Die Offenbarung des Johannes (Apokalypse)
Die Offenbarung des Johannes (Apokalypse) oder die Offenbarung des Wesens der Polarität von Michael Stelzner Inhaltsverzeichnis 1. Die Einordnung des Buches Die „Offenbarung des Johannes“,
Die Bedeutung der Zahlen als das Verbindende von Wissenschaft und Mystik in Anknüpfung an die jüdisch-kabbalistische Tradition
von Michael Stelzner
Von der Wissenschaft zur Mystik – ein im ersten Moment befremdlich anmu- tendes Tagungsthema. Skepsis und Widerspruch waren durch die Wahl des Themas vorgezeichnet. Wir alle kennen den schwierigen Entstehungsprozess der modernen Naturwissenschaften; ihre Protagonisten bezahlten ihn nicht sel- ten mit ihrem Leben.
Die Skeptiker einer fruchtbaren Verbindung von Wissenschaft und Mystik sehen deshalb primär den historisch bekannten Weg von der Mystik zur Wis- senschaft. Eine Umkehrung ist nicht vorstellbar. Niemand will zurück! Die Naturwissenschaft triumphiert über die Mystik. Sie ist die Siegerin in einem Jahrhunderte dauernden Kampf, der symbolträchtig mit Galilei seinen Aus- gang nahm. Nun, mehr als drei Jahrhunderte später findet eine Tagung statt, die ihrem Titel nach eines Anachronismus verdächtigt werden könnte. Da wunderte es nicht, dass einige der Teilnehmer entweder gleich die Rolle des
,advocatus diaboli‘ übernahmen oder diskreter widersprachen, indem sie ver- suchten, der weniger verfänglichen und stets erstrebenswerten Weisheit den Platz einzuräumen, der dem Thema nach der Mystik vorbehalten war. Gleich zu Anfang und gleich von mehreren Seiten wurde deshalb eine Änderung des Themas vorgeschlagen, in Von der Wissenschaft zur Weisheit. Dahinter steht nichts anderes als die Annahme, die Mystik hätte nicht das Potential einer Be- reicherung und Erweiterung unseres derzeitigen naturwissenschaftlichen Weltbildes wie es die Weisheit zweifelsfrei hat.
Um das Vorurteil zu entkräften, die Mystik hätte nicht das Potential einer Bereicherung und Erweiterung unseres derzeitigen naturwissenschaftlichen Weltbildes und um zu einer positiven Verhältnisbestimmung von Naturwis- senschaft und Mystik zu gelangen, werden wir vier Dinge tun:
Gegenwärtig befinden wir uns, wie wir oft hören, an einer bedeutenden Bruchstelle. Das Zeitalter des systematisch geordneten Wissens wechselt in eines des kern- und haltlosen, fragmentarischen Katalogwissens. Dem Wissenschaftszeitalter folgt das Informationszeitalter.
Das Fehlen einer umfassenden Theorie, welche Ordnung erkennbar macht und Übersicht – besser gesagt Einsicht – verschafft, führt zu einer trennenden statt verbindenden Wirkung des neuen Wissens und zu trennendem statt verbindlichem Verhalten seiner Besitzer. Die gesellschaftliche Folge ist eine um sich greifende Trennung von Theorie und Ethik, von objektivem Wissen und dem subjektiven Verhalten, kurzum von Sein und Sollen. Doch ist die so drohende Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft zufällig und ungesetzlich über uns gekommen?
Wir wollten vor einigen hundert Jahren aus gutem Grund Faktenwissen. Nun haben wir es und stehen vor einer ungefilterten Informationsflut, die uns zunehmend über den Kopf wächst. Mit dem Mangel an präziser theoretischer Einordnung entsteht Orientierungslosigkeit. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass von den bisherigen Wissen-Schaffenden keine Lösung zu erwarten ist, denn der Zuwachs an Informationswissen ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Ein Gefühl der Angst beschleicht uns. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling. Der Zauberspruch wirkt. Die Fluten drohen, sich zu verselbstständigen. Der einst mutige Zauberlehrling ruft inzwischen – auch wenn noch mit verhaltener Stimme – nach dem alten Meister, um die Geister, die er rief zu bändigen.
Der Zauberspruch geschah vor mehr als dreihundert Jahren. Die heute so empfundene Bruchstelle der Zeitalter bezieht sich auf unsere Betroffenheit, genauer gesagt, auf unsere Subjektivität. Wem das Wasser bis zum Hals steht, der denkt über das Wasser anders als der, welcher nur einfach seinen Durst stillen möchte. Am Anfang des Wissenschaftszeitalters stand der Durst nach Objektivität. Wie wir alle wissen, war das damals nicht nur ein legitimes sondern geradezu ein notwendiges Bedürfnis. Heute sehen wir die Dinge zunehmend wieder von ihrer anderen Seite. Schon im so genannten Wissenschaftszeitalter hinkte bereits die Ethik und Moral zunehmend den wachsenden intellektuellen Einsichten hinterher. Der zunehmenden Behaglichkeit wegen hat man das gern in Kauf genommen, denn das Gleichgewicht schien noch gewahrt zu sein. Heute droht deren Entkopplung und wir befürchten, dass die Gesellschaft nach dem eigentlichen Bruch noch lange Zeit nur als Nachhall tief verwurzelter Regeln aus alten, religiösen Traditionen funktioniert hat. Der an sich natürliche Prozess, in dem gesellschaftliche Regeln modifiziert oder ersetzt werden, entwickelt dann für die Gesellschaft ein besonderes Bedrohungspotential, wenn ein altes Wertesystem aufgelöst wird ohne dass an dessen Stelle schon ein neues erkennbar ist.
Die Naturwissenschaften haben die Religionen weitgehend von ihrem Platz verdrängt, aber nicht gleichzeitig deren ethische Verbindlichkeit und Orientierungsaufgabe übernommen. Der verbindende Kern fehlt. Das haltlose Wissen löst auf. Die Gesellschaft driftet auseinander und schießt an ihren Flanken ins Kraut. Friedrich Gethmann, hat auf dem 21. Deutschen Kongress für Philosophie die Extreme benannt: „Wir haben auf der einen Seite den Teilchenbeschleuniger und auf der anderen Seite Aberglauben.“ Er forderte nicht weniger als das Bekenntnis der Wissenschaften zur Verbindlichkeit: „Die Wissenschaft darf sich nicht mehr unter dem Diktat der Wertfreiheit ins Unverbindliche zu- rückziehen.“¹ Die Dramatik gewinnt an Schärfe, wenn sich gerade die Disziplinen aus der Verantwortung stehlen, auf die sich alle Hoffnungen richten. Das sind ihres beispiellosen Erfolgs wegen die „objektiven“ Wissenschaften.
In Hinblick auf das vorhandene Defizit mahnte Gethmann an, dass eine metaphysica generalis ohne eine Ontologie nicht auskomme. „Wir brauchen eine Philosophie der Gegenstände über die wir reden“, so Gethmann. Auf welche letzten konkreten ,Dinge‘ sich diese beziehen könnte, blieb unbeantwortet. Um darüber etwas zu erfahren, ist es ratsam die Geburtsquelle des Wissenschaftszeitalters zu befragen.
Was wir gegenwärtig als einen qualitativen Bruch zwischen dem Wissenschaftszeitalter und dem Informationszeitalter erleben, ist aus der größeren Perspektive heraus lediglich ein quantitatives Phänomen, die konsequente Folge eines Geburtsfehlers. Hinter Kontinuität stehen Gesetze, die Gesetze eines schon am Anfang vorhandenen Fehlens. Letzterer Satz hat höchste Allgemeingültigkeit. In unserem speziellen Fall wollen wir dazu einen Blick auf die symbolische Geburtsstunde und die Geburtsbedingungen der modernen Naturwissenschaften werfen.
Ptolemäus (ca. 100–175) setzte die Erde ins Zentrum der Welt. Kopernikus (1473–1543) stürzte das geozentrische Weltbild, indem er die Sonne ins Zentrum der Welt setzte. Die Definition eines universalen und zugleich konkreten Mittelpunktes – hier des Weltenmittelpunktes – erwies sich als falsch oder vorsichtiger ausgedrückt, zumindest als ungenügend, weil nicht dauerhaft. Die ptolemäischen und kopernikanischen Vorstellungen vom Universum waren konträr. Das eine Weltbild löste das andere unter heftigsten Widerständen ab. Der Bruch war so durchgreifend, dass die kopernikanische Wende zum Synonym jeder unwiderruflichen Totalumkehr wurde. Was war geschehen? Das Subjekt fixierte sich vollständig auf das Objekt. Selbstvergessen und selbstlos endete es in doppelsinniger und doppelseitig-tragischer Weise auf dem Scheiterhaufen. Hinter der Tragik stand nichts anderes als die Suche des Subjekts nach einer klar erkennbaren einfachen Struktur des Universums.
Der vor allem theoretisch arbeitende Kopernikus gab sich mit denen, das damalige ptolemäische Weltbild stützenden und zugleich verwirrenden 40 Kreisbahnen (Epizykel) nicht ab. Er lieferte eine neue, vereinfachende Theorie und Galilei machte mit dem Fernrohr die neue Weltsicht dingfest. Heute wissen wir, dass auch die Sonne nur ein relativer Mittelpunkt ist und können die beiden so konträren Weltbilder als jeweils nur lineare Weltsichten erkennen. Darüber hinaus und vor allem erkennen wir das zuvor unbeachtet gebliebene Gemeinsame und Beständige zwischen dem Alten und dem Neuen, nämlich die feste Vorstellung von den unveränderlichen Naturgesetzen in mathematischer Gestalt. Die vorher so wichtigen und zur Scheidung geführten Unter- schiede, Erde oder Sonne, Kreis oder Ellipse werden als Phänomene wahrgenommen und rücken zueinander. Die übergeordneten mathematischen Gesetze stellen sie wie These und Antithese in eine Reihe. In dieser, eine gemeinsame Ebene bildenden Reihe, stehen auch das damals voneinander geschiedene Objekt und Subjekt.
Die Entdeckung der Eigendrehung der Erde und deren subjektive Interpretation kennzeichnen den historischen Bruch zwischen den auf das Subjekt fixierten Religionen und den nunmehr auf das Objekt fixierten Naturwissenschaften. Die historische Entdeckung der Eigendrehung der Erde war ein wichtiger Schritt zu der gleichzeitigen, metaphorischen ,Eigendrehung des Menschen um sich selbst‘, um die es im Grunde geht.
