ein Haus“.

⁵ „So lieferte Hiram dem SALOMO Zedernholz und Wacholderholz ganz nach seinem Wunsch“.

⁶ „Und der König SALOMO sandte hin und ließ HIRAM von Tyrus holen. Der war der Sohn einer Witwe aus dem Stamm Naftali, sein Vater aber war ein Tyrer, ein Bronzeschmied.“

⁷ Die Abbildung der Sieben als die Diagonale des Salomonischen Tempels findet sich in Wolfgang Strohmeyer, „Die hohe Kunst der Meister“, 1. Auflage 1996, ISBN 3-901287-03-05, S. 42.

⁸ Der erste Satz der Bibel und seine Zahlenfolge:

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Im-Anfang schuf Götter die-Himmel und die-Erde.

Bereschit bara … … … …

2-200-1-300-10-400 2-200-1 1-30-5-10-40 1-400 5-300-40-10-40 6-1-400 5-1-200-90

⁹ Nur der Blick durch das Wesen der Vier ist ein ganzheitlicher Blick. Das gilt universell, so wie die Vier die „Weltformel“ darstellt und die Zahl der Universalie ist. Die Weisheit verbirgt sich bereits im Zusammenspiel der beiden Säulen. Sie entfaltet sich aber in besonderer Weise im Tempelinneren selbst: „Und er machte für das Haus Fenster mit Rahmen und Gitterwerk“ (1 Kön 6,4). Der neue Blick aufs Außen (Ausblick) entsteht im Wirken der Vier, im Wirken von Quadrat und Gitterwerk.

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