Die damals symbolisch mit dem Fernrohr geborene Wissenskultur mit der Höherbewertung des Objekts ist nach außen gerichtet. Sie beruht auf einem linearwissenschaftlichen Wissen, das bis ins Unendliche erweiterbar ist. Mit ihm nehmen wir die fernen Räume des Weltalls und die tiefen atomaren Strukturen in Augenschein. Dabei vergessen wir, dass der Augenschein nie die volle Wahrheit erfasst, auch wenn die Instrumente immer subtiler werden. Schon Newton wies darauf hin, „dass der Endzweck aller Naturwissenschaften die Diskussion über Gott aufgrund der physikalischen Erscheinungen sein müsse“². Selbst mathematische Formeln erweisen sich am Ende nur als – wenn auch höchst präzise – Instrumente des Augenscheins, wie uns der geniale Mathematiker Ramanujan wissen ließ: „Eine Gleichung hat keinen Sinn. Es sei denn, sie drückt einen Gedanken Gottes aus.“³
Und doch wird der Gang hin zu den Dingen, hinein in die Objektivität der Formen auf dem ersten Stück des Weges begleitet von einem Gefühl der Befreiung. Auf dem zweiten Wegstück entlarvt er sich als ein innerer Exodus, als eine Wüstenwanderung. Das Subjekt entfernt sich von seinem Wissen. Das hat dann keine erkennbare Beziehung mehr zu ihm. Die Entbindung des Subjekts ist vollzogen, wenn nur noch die konkreten Dinge und Numeri die Existenz bestimmen. Wegen der aber zugleich maximalen Entfernung zum ,verheißenen Land‘ bedarf es gerade dann der Neuverkündung der alten, ewigen Gesetze.
Mit dem Fall Galilei begann der innere Exodus. Mit ihm ist nicht nur des Menschen Erde aus dem Mittelpunkt des Universums gerückt worden sondern der Mensch selbst. Die nachfolgenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen Darwins, Freuds, Einsteins und die Entwicklung des Computers haben ihr übriges getan. Je mehr der Mensch an Wissen erwarb, umso mehr wurde er aus dem Paradies – aus seiner Mitte – geworfen und dem Nichts ausgeliefert. All seine Erkenntnisse haben ihn immer kleiner und scheinbar immer unbedeutender werden lassen. Das aber ist nur die eine Seite der Münze.
Gleichlaufend dazu ist etwas Zweites, Komplementäres geschehen. Der Mensch hat andere, neue Werte erhoben, welche die Verwirklichung persönlichen Glücks zur entscheidenden Kategorie werden ließen. Der Vorgang zeigt zweierlei:
Was aber ist der Ursprung? Dem vorangehenden Beispiel nach können wir uns ihm nur in konkreten Schritten und in fraktaler Weise nähern. Im Kreis ist es der Mittelpunkt. In den abrahamitischen Religionen ist es Gott. Gemeint ist immer der Urgrund der Ordnung aus dem alles hervorgeht und auf den alles hingerichtet ist.
Wir wissen, dass Leben Ordnung ist und dass wir der Ordnung bedürfen. Die Ordnung zieht Grenzen, generiert Teile und bindet sie zugleich wieder zu einem Ganzen zusammen. In dieser Ordnung steht der Mensch. Er ist mächtig, denn er kann diese Ordnung bewusst stiften. Hat er von solcher allumfassenden Ordnung keine Kenntnis mehr, oder entscheidet er sich aufgrund seines hohen Freiheitsgrades gegen sie, ist er dieser Ordnung entwurzelt. Er ist dann nicht mehr authentisch. Sein Handeln kommt gewissermaßen aus zweiter Hand, ist aufgepfropft und natürlich unqualifiziert, erworbenes Wissen zu organisieren. Wissensorganisationen solcher Art bleiben immer nur ein weiteres intellektuelles Unterfangen. Wenn die gesetzmäßige Bindung des Subjektes an den Ursprung, wie im Informationszeitalter geschehen, aus dem Blickfeld gerät, tritt eine Abfolge von Selbstrelativierungen ein. Zuerst erscheint die gesamte Schöpfung wertneutral. Dann entlässt sich das Subjekt aus der unmittelbaren Verantwortung. Am Ende hat es sich selbst in das Objekt hinein erniedrigt. Die so verheißungsvoll begonnene ,Landnahme‘ durch Objektivation endet wegen der Abspaltung des Subjektes im Wiederverlieren dieses nur noch objektiv (dinglich) verstandenen Besitzes. Da aber alle Gesetze Gesetze der Einheit sind, wie wir noch erfahren werden, kann es bei dieser Abspaltung nicht bleiben. Das Subjekt begegnet sich selbst; es leidet an sich selbst.
Bei der Mystik handelt es sich, wenn man der Literatur folgt, um das Subjektive schlechthin. Nach ihr ist sie ein vielschichtiges, schwer fixierbares Phänomen, dass soziokulturell wie geschichtlich bedingt, höchst unterschiedlicher Art ist. Der Begriff Mystik geht auf den griechischen Stamm mýein zurück und bedeutet „sich schließen“⁴ (…von Augen und Lippen). Er umschreibt eine, das alltägliche Bewusstsein übersteigende personale Gotteserfahrung. So wenig wie wir aus der sehr unterschiedlichen Definition erfahren, so verweisen doch alle auf die Betonung des Subjekts, das die Naturwissenschaften stets versuchen, zu eliminieren. Der Antagonismus von Naturwissenschaft und Mystik scheint unstrittig. Die Naturwissenschaften wenden sich vollständig den Objekten zu und dem Subjekt ab. Die Mystik wendet sich von den Objekten ab und geht vollständig in das Subjekt hinein. Beide erleben im Prinzip dennoch das gleiche Phänomen, nämlich die ewige Gegenwart der Polarität: Je näher sie der von ihr angestrebten Vollständigkeit kommen, umso mehr begegnen sie dem dazu komplementären Pol. Der Mystiker steigt so tief in das Subjekt hinein, bis er die höchste und letzte Objektivität erblickt und sich, das Subjekt, dabei überwunden sieht. Der Naturwissenschaftler hingegen steigt so tief in die Welt der Objekte herab, bis er in sich als Beobachter in der Quantenphysik die höchste und letzte Subjektivität erblickt und das Objekt dabei überwunden sieht; es endet gleichnishaft auf dem Scheiterhaufen. Naturwissenschaft und Mystik sind sich nur in dem Punkt fremd, indem sie gegenpolare Wege beschreiten. Beide finden am Ende das von ihnen jeweils Ausgeschlossene. Das religiöse Subjekt stößt auf das letzte und höchste ,Objekt‘ und die wissenschaftliche Objektivität stößt auf das alles verursachende Subjekt.
Beide Wege führen in ihrer Konsequenz schon in sich und durch sich selbst zur Einheit des Seins. Zusammen gesehen zeichnen sie dann ein nochmal schärferes Bild von der ewigen Einheit hinter der Vielheit der Phänomene. Naturwissenschaft und Mystik verhalten sich komplementär zueinander. Zusammen führen sie im tiefsten Sinn des Wortes zur erstrebten ,EinSicht‘.
Die Zeit hat Qualität; sie gewichtet: Wir haben Jahrhunderte hindurch überaus erfolgreich den naturwissenschaftlichen Weg beschritten. Nun drängt die Zeit im Rhythmus der Geschichte erneut die andere Seite in den Blick zu nehmen. Um das mögliche Potential der Mystik freizulegen, können wir uns ihr authentisch nur nähern, indem wir in der von uns erworbenen wissenschaftlichen Weise vorgehen. Dabei zeigen sich jedoch schon sehr schnell prinzipielle Grenzen auf, die das Mystische, Geheimnisvolle und Unergründliche zu dem machen, was es ist.
Während wir keine Probleme haben, den Weisheitsbegriff hinreichend zu definieren, ist das bei dem Begriff Mystik anders. Die Schwierigkeiten ergeben sich von zwei Seiten: Nur Menschen, die mystische Wahrheiten selbst erfahren haben, können diese auch glaubwürdig vermitteln. Begegnet man aber einem solchen, der sodann auch noch die Vermittlung versucht, so würde er, um im Bilde von Platons Höhlengleichnis zu sprechen, bei seinem Wiederabstieg in die Höhle von den „Wissenden“ dort zwangsläufig als ein „Mensch getrübten Blickes“ wahrgenommen werden. Seinem mysteriös erscheinenden Vorhaben wendete man sich in aller Regel ab. Erst wenn sich jemand, die Sprache der Zeit sprechend, finden würde, dessen Verzweiflung und Wahrhaftigkeit groß genug wären, um die Einheit der Extreme zuzulassen, wäre Kommunikation möglich. Dass es solche Wissenschaftler gibt, lässt ein Vorwort Erwin Schrödingers nach Erhalt des Nobelpreises, angesichts der erschütternden Wirklichkeiten in der Quantenmechanik, hoffen:
Ich sehe keinen einzigen Ausweg aus dem Dilemma – wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer verlieren wollen –, als dass sich einige von uns an die Synthese von Fakten und Theorien heranwagen, wenn auch mit übernommenem und unvollkommenem Wissen – und mit dem Risiko, sich lächerlich zu machen.⁵
Der Versuch einer Synthese kann trotz allem nur in der Sprache die wir sprechen beginnen, und das ist heute die wissenschaftliche. Wenngleich die Wissenschaft bezüglich des Subjektes und seines offensichtlich mächtigen Bewusstseins bisher versagt hat, so basiert sie dennoch auf dem Privileg des Menschen, mithilfe der Vernunft Einheit sichtbar werden zu lassen. Daher nährt sich die Hoffnung, auf dem für viele der Trockenheit einer Wüste gleichenden wissenschaftlichen Terrain ein Rinnsal zu entdecken, dass die Verbindung zum anderen Extrem, dem Ozeanischen herstellt. Wenn wir die Wissenschaften mit der Mystik in Verbindung bringen, dann bringen wir Extreme in Verbindung, dann bringen wir Dinge in Verbindung, die das sind, was sie sind, weil sie sich zunächst einmal gegenseitig ausgeschlossen hatten. Es war Pythagoras, der solche Vernunft beschrieb: „Das Gleichnis dessen, der die höchste Vernunft besitzt, ist und kann nur die Fähigkeit sein, die Beziehungen zu erkennen, die auch Dinge einen, die scheinbar keinerlei Verbindungen zueinander haben.“ Er hinterließ uns zudem die Instrumente des Verbindens in dem Satz „Alles ist Zahl“. Die Zahl gehört zwei sich zu einander komplementär verhaltender Welten an, der Welt des Objektiven und der Welt des Subjektiven, der quantitativen Welt der Mathematiker und der sinnstiftenden Welt der Qualitäten, kurzum der konkreten Welt und der Welt der Ideen. Die Zahl zählt und erzählt gleichermaßen.
Bevor ich diesen heute vergessenen gemeinsamen Bezugsrahmen namens Zahl begründe, möchte ich zunächst weiter dem zur Diskussion stehenden Mystikbegriff folgen und seine Verbindung zur Zahl erhellen.
Nicht nur die Definition des allgemeinen Mystikbegriffs ist umstritten und unklar. Das gilt weitgehend auch für die jüdische Mystik, die Kabbala, welche den Zahlen bekanntlich Qualitäten zuschreibt. Auch für die Kabbala lässt sich in der Literatur kein einheitliches Dogma finden. Sie ist ein Sammelbegriff verschiedener jüdischer, mystischer Richtungen. Das hier über sie Gesagte soll deshalb nur grob umreißen und hat keineswegs Vollständigkeitscharakter. Es dient vielmehr dem besseren Verständnis der in allen Religionen vorkommenden Zahlensymbolik.
Obwohl die Kabbala nicht alles umfasst, was den Anspruch erhebt, jüdische Mystik zu sein, so ist deren Gewicht innerhalb der jüdischen Mystik doch so wesentlich, dass mir in diesem Rahmen eine Gleichsetzung geboten scheint.
Die Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Mystik wäre, wenn sie denn einmal geführt werden sollte, im Wesentlichen eine zwischen den Gegensätzen Rationalität ↔ Irrationalität zu sein. Als solche kann sie auf sehr unterschiedlichen Ebenen geführt werden. Wir finden sie bereits zwischen den harten Naturwissenschaften und der Philosophie. Für die sich als lupenrein betrachtenden Gebiete der Naturwissenschaften ist die Philosophie schon zu wenig greifbar und wirkt auf sie beinahe nebulös. Jene Unterscheidung finden wir ebenso zwischen der Philosophie und der Mystik. Bei diesem Gegensatzpaar erwägt sich die im vorigen Vergleich von den Naturwissenschaften weniger geschätzte Philosophie nun im Vorteil. Im Gegensatz zur Mystik wirkt sie geradezu griffig. Definitionen sind, wie wir wissen, kontextabhängig, so wie die Wahrnehmung von zentralen Kontrasten abhängig ist von deren Umgebung. Ähnlich verhält es sich mit der Kabbala als jüdische Mystik. Die Mystik wird in einem Zusammenhang als Gegenpol zur Philosophie gesehen und in einem anderen steht sie geradezu für die Philosophie innerhalb der jüdischen
Religion. Die Doppelrolle als Mystik und Philosophie zugleich, macht sie zu etwas Besonderem, denn sie rückt das Mystische näher an die Naturwissenschaften heran. Über ihre philosophische Seite wird sie kommunikationsfähig und mit Hilfe ihrer besonderen Kommunikationselemente, den Zahlen, bietet sie sich als Vermittlerin geradezu an.
Wie wir noch sehen werden, kann das ,Prinzip Zahl‘ beide lehren, dass eine lineare Sicht, gegenüber einer vom Kreis bzw. vom Dreieck geprägten dialektischen Sicht stets eine verkürzte ist, die in die Polarität zwingt und die es zu überwachsen gilt. So führen sowohl die naturwissenschaftliche als auch die mystische Sicht zu der Erkenntnis, dass das Bewusstsein mit dem Lauf der Zeit aufsteigt. Beide Wahrnehmungen der Wirklichkeit glauben darin einen linearen Verlauf zu erkennen und beide glauben, die jeweils hierarchisch höhere Position zu besetzen. Die Naturwissenschaft hat zweifelsfrei den ihr zu- zurechnenden, gewaltigen Fortschritt durch die Überwindung des mystischen Weltbildes erreicht. Aus der mystischen Sicht steht in der Entwicklungskette Naturwissenschaft – Philosophie – Mystik, die Letztere an höchster Stelle, weil sie das Ganze erfasst. Für sie gibt es kaum einen Zweifel, dass die drei logischen Stufen des Bewusstseins Wissen, Weisheit und Erleuchtung sind. Ihre Argumentation ist schlüssig: Wissen ist noch nicht Weisheit. Es geht aber der Weisheit voran, und Weisheit basiert auf Wissen. Sonach folgen sie auf- einander wie die Zahlen 1 und 2. Wie diese haben sie zugleich ein polares Verhältnis und sind Gegensätze wie Einheit und Zweiheit oder Analyse und Synthese. Wissen beginnt bei der Analyse, Weisheit bei der Synthese. Wissen spaltet und die Weisheit erfasst die Zusammenhänge. Während das Wissen das Konkrete und das Detail erfasst und im Blick auf das Spezifische und Unterschiedliche zwangsläufig das Andere ausklammert, richtet sich die Weisheit auf die Einheit und Ganzheit und stellt zwangsläufig das konkrete Detail, das der Exaktheit zugehört, in den Hintergrund. Das Konkrete ist nicht mehr das alles Entscheidende sondern nur noch Hilfsmittel zur Erlangung der Weisheit. Wissen und Weisheit sind zwei Sprossen auf der Leiter der Erfahrung. An de- ren Ende – falls es so eines gibt – steht für den Mystiker jedoch die Erfahrung der Einheit aller Unterschiede. Solche Einheit erfasst idealer Weise sowohl das eigene (subjektive) Bewusstsein als auch das, was jenseits davon liegt. Solche Grunderfahrung wird in den Religionen und Weisheitslehren als „Erleuchtung“ beschrieben. Der Mystiker kann und darf nicht endgültig ausschließen; er darf, in der religiösen Sprache gesprochen, nicht töten. Das Getötete würde dem Ganzen, das er ja schauen will, fehlen. Einheitserfahrung muss, und das klingt vorerst paradox, von vornherein das Gegenpolare (Polarität, Zweiheit, Zweifel) zur Basis ihres Tuns machen.
Eine Mystik, die das leisten will, kann keine willkürliche oder eine frei im Raum schwebende sein. Sie braucht eine unerschütterliche Bindung. In der Sprache der Zahlen muss sie aus der Zweiheit heraus auf die Einheit schauen. Ebenso gilt: Wenn sie die Einheit offenbaren will, dann kann sie dies nur, wenn sie in ihrem tiefsten Urgrund bereits aus der Einheit kommt. Sie muss also von Anbeginn dort verankert sein. Der Augenblick der Zusammenschau von Einheit und Zweiheit, Ganzheit und Abgespaltenheit (Existenz) ist der Augenblick der unio mystica. Sie entspricht in der dialektischen Sprache der dritten Qualität, der Synthese.
Der Aspekt der Bindung hebt die unerlässliche Beziehung der Mystik zu einer Religion hervor. Ist eine Religion im Laufe der Zeit nicht mehr befriedigend fassbar, werden ihre Werte neu gedeutet, die Religion aber nicht verworfen. Die Bindung bleibt. Die Mystik ist demnach die natürliche Weiterentwicklung einer Religion, nachdem sich ihr Rahmen zuvor verfestigt hatte. Der Mystiker geht auf seine Weise zu den Werten vor der Verfestigung zurück, verlässt aber nicht den Rahmen seiner Wirtsreligion. Mystik ist demnach immer Mystik von etwas, also beispielsweise die Mystik von der jüdischen Religion. Der Name Kabbala bedeutet denn auch: Das durch die Tradition Empfangene. Sie ist ein Kommentar verborgenen Wissens zur Bibel. Hinter der durch die Mystik erfolgten Weiter- und Neudeutung der Religion steht das zunehmend unerträgliche Empfinden der Getrenntheit von Göttlichem und Menschlichem. Die hohe Anziehungskraft der Mystik beruht darauf, dass sie mehr auf die Bedürfnisse der Menschen ein- zugehen vermag als die Schriftgelehrsamkeit. So war die Kabbala – als jüdische Mystik verstanden – lange Zeit in Europa Volksjudentum.
Mystik ist eine interne Veränderung der Religion und ist niemals eigenständig. Als so definierte Mystik von etwas macht sie einen entscheidenden Unterschied! Sie verweist alles andere in den Bereich des Mystizismus. Geistige Haltungen, welche die ursprüngliche religiöse Intention nicht übernehmen, gehören danach nicht der Mystik an.⁶ Hierzu zählen das zunehmende Interesse an Esoterik ebenso wie der Versuch eines Umdenkens, das Kritik und Ablehnung der einseitig auf Leistung und Konsum ausgerichteten Industriegesellschaft mit einer Neuorientierung auf ,ganzheitliches Leben‘ und ,Selbsterfüllung‘ des Subjekts hin (Medizin, Ökologie) verbindet. Solche geistigen Haltungen ohne eindeutige Wirtsreligion bewerten auf diffuse Weise das unergründliche Jenseitige gegenüber dem konkreten diesseitigen Leben höher. Die jüdische Mystik dagegen fällt gerade gegenüber anderen Mystiken durch ihre besondere Gewichtung der Praxis auf. Scholem geht in seiner Beschreibung noch weiter und behauptet sogar, die Kabbala sei nur an der Praxis orientiert und die unio mystica existiere in ihr gar nicht.
Die Kabbala ist trotz der in ihr möglichen Bandbreite mystischer Erfahrung eine vor allem auf Erkenntnis ausgerichtete rational-intellektuelle Mystik. Sie hat einen deutlich spekulativ-theoretischen Charakter und unterscheidet sich daher in der Art der gemachten Erfahrungen von der vorwiegend die Gefühlsebene ansprechenden affektiv-emotionalen Mystik, wie sie sich mit Namen Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau, Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta, Teresa von Ávila u.a.m. verbindet. Diese für das Abendland typische Frauen-Mystik (Erlebnis-Mystik), die ihren Ausdruck weitgehend in visionären und ekstatischen Erlebnissen vornehmlich bei Frauen fand, entwickelte sich besonders als Lebensvollzug, in der Zeit des Aufkommens der Universitäten, an denen bekannterweise Frauen nicht zugelassen waren. Manche darauf gerichtete Autoren wollen deshalb die Mystik nicht „als System im philosophischen Sinn“ verstanden wissen, obwohl sie einräumen, dass „ihre Inhalte selbstverständlich in Beziehung zueinander stehen“. Sie betrachten die Mystik „mit einer kostbaren Schatztruhe vergleichbar, angefüllt mit höchsten und ewigen Wahrheiten, die auf die verschiedenartigsten Weisen verkündet worden sind“.⁷
Die Kabbala als philosophisch-spekulative Mystik grenzt sich von diesen ab und setzt darauf, dass die Spiritualität durch die Vernunft schließlich eingeholt wird, um am Ende nicht ein Gegenentwurf zur Theologie zu sein. Was auch gesagt werden muss: Sie ist ausschließliche Männerdomäne. Sie ist nicht nur wesentlich älter als die erwähnte mittelalterliche Erlebnis-Mystik sondern auch wesentlich älter als das, was wir heute gemeinhin unter Kabbala verstehen und den ebenfalls aus dem Mittelalter stammenden Sohar und Bahir zuzurechnen ist. Auch nach Scholem ist die Kabbala eine esoterische Interpretation des Judentums aufgrund einer uralten Tradition. Moses Idel liefert aufgrund der Affinitäten zwischen theosophischen Kabbala-Gedanken und dem frühjüdischen Material Beweise für die Frühdatierung einiger Kabbala-Richtungen. Die theosophische Kabbala übertrifft dabei die fragmentarisch behandelten theologischen Themen in Talmud, Midrasch und Gnostizismus.⁸
Bei der Suche nach den Ursprüngen der jüdischen Theologie und ihrer Kabbala wird als deren Voraussetzung immer wieder das Erbe der Kulttheologie betont.⁹ Das stellt die erzählende Seite der Zahl unter den Verdacht, lediglich ein Relikt aus ihr zu sein. Zweifelsfrei führten die frühen mythischen Weltbilder zu einem komplexen System kultischer Vorstellungen, in denen man die Schöpfung und ihre Ordnung in einer Kultordnung und einem Kultkalender einzufangen versuchte. So konnte sich der Mensch selbst in die Ordnung einfügen von der alles Gedeihen abhing. Bei diesen geschichtlichen Darstellungen beeindruckt die praktisch-kultische Unterwerfung des Menschen immer wieder so sehr, dass dabei die Frage nach dem tieferen Wirkungszusammenhang zwischen Himmel und Erde unter gleichzeitiger Einbeziehung der Macht des Subjektes fast immer vergessen wird. Vor allem vergisst man dabei, dass ein Wirkungszusammenhang von der zumeist nicht mehr gestellten Frage abhängt, ob es eine geregelte Komposition von Bedeutungseinheiten (Welt der Ideen) gibt, die hinter ihm steht. Wer nach der Urordnung, nach der Quelle der Schöpfung sucht, der stößt zunächst auf die Metaphorik und dann unausweichlich auf die Zahlen. Die heiligen Schriften der Religionen und die Schöpfungsmythen sind interpretationsabhängig und oft widersprüchlich. Immer aber beziehen sich die Schöpfungsworte auf Zahlenzusammenhänge – kein Schöpfungsmythos, der bei der Beschreibung der Urordnung nicht auf Zahlenverhältnisse zurückgreifen würde. Dazu kommt die Tatsache, dass Zahlen älter sind als Worte.
Am deutlichsten wird das in der Religion der Maya, in der die einzelnen Götter mit Zahlen einfach identisch sind.¹⁰ Auch die Genesis stellt dem gesamten biblischen Kanon eine Schöpfungsordnung voran, die mit der Ordnung der fortlaufenden Zahlen identisch ist. Selbst das ethische Grundgesetz der Thora, der Dekalog, wird, wie es sein Name ausdrücklich sagt, mit der Zahl, vornehmlich mit den 10 Schöpfungsworten in Verbindung gebracht. Eine solch frühe „Kabbala“ entspricht ihrem Grundgedanken nach der Philosophie Platons. Sie setzt wie diese darauf, dass sich die Natur allen Seins auf klare, rationale Strukturen zurückführen lässt.
Wir haben heute den Zahlbegriff auf das Quantitative, das Zählende reduziert und zu dem Erzählenden, den qualitativen Vorstellungen keinen Zugang mehr. Das Theoriesystem dahinter liefert jedoch beeindruckend geordnete theosophische Gedanken, aus denen auch die Mythen gewebt sind. Sie entziehen sich einerseits bis heute allen bisher bekannten phänomenologischen Untersuchungsmethoden. Andererseits verweisen sie auf präexistente Gegebenheiten, also Dinge, die schon vor der Weltschöpfung existierten. Wegen ihrer grundlegenden Qualität sahen C.G. Jung und M. Eliade in ihnen eine Erhärtung ihrer These von den Archetypen der Psyche. Am Ende seines Lebens hat auch C.G. Jung die Quintessenz aus der Suche nach den Archetypen gezogen und in den natürlichen Zahlen „dasjenige Element gesehen, welches die Bereiche von Psyche und Materie gemeinsam anordnet“¹¹. Deren Erforschung trug er zwei Jahre vor seinem Tod seiner engsten Mitarbeiterin, Marie-Luise von Franz als Vermächtnis auf.¹²
Die qualitative, die erzählende Seite der Zahlen ist unserer Zeit fremd. Doch beschäftigen wir uns mit ihr ernsthaft, dann könnte man regelrecht er- schrecken vor den Hinweisen großer Geister, die den Zahlen eigene Entitäten und die Schlüsselrolle der Erkenntnisfähigkeit zukommen lassen.
Es war nicht nur Leibniz¹³, der ihnen schon in seiner ersten Schrift die prä- stabilisierende Harmonie des Ganzen zuschrieb. Wolfgang Pauli¹⁴, Henri Poincaré¹⁵, Hermann Weyl¹⁶, oder Philip J. Davis¹⁷ haben immer wieder her- vorgehoben, dass die natürlichen Zahlen ,Persönlichkeit‘ und einen ,individuellen Charakter‘ besitzen, also keineswegs nur künstliche oder erfundene Ordnungen sind. Werner Heisenberg¹⁸ zeigte nicht nur großes Interesse am pythagoreischen Zahlenprinzip, sondern hat in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Zahl als solcher oft genug unterstrichen. Auch Heinrich Hertz bemerkte, dass man sich dem Eindruck nicht entziehen könne, dass mathematische Formeln ein eigenes Leben und eigene Intelligenz besäßen und dass sie weiser seien als ihre Entdecker, „indem man mehr aus ihnen herausholen könne, als wir ursprünglich in sie hineingelegt hätten“.¹⁹
Der Eindruck, dass die Zahlen das ordnende Band des Weltenbaues, also eine Art Betriebsprogramm der Evolution sind, gehört keineswegs der Vergangenheit an, sondern drängt sich heute mehr denn je vielen Naturwissenschaftlern auf. Auch wenn die so auf die Zahlen Aufmerksam-Gewordenen aus ihrem naturwissenschaftlichen Kontext heraus allein nicht mehr herauszuholen vermögen, so führt sie ihre konsequente Denkweise hin zu Platons Anschauung der wahren Natur der Zahlen (s. nachfolgendes Platon-Zitat). Zwei Zitate sollen das erhellen:
Sir Roger Penrose, Rouse-Ball-Professor für Mathematik an der Universität Oxford hält die platonische Sichtweise für zwingend und spricht von einem so- genannten „nicht-rechnerischen, aber wissenschaftlichen Element“, das uns
„zu wahrer Erkenntnis befähigt“. Penrose folgt Platon und verlangt, seine Ideen zu ergründen:
Ich hoffe, die Leser von der engen und wesentlichen Beziehung zwischen der platoni- schen Welt und der Welt der physikalischen Objekte überzeugt zu haben. Allein das Vorhandensein dieser außerordentlichen – weiterhin zutiefst rätselhaften – Beziehung wird, so hoffe ich, den Skeptikern helfen, die platonische „Welt“ vielleicht etwas erns- ter zu nehmen als zuvor. Möglicherweise werden einige auch weitergehen als ich es mit diesen Überlegungen tun wollte.²⁰
Von John D. Barrow, Prof. für Astronomie an der Universität von Sussex in Brighton, hören wir:
Naturwissenschaftler glauben daran, dass es ein Universum mit einer einzigen allgemeingültigen Gesetzgebung gibt, die letztlich allen Unterabteilungen der Naturwissenschaft die Marschbefehle erteilt. In den letzten Jahren ist die Suche nach dieser einen „Theorie für Alles“ zum heiligen Gral der Grundlagenwissenschaften geworden. Wenn sie gefunden ist, wird ihr Inhalt logisch konsistente Mathematik sein. Was aber ist Mathematik, und warum vermuten wir in ihr das Geheimnis des Weltalls? Warum suchen wir die Antworten auf die letzten Fragen über das Wesen der physikalischen Wirklichkeit in der Ma- thematik? Was ist überhaupt Mathematik, und warum bewährt sie sich? Wenn wir diese Frage nicht beantworten können, beruhen unsere wissenschaftlichen Erklärungen letzt- lich auf Dingen, die wir nicht verstehen, auf den unfassbaren Geheimnissen, die hinter den unangreifbaren Zinnen eines Luftschlosses liegen. […] Warum folgen die Dinge dem Pfad, den eine Folge von Zahlen vorgibt, wie sie sich aus einer Gleichung auf einem Stück Papier herleiten lassen? Gibt es zwischen ihnen eine geheime Verbindung? Ist es reiner Zufall oder könnte es gar nicht anders sein?²¹
Wenn es sich erweisen sollte, dass die Zahlen das Betriebsprogramm der Schöpfung sind, dann kann es in der Tat gar nicht anders sein!
Für die jüdische Mystik, die Kabbala, ist die Hochsprache der Religion eine Sprache der Zahlen. Dass dies für alle Religionen gilt, kann ich in diesem Rahmen nur behaupten. Wenn das aber so ist und wenn wir darüber hinaus ei- ne tragfähige Wissensbasis schaffen wollen, welche die Defizite unseres derzeitigen wissenschaftlichen Wissens aufzufangen vermag, dann müssen wir die bisher scheinbar noch unvereinbaren Extreme, das tradierte Kulturwissen einerseits und die moderne Naturwissenschaft andererseits über einen gemeinsamen Bezugsrahmen verstehen lernen. Das ist demnach nur möglich, wenn auch die Sprache der Naturwissenschaft in der Sprache der Zahlen begründet ist. So gilt es, die Sprache der Evolution als eine Sprache der Zahlen zu entschlüsseln.
Hinweise und Gelegenheiten dafür bieten sich besonders dort, wo wir es mit Symbolen und Metaphern zu tun haben. Die Metaphorik und Symbolik gehören heute nicht mehr nur der Esoterik an. Sie haben inzwischen als Wissenschaftsmetaphorik und Wissenschaftssymbolik eine interdisziplinäre Funktion eingenommen. Von dort aus gelangt man durch einen kleinen Schritt der Abstraktion zwangsläufig zu den Zahlen. Nicht mehr vom zählenden Auge geblendet wird man gewahr, dass nicht nur die Religionen die Schöpfung der Welt und ihre Ordnung mit den Zahlen begründen. Die Philosophie und die Naturwissenschaften haben es schon von Anfang an getan. Das allgemein bekannte „Alles ist Zahl“ des Pythagoras von Samos (ca. 540 v.Chr.) können wir möglicherweise noch als eine vorzeitliche Ansicht eines Vorsokratikers abtun, nicht aber mehr die daraus abgeleiteten Zusammenhänge. Die Relativitätstheorie ist ein „Pythagoreismus ungeahnten Ausmaßes“ (Einstein). Wer annimmt, die Raumzeit habe keinen Bezug zur Weisheit des Pythagoras, der reduziert den Philosophen auf das rein Quantitative, auf die rechnende Mathematik. Solches Vorgehen ignoriert die sie ursprünglich begründende Zahlenweisheit und verfehlt, wie uns das folgende Beispiel zeigt, den wahren Kern der Philosophie:
Der Urvater der abendländischen Philosophie ist Platon. Auf seinen Grundmauern ruhen unzählige geistige Gebäude.²² Wir kennen den Kern der platonischen Philosophie, die Ideenlehre. Nach ihr besteht die wahre Wirklichkeit der Welt nicht aus den Einzeldingen dieser Welt, sondern aus allgemein urbildhaften Ideen. Was denn aber die urbildhaften Ideen sind, das ist entweder unbekannt oder die Antwort Platons erscheint zu einfach, um sie als Schlüssel seiner Erkenntnis zu akzeptieren. Dabei finden wir sie in unmissverständlicher Form in der Mitte seines Hauptwerkes, der Politeia: „…was allen Künsten und Forschungen und Wissenschaften unentbehrlich ist, und was denn jeder mit als Erstes erlernen muss. Diese ganz bescheidene Weisheit: die richtige Kenntnis der Eins, der Zwei und der Drei.“²³ Dass unter der richtigen Kenntnis nicht nur eine quantitative sondern vor allem auch eine der übergeordneten Idee zugehörige qualitative Schau zu verstehen ist, die sowohl dem Kriegsmann wie dem Philosophen dient, das stellt Platon klar und deutlich heraus:
Es obliegt uns also dies Fach (Zahlenkunst) zum gesetzlichen Lehrfach zu machen und diejenigen, die künftig im Staate der höchsten Amtsgewalt teilhaftig sein sollen, zu ver- anlassen sich der Zahlenkunst zuzuwenden und sich mit ihr zu befassen nicht etwa bloß in laienhafter Weise, sondern bis sie durch reine Vernunfttätigkeit zur Anschauung der wahren Natur der Zahlen gelangt sind, eine Art der Behandlung, die nichts gemein hat mit Kaufen und Verkaufen wie bei Kaufleuten und Krämern…
Für Platon war jenes Lehrfach ein „besonders feines Fach“, weil es, wie er es ausdrückte, „die Seele offenbar nötigt auf dem Wege des reinen Denkens sich der reinen Wahrheit zu nähern.“²⁴
„Man könnte sagen: welch herrliche Gesetze hat der Schöpfer in die Zahlen gelegt!“, so Wittgenstein²⁵. Auf die die Religion, Philosophie und die Naturwissenschaften bewegende Frage, was denn wahr ist, gibt es immer nur Antworten, die mit den Zahlen zu tun haben. Mit Zahlen ordnen wir die Welt und wir versuchen die Welt, mit Zahlen einzuholen. Zum einen laufen wir in unserem Verstehen-Wollen der Welt und ihrer durch die Zahl geprägten Ordnung nach. Zum anderen ist sie uns voraus. Sie ist die Grundlage und Vorbedingung unseres exakten Denkens. Die Existenz der Zahlen ist wirklicher als die Exis- tenz von Zeit und Raum. Zahlen sind präexistent und das Abstrakte an sich. Nur deshalb lassen sich Raum und Zeit durch sie ordnen.
Wenn alles, die Welt und auch wir und unser Denken der Zahl zugehörig sind, dann verstehen wir unser Tun als Selbstbewegung, mit der wir unseren Platz in der Ordnung finden. Wo anders sollten wir dann eine Antwort auf die Frage nach uns und dem Phänomen des Bewusstseins finden als in dem, was uns die Zahlen erzählen können?
Religion, Philosophie und Naturwissenschaft suchen die Ordnung mit Hilfe der Zahlen. Sie unterscheiden sich nur in ihrem Weg und dem auf ihm liegenden Gegenstand. Während sich die einen dem Transzendenten, der Idee, den Archetypen, kurzum dem Ideal zuwenden, beschäftigen sich die anderen mit der ihnen real erscheinenden Wirklichkeit der Dinge.
Der Ordnungsbegriff ist, ob quantitativ oder qualitativ verstanden, vom Begriff der Zahl nicht zu trennen. Die Religion beschreitet den qualitativen Weg und konzentriert sich auf die Qualität des Ursprungs. Auf ihn hin hinterfragt sie die von der Polarität geprägten Beziehungen in der Welt. Sie sind aus ihm hervorgegangen und von ihm geprägt.
Sobald jemand ordnet, dann ordnet er es, in welche Ausdehnung auch immer, entweder vor oder nach etwas schon Vorhandenem. Das vor oder nach ist ein Nachvollzug der Ur-Beziehung Eins−Zwei. Diese erste Beziehung ist die Ahnbeziehung aller Beziehungen. Das schlägt sich zahlensymbolisch im Namen des Ahnvaters der drei großen abrahamitischen Religionen nieder, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Abraham ist gleichbedeutend mit der Zahlenfolge 1-2-200-5-40 und bedeutet Vater einer großen Me ge. Nach der expliziten Benennung der Urbeziehung Eins–Zwei folgt der dann bewusste Versuch einer Heilsgeschichte. Zahlensymbolisch ist die große Menge die der Urbeziehung folgende, unendliche Vielzahl aller Zahlbeziehungen. Mit der Vätergeschichte Abrahams kommt sodann – und erst ab dort – auch fortlaufend der Begriff Vater, 1-2-10 (hebräisch Aba, א) vor. Er verbürgt die ewige Gegenwart der Urbeziehung. Die fortlaufenden Zahlen sind die Repräsentanten dieser Urbeziehungen, der Ordnung und Wechselwirkung an sich. Die Zahlen verraten uns, was Beziehungen im ursprünglichen Sinn sind und wie sie zustande kommen. Beziehung ist Bindung. Und in der besonderen Art der Bindung jeder Zahl besteht ihre umfassende Einmaligkeit.
Machen wir uns dazu am Zahlenstrahl klar, wie eine Zahl entsteht: Jede Zahl ist eine solche nur, weil sie dies ist in Bezug und in unverbrüchlicher Bindung an die Eins, dem Repräsentanten der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (s. Abb.). Die Vier ist die Vier, weil sie eben viermal die Einheit repräsentiert! Und die Sieben ist nur Sieben, weil sie gerade siebenmal die Einheit repräsentiert! Jede Zahl definiert sich und damit ihre Individualität an der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit. Nichts ist so sehr und unverbrüchlich an die Einheit gebunden wie die Zahl. Das macht sie zur wahrhaftigen, göttlichen Sprache der Schöpfung. Die Zahl 2 ist das seinem Schein nach Andere. Mit ihr beginnt die nicht endende Vielheit. In der Sprache der Zahlen gibt es nach dem o.g. Bild jedoch keine Vielheit, welche nicht die Einheit spiegelt und offenbart. Da jede Zahl den Ursprungsbezug in sich trägt – mithin durch die Einheit ist – haben darüber hinaus alle Zahlen eine eindeutige Beziehung auch untereinander. Als Ganzes verleihen sie der Einheit sodann eine größere Dimension. Aus der Einheit, dem anfänglich ungreifbaren Punkt, der Alles und Nichts vereint, wird ein Kreis. Der Dimensionszuwachs vom dimensionslosen, ungreifbaren Punkt zum dimensionshaften (teilhaftigen) Kreis wurde durch die Vielheit der Zahlen erreicht. Wie viele Zahlen auch immer die Peripherie des Kreises bilden, sie bilden ihn deshalb, weil sie – unabhängig von ihrer individuellen Größe – jede für sich allein auf den Ursprung be- zogen sind. Die Zahlen setzen das Grundthema jeder Philosophie und Religion ins Bild: das Gegenüber von Gott (Einheit) und Welt (Vielheit), das Gegen- über der Zahl 1 und der Vielheit der Zahlen. Jede Zahl steht dabei für eine Idee. Die erste und letzte Idee aber im Bilde der Zahlen ist die Einheit aller Unterschiede.
Die Bindung der Zahl ist vollkommen. Sie dient der Einheit und stellt sich
ihr uneingeschränkt zur Verfügung. Insofern verzichtet sie als vollkommen dienendes Wesen auf jegliches Eigenleben. So kennen und benutzen wir sie. Eine Zahl kann alles zählen. Beim Zählen wird sie automatisch, geradezu selbstlos, zum Zeichen dessen, was sie zählt. Wir sagen, sie kann potentiell alles bedeuten. Ihre Grunddeutung indessen verliert sie nie. Das aber gerade gibt ihr das Eigenleben zurück, das wir in allen Erscheinungen finden und an ihr so bewundern. Es ist die paradoxe Einheit von Hingabe und resultierendem Lebensgewinn, die der Gegenstand aller Religionen ist. Jene Beziehung resultiert aus der Ur-Beziehung Eins↔Zwei. Sie ist der Hüter des Grals, des letzten Ordnungsgesetzes. In der Metaphorik der zwei Cherubim bewacht sie den Eingang zum Paradies.
Aus dem religiösen Kontext heraus kann uns klar werden, wie noch einseitig die heutigen Naturwissenschaften die Zahl betrachten. Die absolute Verbindlichkeit der Zahl macht sie universell und zu dem Hilfsmittel der Naturwissenschaft, das wir kennen. Daraus zu schlussfolgern, die Zahl hätte deshalb keine spezifische Qualität und sie stünde ausschließlich für Quantität, nur weil sie sich mit jeder Qualität verbinden kann, ist ein schwerwiegender Trugschluss. Das käme dem Trugschluss gleich, dass jemand, der mit Menschen aller Glaubensrichtungen und Einstellungen kommunizieren kann, deshalb selbst keine Qualität und kein Profil besitzen würde, also minderwertig oder minderentwickelt wäre. Das ist nicht so – im Gegenteil, und wir wissen es, denn die Menschen erstreben diese göttliche Qualität in der Projektion auf einen Messias. Der Zahl wegen ihrer universellen Fähigkeit auch ihre jeweilige individuelle Qualität abzusprechen, ist unlogisch und nicht haltbar. In ihr kommt vielmehr der Sinn von Individualität, der Ungeteiltheit trotz Teilhaftigkeit, in seiner tiefsten Bedeutung des Wortes zum Ausdruck.
Die Mathematik sowie die gesamte Naturwissenschaft können wegen des Preises ihrer Bindung an das Konkrete, trotz ständiger Verfeinerung ihrer Mittel, die natürlichen Vorgänge und Zusammenhänge des Lebens immer nur beobachten und beschreiben, jedoch ohne Hinzunahme der Anderswelt, der geistigen Welt, nicht deuten. Sie kann es nicht, weil sie den Ursprung nicht kennt; sie kennt – nach ihrem Sprachgebrauch – die Anfangsbedingungen nicht.
Das gilt seit dem Jahre 1931 durch den Mathematiker Kurt Gödel als gesichert. Damals erlitt die Welt der Mathematik einen Schock. Kurt Gödel setzte dem Traum einiger Mathematiker, die logische Widerspruchsfreiheit, die Konsistenz der Mathematik aus sich selbst heraus beweisen zu können, ein Ende. Er bewies, dass die mathematischen Wahrheiten mehr sind als Konstruktionen aus Axiomen und Regeln. Ab da an war auch naturwissenschaftlich klar, dass man aus der Mathematik herausgehen muss, wenn man sie voll verstehen will. Ansonsten bleiben in ihr immer unentscheidbare Aussagen. Das in dem Aufsatz „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme“ genannte Gödel’sche Unvollständigkeitstheorem lässt es nicht mehr zu, die Mathematik für sich allein als die letztgültige, vollkommene und vollständige Theorie zu sehen. Das bot die besondere Gelegenheit, den letzten Dingen der Wirklichkeit näher zu kommen. Aber die auf so strenge Logik und Unbestechlichkeit orientierten Mathematiker machten paradoxerweise nun das, was sie eigentlich von den subjektiven Wissenschaften unterscheiden sollte; sie waren subjektiv und blieben in der alten Denkweise verhaftet. Gödel war nicht nur einfach Mathematiker. Er war vor allem ein Vertreter des Platonismus. Zahlen waren für ihn wirklicher als die vermeintlich realen Dinge. Gödel glaubte an die Welt der Ideen, aus der heraus sich die mathematische Realität speist. Die naturwissenschaftlich-mathematische Welt ist eine Ableitung aus der Welt der Ideen und kann deshalb allein aus ihrer Position heraus nicht befriedigend erklären, weshalb Materie entsteht und was sie bewegt. Das bedarf eines übergeordneten Sinnzusammenhanges wie er durch den Verweischarakter der Zahl erstellt wird.
Die Wirklichkeit lässt sich nur verstehen, wenn sie zwingend eine sprachliche Struktur enthält und so der Ordnung folgt. Die Naturwissenschaften bedienen sich mit dem Experiment und der Mathematik in ganz dinghafter Weise der ordnenden Sprache der Zahlen. Konkret bedienen sie sich der in der Mathematik eingebauten Logik. Ihre Elemente, die Zahlen und ihre Beziehungen zueinander erzwingen diese Logik. Weil das so ist, ist eine weitgehende Zusammenarbeit in der Forschung möglich. Das durchaus erstaunliche Phänomen bleibt unverstanden, bis man die ihr zugrundeliegenden Archetypen und ihre Beziehungen „beim Namen kennt“ (zählen im Sinne von benennen). Dazu aber müssen sie beginnen, die bis- her einfach nur hingenommenen, wundersamen Selbstverständlichkeiten ihrer Werkzeuge zu hinterfragen. „Denn wenn ein denkendes Geschöpf von ihnen [den Zahlen] erfährt, kann sich dieses Geschöpf gar kein anderes Zählen vorstellen als jenes, das wir kennen. Warum sind die Zahlen uns mit solcher Gewissheit vertraut?“²⁶ Zählen ist ein Zuordnungsprozess der direkt funktioniert.
Der Weg der Naturwissenschaften hin zu einer neuen Bedeutungsverleihung der Zahlen ist vorgezeichnet. Der Widerspruch, ihre Struktureigenschaften und somit ihre ordnungsstiftenden Qualitäten einerseits anzuerkennen, andererseits es aber abzulehnen, diese in ihnen selbst zu suchen, ist für eine auf die Dinge gerichtete Wissenschaft nur begrenzt durchzuhalten. Während das für sie so wichtige Objekt mehr und mehr schwindet und das bisher geschmähte Subjekt an Bedeutung gewinnt, erhält das Prinzip der Beziehung ein besonderes Gewicht. Im Grunde haben uns heute schon Mathematik und Physik gelehrt, dass die Beziehung dem Element vorausgeht. Das System entsteht aus Beziehungen und nicht aus Elementen. Es gibt keine autonomen Teilchen, die nicht wieder als Beziehung zu definieren wären.²⁷ Alles sind Beziehungen. Selbst wenn man von der kaum mehr zu haltenden Annahme, Zahlen hätten nur eine quantitativ, zählende Eigenschaft, ausginge, so kommt ein das hochgradig geordnete Universum ernsthaft hinterfragender Wissenschaftler an dem Urordnungselement Zahl nicht vorbei. In einer Welt, die in allen ihren Teilen von der Polarität geprägt ist, fehlt der Zahl offenbar als einziges ein wirklicher Gegenpol. Sieht man ihre innere Dynamik und ihre inneren Beziehungen nicht, dann ist sie als Ganzes etwas Ungespaltenes, Ungeteiltes, weil Nichtpolares. Das macht sie einmalig. Im naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch entspricht das dem Prinzip einer Singularität. Eine solche setzt aber die Gesetze und das Denken der herkömmlichen Naturwissenschaft, die dennoch und gerade auf die Zahl baut, außer Kraft. Der Widerspruch mahnt an, die Zahl auf ihre möglichen Botschaften hin zu untersuchen. Tut man es, dann gelangt man unweigerlich zu dem schon vorangehend dargelegten inneren Aufbau der Zahlenreihe, in der die individuelle Zahl eine solche nur ist, weil sie eine unverbrüchliche Beziehung zur Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit hat, deren ontologischer Repräsentant die Zahl Eins ist. Unter all den relativen Größen unseres Universums sind die Zahlen ,am wenigsten relativ‘. Sie sind ,Teilstücke‘, aber alle Urrepräsentanten der ,Ein-Sicht‘.
Mit dem Wissen dass die Zahlen die Ordnung vorgeben und dass das Maßgebende hinter der Ordnung die Zahl 1, die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit ist, legen die physikalischen Erkenntnisse und Experimente ein anderes, neues Zeugnis ab. Allein die heute als banal geltende Erkenntnis, dass der theoretische Anfangszustand des Universums ein einziger ist, aber zugleich die größte Vielfalt an Möglichkeiten einschließt, und dass in diesem Anfang das Maß der Unordnung (Entropie) gleich Null ist, d.h. einen Zustand der maxi- malen, der reinen Ordnung darstellt, bekommt eine ausgesprochen tiefe Bedeutung. Das gilt für die meisten Experimente. Dazu einige Beispiele:
Pythagoras interessierte sich für die Umstände, die den Zustand der Harmonie herbeiführen und untersuchte das Harmonieempfinden des Menschen am Monochord, einem einfachen Saiteninstrument. Dabei wies er nicht nur die Korrelation der Tonhöhe von der Länge der klingenden Saiten nach, sondern entdeckte etwas Normatives, das Jahrtausende später durch die Atomphysik bestätigt wurde, dort hingegen auf das Unverständnis seiner Entdecker stieß und schließlich zur Entwicklung der Quantenmechanik führte: Es war die Tatsache, dass Harmonien durch ganze Zahlen entstehen! Konkret: Die konsonierenden Intervalle der Tonleiter, d.h. die Harmonien werden durch einfache, d.h. ganzzahlige Verhältnisse ausgedrückt! Eine Oktave entspricht dem exakten Zahlenverhältnis 2:1, eine Quinte 3:2, eine Quarte 4:3 usw. Durch die Entdeckung des Pythagoras kann der Mensch dieses erstrebenswerte Ideal – den Zustand der Harmonie – formell erfassen. Der Schlüssel sind zweifelsfrei die ganzen Zahlen.
Der suchende Mensch, den das Gefühl der Vertreibung aus dem Paradies quält, erkennt mangels Ein-Sicht nur die halbe Wirklichkeit, empfindet sich folglich nur als das Gebrochene und als ein verstimmtes Musikinstrument im Orchester der Schöpfung. Ihm fehlt die ideale harmonikale Resonanz. Wie sehr hier das Prinzip und die praktische Wirklichkeit korrelieren, kennen wir aus Erfahrung. Sind Körper oder Seele von Zeit zu Zeit einmal verstimmt, dann erreichen wir mitunter Heilung durch das Aufnehmen musikalischer Harmonien. Sie wirken, obwohl dem Musikkonsumenten dabei nicht bewusst ist, dass diese Harmonien durch die ganzen Zahlen bewirkt werden.
Der denkende Forscher jedoch dringt durch seine aus der Disharmonie kommenden Fragen entsprechend weiter vor. Sein Tun führt ihn zu der gleichen normierenden Welt der ganzen Zahlen, die schon Pythagoras am Monochord demonstrierte und in seiner Folgewirkung am pythagoreischen Dreieck beleuchtete. Die Atomphysiker fanden die sprunghaften Übergänge der Elektronen (Quantensprünge), zu deren Erstaunen zwischen deren strahlungsfreien ,Umlaufbahnen‘ keinerlei Übergang (!) existiert. Dies führte zur Entwicklung der Quantentheorie, später der Quantenmechanik und der bis heute nicht abgeschlossenen Quantenfeldtheorie. Die Quantensprünge der Elektronen und deren festen ,Umlaufbahnen‘ gleichen dem Monochord. Beide zeigen die regieführende Wirkung der ganzen Zahlen. Was für die Forschung auf der subatomaren Ebene so eigenartig und unerklärlich aber zweifelsfrei wirksam ist, haben sie auf der atomaren Ebene hingenommen, ohne deren philosophische Bedeutung zu würdigen. Man bedenke: Unsere substanzielle Welt, die chemischen Elemente, ordnen sich im Periodensystem der Elemente nach den ganzen Zahlen! Die geschaffene Substanz ist notwendig eine Vielheit von Elementen. Weil sie aber der Zahlenordnung folgt, bleibt sie, der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit unterstellt, so, wie jede einzelne Zahl der Einheit verbunden bleibt und sonach ihre Existenz begründet.
Die Zahlen, wie die Elemente, wurden vom Menschen entdeckt und keineswegs von ihm erfunden. Sie waren vor ihm. In ihrer nur dem Prinzip und weniger dem Phänomen nach beschränkten Anzahl von Mustern bilden sie die Archetypen der Schöpfung, denn sie heben mit Eins an und haben keine naturgegebene Grenze, keine letzte Zahl. Die Zahlen geben die Ordnung vor und sind, weil auch wir Ausdruck der Ordnung sind, unsere geistigen Denk- und Bildungsmuster. Sie machen in ihrer Folge die einzelnen Ideen und die daraus entstehende Dynamik durchsichtig, die wir allgemein als Kausalitäten beschreiben (Es versteht sich, dass dies im Einzelnen an anderer Stelle nachzuweisen wäre).
Dass die ganzen Zahlen musterhaft wirklich allgegenwärtig sind, zeigt uns die Quantenmechanik auch hinsichtlich ihrer eigenartigen Resultate bezüglich des Konkreten an sich. Wir wissen, dass selbst die über uns kommenden und unser Leben rahmenden Parameter Zeit, Raum und Energie gequantelt sind und nur in wohl definierten Portionen und nicht etwa in beliebigen Größen vorkommen. Es gibt eine kleinste Zeit-, eine kleinste Raum- sowie eine kleinste Energie-Einheit. Unterhalb dieser Mindestgrößen verliert die Physik ihren Sinn. Das hat, was man sehr leicht übersieht, höchste Bedeutung. Wenn es ein halbes oder irgendwie geteiltes Quantum nicht geben kann und alle Pakete nur ganzzahlig sein können, dann bedeutet das, dass all die Größen, mit denen wir unseren Kosmos beschreiben, zwingend in Verbindung mit ganzen Zahlen vorkommen! Das hält – worüber wir uns immer wieder wundern – den Kosmos zusammen und macht ihn zu dem, was Kosmos bedeutet: Ordnung. Weil die Substanz an die Zahl gebunden ist, wie diese an die Einheit, bleibt trotz zunehmender ,Teilhaftigkeit‘ das Ganze gewahrt. Nur so erleben wir, das was uns H. Lesch in seinem Vortrag mit kosmologischen Bildern vorgeführt hat: Der Kosmos lebt von den Nichtgleichgewichten und so genannten Symmetriebrüchen. Wo immer wir hinschauen, in all seinen Teilen begegnet uns der Fehler. Wir leben in einem Universum voller Fehler und doch bilanzieren wir:
„Die Entwicklung des Universums ist eine einzige Erfolgsgeschichte“. Das verdanken wir der Ordnung, deren Repräsentanten die Zahlen sind.
Die weitgehende Unfassbarkeit des Ganzen (Einheit) verursacht bei uns erst einmal ein Unbehagen, das uns schon beim Blick in den unbegrenzten Kosmos beschleicht. Bei näherem Hinsehen und echtem Verstehen erweist sich diese Qualität jedoch als Garant einer zeitlosen Vollkommenheit, welche – inhaltlich gesehen – Zerstörung verhindert und die Schöpfung nach dem Urbild der Zahlen als durchgängiges Additionsprinzip erkennbar macht. Die durch den Erkenntnisprozess aus der Einheit zeitweilig herausgelösten Stücke öffnen sich einer wahren Einsicht dann, wenn man sie auf die im Hintergrund waltende Einheit bezieht. Solche Einsicht macht das schauende Individuum übermächtig und opferfähig, denn es macht mit seinem Geist die Teilstücke zu Gliedern des Ganzen – zur Offenbarung göttlicher Ordnung und Gerichtetheit.
Die Zahl war vor dem Buchstaben. Und der Gebrauch von Zahlen entwickelte sich vor der Schrift. Der Kern der Kulturentwicklung liegt in den Zahlen. Bei- spielhaft ersehen wir das an den Megalithkulturen. Diese besaßen die Fähigkeit komplizierte astronomische Berechnungen durchzuführen, aber eben noch keine Schrift!
Die Logik der Schrift basiert auf der Logik der Mathematik und diese auf der Logik der Zahlenelemente. An deren Anfang und Ende wiederum steht, wie wir inzwischen wissen, der Durchgriff der Eins, der die Vielheit zusammenhält und regiert.
Die Schrift ist die menschliche Fähigkeit, die Einheit von Dingen durch einfachste Elemente ins Bild zu setzen und damit zu kommunizieren. Mit Hilfe der Einheit – hier ,Einzelheiten‘ in Form der einfachste Buchstaben – wird Einheit offenbart. Ein Buchstabe, ein Satz und ein Aufsatz sind solche Einheiten in wachsender Größe. Die vollkommenste Ausformung erhält diese Einheit aber dann, wenn sie in allen ihren Dimensionen, Inhalt wie Form, diese Einheit zum Ausdruck bringt. Das ist beispielsweise bei einem Gedicht der Fall. Während ein gewöhnlicher Brief auch überaus Unangenehmes vermitteln kann, ist ein Gedicht von vornherein der Einheit geweiht, was der Leser weiß und an ihm besonders schätzt. Selbst ein trauriges Gedicht ist am Ende schön, wie wir mitunter sagen, schaurig schön. Das Versmaß und andere Stilmittel sind nur die Ausdrucksformen des immer Gleichen – der Ganzheit, des Wahren, Schönen, Guten, wie es Platon nennt.
Die höchste Kunst wäre es, wenn der Schreiber diese Ganzheit in wirklich allen Ebenen zum Ausdruck bringen würde. Dabei müsste schon jeder einzelne Buchstabe bereits die Ordnung erkennbar machen. Die so aus ihnen entstehenden Worte müssten sodann, der gleichen Ordnung und Hierarchie folgend, so aneinander gereiht sein, dass ihre Abfolge die noch immer sehr verborgene Einheit weiter entfaltet. Schließlich würde aus streng geordneten Buchstaben, Wörter, Sätze, eine ganze Geschichte, ein Kapitel, ein Buch und ein ganzer Kanon von Büchern entstehen. Das wäre dann wirklich eine die Einheit sichtbar machende, vollkommene, ganze und Heil offenbarende Schrift – eine heilige Schrift. Sie liegt uns vor, und sie zu entschlüsseln ist wegen ihres Umfangs ein Lebenswerk. Wir werfen hier einen Blick auf die ersten drei Buchstaben:
Um die Ordnung der Zahlen in Buchstaben umzusetzen, müssen beide ihrem Inhalt, d.h. ihrer Qualität nach einander streng zugeordnet werden. Das ist in der biblisch-hebräischen Sprache der Fall. In ihr gibt es, keine gesonderten Zahlzeichen. Buchstaben und Zahlen sind identisch. Das Alef entspricht der Eins, das Beth der Zwei usw. Alle Buchstaben gelten als Schöpfungskräfte Gottes, haben einen Zahlenwert und einen ihnen zugeordneten Sinn. Jedes
Wort stellt daher eine Abfolge von Zahlen dar, welche eine in ihr verborgene Dynamik von Schöpfungsgedanken anschaulich macht. Die Deutung von Wörtern und Texten erhält auf diese Weise eine zusätzliche Dimension.
An diese Stelle gehört eine dringende Abgrenzung und Klarstellung: Wie jedes Instrumentarium kann auch dieses seinem ursprünglichen Zweck entfremdet und missbraucht werden. Dann entsteht ein gefährlicher kabbalistischer Unsinn wie wir ihn aus der aktuellen esoterischen Szene kennen, die über sogenannte Schlüsselzahlen ,Macht- und Zauberinstrumente‘ machen will. Diese Gefahr hat zu jeder Zeit bestanden. Für die Redaktoren der heiligen Schrift war es deshalb von vornherein notwendig, die Ordnung sicher erkennbar und nachvollziehbar zu halten. Die größte und entscheidende Standardisierung der Schriften des AT geschah höchstwahrscheinlich am Ende des 1 Jh. und Anfang des 2. Jh. n.Chr. Seit dem verfügen wir über den so genannten vormasoretischen Text, der im Wesentlichen mit unserem heute bekannten masoretischen Text übereinstimmt. Ein Verfall kann, wie wir heute wissen, nicht nur auf der spirituellen Seite, sondern auch auf der wissenschaftlichen stattfinden. Kein geringerer als Heinrich Heine hat darauf hingewiesen:
Man kann die Ideen, wie sie in unserem Geiste und in der Natur sich kundgeben, sehr treffend durch Zahlen bezeichnen; aber die Zahl bleibt doch immer das Zeichen der Idee, nicht die Idee selber. Der Meister bleibt dieses Unterschieds noch bewusst, der Schüler aber vergisst dessen und überliefert seinen Nachschülern nur eine Zahlenhieroglyphik, bloße Chiffren, deren lebendige Bedeutung niemand mehr kennt und die man mit Schulstolz nachplappert. Dasselbe gilt von den übrigen Elementen der mathematischen Form.²⁸
Die Botschaft der Thora ist nach dem soeben beschriebenen Entfaltungsprinzip, analog der Urbeziehung Eins—Zwei schon im ersten Buchstaben, dem Beth des Bereschit, das im Alphabet zugleich der zweite Buchstabe ist, in Gänze enthalten – ähnlich eines Samenkorns, in dem bereits die gesamte Erbinformation steckt. Spätestens aber in den ersten zwei Worten und ihrer Gemeinsamkeit (Einheit) wird jedoch die schon in höchst konzentrierter Form enthaltene Botschaft des ersten Buchstabens deutlich.
Das dort behandelte Urproblem des Menschen ist seine von ihm so empfundene Trennung von der Einheit. Der Mensch findet sich in der für ihn verwirrenden Welt der Polaritäten, der Welt der Vielheit wieder. Im Zahlengleichnis ist das die Welt der Zahlen 2 bis unendlich. Das Einzige, dessen der Mensch sich sicher sein kann, ist die allgegenwärtige Polarität. Alles in der Welt ist von ihr geprägt. Von ihr ist er ,abhängig‘ (s. die „schlechthinnige Abhängigkeit“ Schleiermachers). Jene Qualität der Zweizahl verbindet der Mensch vorwiegend mit dem Sinn von Halbheit, Zweifel, Zwiespalt, Zwist und dem Begriff des ,Gegeneinander‘, worunter er leidet. Nur selten erhascht er von der Zweiheit einen positiven Eindruck, wie beispielsweise in einer ,Zweisamkeit‘, die wiederum nur vorübergehend und von kurzer Dauer ist.
Der Mensch mit seiner Erkenntnisfähigkeit, seinem unterscheidenden Verstand, ist seiner Natur nach getrieben, die Einheit zu reflektieren, denn er steht ihr zunächst gegenüber. Gelingt es ihm, die Beziehung zu ihr in rechter, verbindender (verbindlicher) Weise zu definieren, dann schließt er sie in seinem Bewusstsein ein, das sonach göttlicher Wesensart wird. Der Weg des Bewusstseins beginnt bei der Qualität, die ihr eigen ist. Das ist die Zweiheit, die Fähigkeit zu differenzieren, demgemäß auseinander zu halten und zu spalten. Als der Mensch sich im biblischen Gleichnis der Erkenntnis zuwandte, ging er diesen Weg des Spaltens. Darin folgte er dem Schöpfer, der vorbildhaft die Welt an 6 Tagen immer durch den Vorgang der Abspaltung schuf (Licht / Finsternis, Wasser oben / Wasser unten; Wasser / Erde; Sonne / Mond, Wassertiere / Vögel; Landtiere / Mensch). Der Weg der Entwicklung beginnt zahlensymbolisch gesehen mit der Zwei und ihrer Bedingtheit.
Die Genesis stellt mit dem Beth, dem 2. Buchstaben des Alphabets ganz demonstrativ die Zweizahl und ihren Widerspruch voran und entfaltet sodann das Prinzip durch alle Ebenen hindurch. Der ersten Bedingtheit folgt eine regelrechte Kaskade von Bedingtheiten und Widersprüchen. Betrachten wir die Zahlenwerte der ersten beiden Wörter, dann stellen wir fest, dass dem 2. Wort im Verhältnis zum 1. die zweite Hälfte fehlt. Auf der Satzebene wird die darin liegende Botschaft noch deutlicher.
Der erste Satz enthält exakt 11 der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Die ,Halbheit‘ stellt das Beziehungsverhältnis 1:2 heraus, um das es immer geht. Auch hier ist das Erste, der erste Satz, wie das ,B‘ am Anfang eine ,Halbheit‘. Das Voranstellen des Zweiten ist Programm. So erklärt sich auch der überaus eigenartige Bau des so wichtigen ersten Satzes. Anstatt des erwarteten, leicht zu bildenden und klar verständlichen Verbalsatzes „Gott schuf im Anfang den Himmel und die Erde …“, bei dem die Zahl 1 und zugleich Gott den Anfang eingenommen sowie das zweite Wort mit der Zwei begonnen hätten, beginnt die Schrift mit einem Konjunktionalsatz „[(Als) Im-Anfang schuf Götter…“] und einer Kaskade von Widersprüchen.
In dieser wohl kaum zufälligen Wahl verbirgt sich offenbar der Kern der Weisheit, die zu vermitteln die Schrift angetreten ist und die schon das Beth zum ersten Träger des religiösen Zentralgeheimnisses macht. Nach der kabbalistischen Tradition wird deshalb auch die paradoxe Konstruktion, der erste Buchstabe Beth zusätzlich mit einer kleinen Krone verziert.²⁹
Auf welche rechte³⁰ Weise sich die über die Zwei aufgebaute Spannung zu entwickeln hat, wird natürlich ebenso gleich zu Anfang in den ersten beiden Wörtern vermittelt: Eins und Zwei, das Ganze und das Teilhaftige, das Ungebrochene und das Gebrochene stehen sich gegenüber wie These und Antithese. Ziel von These und Antithese ist die Synthese. Die Synthese der zuvor getrennten Teile zu einem größeren und komplexeren Ganzen, welches die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit sichtbar und erfahrbar macht, ist auch das Ziel und das Prinzip der Schöpfung. Wir erfahren das, wenn wir uns das erste (Ur-)Verb der heiligen Schrift, das bara [hebr. ,schöpfen‘] anschauen das explizit dem göttlichen Schöpfungsakt vorbehalten ist.
Die im göttlichen bara verborgene kabbalistische Weisheit offenbart sich in seiner Zahlenfolge 2→200→1. Sie beschreibt die an allem Anfang stehende, allgegenwärtige Polarität (2). Sie ist der Zustand der Spannung und Bedingtheit. Im dinglichen Sinn ist sie das Andere, eine Antithese zu etwas schon Vorhandenem. Synthese kann nur geschehen, wenn das jeweils andere nicht getötet sondern vielmehr erhöht wird. Das ist im wahrsten Sinn des Wortes »notwendig«, um im Vollzug der Synthese seine Aufgabe erfüllen zu können. Wenn die Zweiheit auf ein höheres Niveau gebracht wird, wird sie zur Synthese befähigt. Zahlensymbolisch wird das ins Bild gesetzt durch das Hinzutreten der Null. Das Polare wird, genau genommen, auf eine zweifache Weise er- höht. Dann erst wird Einheit (1) offenbar, was die heilige Schrift mit der Zahlenfolge 2→200→1 zu beschreiben versucht. Diese ersten drei Buchstaben und dieses erste Verb, das Tun Gottes, sind die höchste Konzentration biblischer Weisheit. Als solche bilden sie zugleich eine Halbheit (Bedingtheit), denn sie bilden genau (und nur) die Hälfte des ersten Wortes (Bereschit). Da- mit wird das Verhältnis 1:2 ins Bild gesetzt und ausgesagt, dass die Eins und die Zwei unabdingbar zusammen gehören. Diese gleiche Aussage wird auf gegenpolare Weise im 2. Wort, dem bara ins Bild gesetzt. Die gleichen drei Buchstaben bilden auch das zweite Wort; doch bilden sie hier das ganze Wort! Im ersten Wort, dem Sinnbild des Ganzen (Einheit) stehen sie für eine Halbheit und im zweiten Wort, dem Sinnbild der Polarität (Zweiheit), stehen sie für das Ganze. 2 = 1 und 1 = 2 heißt die Botschaft der ersten beiden Wörter. Sie stehen einander gegenüber wie These und Antithese.
Die Bibel hebt mit der Zwei an und bindet sie zugleich unmittelbar und auf polare Weise an die Einheit. Das zweite Wort ist auf zweifache Weise vollkommen: Die aus dem ersten Wort kommenden drei Buchstaben repräsentieren das Vollkommene, weil sie trotz ihrer Halbheit ein vollkommenes Wort sind und sie repräsentieren das Vollkommene, weil sie das vollkommene Tun Gottes beschreiben. Es ist also vollkommen obwohl ihm zum Ersten eine Hälfte fehlt und gerade dadurch, dass sie ihm fehlt.
Erst das dritte Wort („Götter“, hebr. Elohim), das Symbol der Synthese steht für das göttliche Subjekt. Oder anders ausgedrückt: Die Offenbarung der Einheit bedarf einer vorangehenden Zweiheit. Die Einheit offenbart sich erst in der Dreizahl! So versteht es sich, weshalb der so gewichtige Gottesbegriff Elohim nicht, wie wir es ursprünglich erwartet hätten, am Anfang der Schöpfung steht, sondern ,erst‘ an dritter Position. Das dritte Wort Elohim ist übrigens ein Plural-Name, so wie die gesamte Schöpfung eine plurale ist und erst in der Vielheit der Zahlen 2 bis unendlich zum Ausdruck kommt.
Diese biblische Kernaussage lässt sich ohne Einschränkung auf die Naturwissenschaften übertragen. Auch sie vollziehen auf die gleiche Weise die Ordnung nach. Auch sie spalten indem sie nach Erkenntnis streben. Doch wer nach Erkenntnis strebt, kann beim Spalten nicht bleiben. Ziel ist immer die Synthese. So bedeutet Erkenntnis dann auch die fortwährende Verringerung von Vieldeutigkeit bis eine Einheit, ein Ganzes sichtbar wird. Die Naturwissenschaften schließen mehr und mehr aus. An ihrem tiefsten Punkt bleibt ihnen jedoch keine andere Wahl, als sich, dem archetypischen Vorbild der Zahlenfolge 2→200→1 nach, dann auch wieder dem vormals ausgeschlossenen Subjekt zuzuwenden. Das ist dann der Augenblick, in dem „der Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein wird.“³¹ Wegen ihrer Vorurteile, die zugleich die Vorbedingungen ihrer Existenz waren, finden sie nur gemeinsam die gesuchte, größtmögliche Kompression der Gesetze – den normativen Durchgriff der Zahlen. Am Ende offenbaren sie ihren Urgrund, die allen Anfang bildende Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit.
Die besondere Gabe des Menschen, in der Vielfalt der Erscheinungen das Einfache (z.B. das Regelmäßige und Beständige) zu erkennen macht ihn zum Ebenbild der Vollkommenheit. Sie macht ihn in einer auf den ersten Blick unüberschaubaren Welt überlebensfähig und sie macht diese Welt ein Stück weit
,berechenbar‘. Wenn das Berechenbare dann an seine natürlichen Grenzen stößt und mit seiner Halbheit konfrontiert wird, bedarf es erneut des Anderen, das seit langem schon an der gegenüberliegenden Seite der gleichen Grenze steht. Die Synthese wird eine neue, weniger dinghafte Wissenschaft sein. Sie wird eine Strukturwissenschaft sein und die Weisheit vernehmen, von der die Zahlen erzählen.
Wir wollen bei all dem Messbaren das Maßgebende finden. Wo immer wir hinschauen, es ist die unser Leben durchdringende Zahl. Sie ist es, weil sie eine ganz besondere, eine einmalige Beziehung zur Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit hat. Deshalb ist sie das ordnende Band des Weltenbaues. Die Zahl ruft uns eine unvergängliche Botschaft zu:
Ich rechne mit Dir. Auf mich kannst Du zählen.
Fußnoten
¹ XXI. Deutscher Kongress für Philosophie, 15.-19. September 2008, Universität Duisburg- Essen; vgl. den Bericht von Werner HÄUSSNER in Die Tagespost vom 25.Sept. 2008. Fried- rich Gethmann ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.
² Nach: Ivo SCHNEIDER, Isaac Newton, München 1988, 84f.
³ Das war das Lebensmotto Srinivasa Ramanujan, Zitiert nach: Robert KANIGEL, Der das Unendliche kannte, das Leben des genialen Mathematikers Srinivasa Ramanujan, übers. von A. Beutelspacher, Braunschweig/Wiesbaden 1993, 53.
⁴ Vgl. Brockhaus Enzyklopädie (2005).
⁵ Erwin SCHRÖDINGER, Was ist Leben?, München 1993, 4. Auflage, 29f, Vorwort v. 1944.
⁶ Vgl. Gerschom SCHOLEM, Die jüdische Mystik, Suhrkamp, Frankfurt 2000, 6.
⁷ René BÜTLER, Die Mystik der Welt, O.W. Barth, 1992, 8.
⁸ Moses IDEL, Kabbalah. New Perspectives, New Haven & London 1988, 1-34.
⁹ MAIER, Die Kabbalah, München 1995, I. Bausteine.
¹⁰ vgl. Marie-Luise VON FRANZ, Zahl und Zeit, Klett-Cotta 1990, 131.
¹¹ Marie-Luise VON FRANZ, Zahl und Zeit, Klett-Cotta 1990, 32.
¹² Marie-Luise VON FRANZ, Zahl und Zeit, Klett-Cotta 1990, Vorwort.
¹³ Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, Disputatio metaphysica de principio individui, Leipzig 1663.
¹⁴ Wolfgang PAULI: Naturwissenschaftliche und theoretische Aspekte der Idee des Unbe- wußten. Aufsätze und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie, Braunschweig 1961, 122.
¹⁵ Vgl. Marie-Luise VON FRANZ, Zahl und Zeit, Klett-Cotta 1990, 151.
¹⁶ WEYL, Philisophy of mathematics and Natural Sciense, Princeton 1949, 7f.
¹⁷ P.J. DAVIS, The Lore of Large Numbers, New Mathematical Libr., Yale 1961, 82f.
¹⁸ W. HEISENBERG, Physik und Philosophie, Stuttgart 1959, 52f.
¹⁹ Zit. nach: Marie-Luise VON FRANZ, Zahl und Zeit, Klett-Cotta 1990, 73.
²⁰ Roger PENROSE, Schatten des Geistes, Wege zu einer neuen Physik des Bewußtseins, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin / Oxford, 1995, 524.
²¹ John D. BARROW, Ein Himmel voller Zahlen – auf den Spuren mathematischer Wahrheit, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg / Berlin / Oxford, 1994, 16.
²² Alfred North WHITEHEAD, einer der Autoren der Principia Mathematica (1910–13), wel- che die Arithmetik logisch begründet, äußert sich später in seinem wohl wichtigsten Buch, Prozess und Realität, zur philosophischen Tradition Europas. Für Whitehead sei danach diese am sichersten als eine „Reihe von Fußnoten zu Platon“ zu beschreiben.
²³ PLATO, Sämtliche Dialoge, Band IV: Der Staat, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Felix Meiner Verlag, Leipzig 1923, Siebtes Buch, 522 St.
²⁴ Ebd. 525St.
²⁵ Ludwig WITTGENSTEIN, Culture and Value, Oxford 1980, 41.
²⁶ Rudolf TASCHNER, Zahl, Zeit, Zufall. Alles Erfindung?, ecowin 2007, 182.
²⁷ vgl. H.-P. DÜRR: „Jedenfalls ist die Materie nicht aus Materie aufgebaut! Was wir finden sind ,Wirks‘ und ,Passierchen‘.“ oder H. LESCH: „In der Physik sind Prozesse wichtiger als Substanzen.“
²⁸ Heinrich HEINE, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 150. Digi- tale Bibliothek Band 3: Geschichte der Philosophie, 3412 (vgl. Heine, WuB Bd. 5, 263).
²⁹ vgl. Daniel KROCHMALNIK, Im Garten der Schrift – Wie Juden die Bibel lesen, Sankt Ul- rich, Augsburg 2006, 118.
³⁰ Die ,rechte Weise‘ versteht sich hier im pythagoreischen Sinne, in dem zwei widerstreitende Pole durch den bewusst gewählten rechten Winkel verbunden werden und so die neue Dimension, die Ebene bilden. Das Musterbeispiel ist das pythagoreische Dreieck der Seitenlängen 3, 4 und 5, das sodann exakt den Einheitskreis einschließt und zur Darstellung bringt.
³¹ Ps 118,22; Mt 21,42; Mk 12,10; Lk 20,17; Apg 4,11; 1.Petr 2,7.
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