Die Koran-Initialen beginnen mit der 2ten Sure und sie thematisieren die zwei Aspekte der Zwei, das Halb-Sein und das Doppelt-Sein, die auf gegenpolare Weise das Ganze und Göttliche (1) anschaulich machen. Die sogenannten «initialen Zahlen» bestehen aus nur 14 der insgesamt 28 Buchstaben des arabischen Alphabets und sie treten in 14 verschiedene Formen und/oder Kombinationen auf. Sie bedienen sich ausdrücklich der Hälfte (½) und verweisen über sie und ihr Doppeltes (2✗), auf das Ganze. Vordergründig erzählen die Initialbuchstaben jedoch nur vom «Hälftigen», vom «Fehlen» und vom «Fehler», der allem Dasein anhaftet, so auch den Zahlen im Koran. Sie fordern den Leser heraus, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben und ihr halbes und doch wiederum ganzes Wesen nach seinem Sinn zu hinterfragen.
Da nur die Hälfte der Buchstaben auch Initialbuchstaben sind und als sogenannte «Lichtbuchstaben» bezeichnet werden, wird die Aufmerksamkeit unweigerlich auch auf die fehlende Hälfte, auf die «Schattenseite der Zahlen» gelenkt. Das fordert das profane Wissen zum wahren Wissen über die Beziehung von Eins und Zwei heraus, von Licht und Schatten, das über die alltägliche Polarität hinausreicht. Das Tor zu dem Wissen ist der Schatten. In ihm verbirgt sich das eigentliche Geheimnis, denn mit seiner Hilfe kann sich das rechte Bewusstsein über das unvollkommene und somit falsche Verstehen des zweiten Archetyps erheben.
Die Frage nach dem Schatten gipfelt in den letzten vom Bewusstsein erreichbaren Entitäten, den Archetypen bzw. den Zahlen und ihren zwei Seiten, der zählenden und der erzählenden. Welche der Seiten ist aber nun die «Schattenseite»? Die Religion und die Naturwissenschaften haben scheinbar eindeutige und doch entgegengesetzte Antworten. Die Wahrheit liegt in der «Mitte». Doch Vorsicht! Hier geht es nicht um eine linearlogische Mitte, welche über die Logik des Rechnens erfasst werden könnte. Die wahre Mitte des Lebendigen ist vielmehr von triadischer Art (siehe Aufsatz über die Mitte /Link setzen). Die jeweils als «dunkel» empfundene Seite der Zahl zielt auf den Archetyp der Drei, der die andere, gegensätzliche Hälfte nicht ausschließt, sondern als hilfreich und notwendig betrachtet und einschließt. Der Kern jeder Religion greift auf die Zahl mit ihren beiden Seiten zurück und unterstellt keine der beiden «Zauberei», wie es Ungläubige aus der Angst vor Machtverlust tun und wie es die Sure 74:23f erzählt.
Konkret führen die zwei Perspektiven auf die Zahlen dazu, sie auch im Koran als notwendig und hilfreich zu schätzen, nicht aber dazu, aus ihnen das göttliche Geheimnis zu berechnen. Die initialen Zahlen führen nicht direkt zum Geheimnis – im Gegenteil. Sie erweisen sich als Sackgasse des Erkennens. Doch aber gerade durch das Erkennen des Nichterkennbaren kann man wahrhaft erkennen!
Die Ordnung des Zahlenstrahls besticht, obwohl es, wie wir wissen, eine reduzierte Ordnung ist. Ihre Phänomene bergen die Gefahr, dass man der Macht der Zahlen und ihrer vordergründigen Ordnung anheimfällt. Um der Gefahr zu entkommen, ist einerseits die Konfrontation mit dem bewussten Bruch der bestechenden Linearität geradezu notwendig. Andererseits gibt es viele Brüche, die das Dasein in seiner Vielfältigkeit im Grunde erst hervorbringen, jedoch vorschnell dem Reich des Profanen zugeordnet werden. So besteht die Notwendigkeit fort, einen genaueren Blick auf das Wesen der Brüche zu werfen. Das macht der Koran anhand der Zahl 19, deren Nähe zum Bruch aus der Sicht der bekannten Zahlensysteme nicht unmittelbar ersichtlich ist und doch gerade dadurch das Tor zu einer größeren Einsicht aufstößt.
Die Sprache des Korans kann das leisten, weil zur Zeit des Propheten Buchstabe und Zahl noch eines waren und jeder der sogenannten Archetypen sowohl einen zählenden Reihenwert als auch einen erzählenden Zahlenwert hatten. Beide Werte sind bis einschließlich der Zahl 10 identisch. Ab der Zahl 11 tritt der Aspekt der Unterscheidungen der Dimensionen hinzu.
Abb. 1 Die 28 Buchstaben des arabischen Alphabets und ihre 28 Zahlenwerte. Die Zahl 29, die Anzahl der initialisierten Suren übersteigt auch diese Ordnung noch (siehe V).
Die Zuordnung der linearen Ordnung der Zahlen zu den «erzählenden Zahlenwerten» (in Abb. 1 grau hinterlegt) lässt erkennen, dass die umfassendere religiöse Ordnung dem 9er-Rhythmus folgt, der schon dem älteren hebräischen Alphabet zu Grunde liegt. Vor allem lässt die Zuordnung die besondere Stellung der 19 erkennen. Mit der 19 beginnt eine neue, verbindende dritte Seins-Art (siehe III), welche die vorangehenden zwei polaren Sichtweisen (I + II) übersteigt und sie dabei zu einem neuen Ganzen verbindet. Über die Zahlenwerte der Buchstaben und über ihre Ordnung wird zudem ersichtlich, dass der 28te arabische Buchstabe eine vierte Daseins-Dimension (IV) eröffnet. Tatsächlich manifestieren (4) die 28 Buchstaben die Basis des Erkennens an sich und der 28te repräsentiert ihr Erscheinen in besonderer Weise. Das unterscheidet das arabische Alphabet vom hebräischen, das nur 22 Buchstaben kennt. Die muslimische Buchstaben- und Zahlenordnung entfaltet die ihr vorausliegende hebräische Ordnungsstruktur, beschreibt aber ebenso den Bruch der Linearität und die aus ihm hervorgehende Erhebung des Bewusstseins (5 / s. V in Abb. 1).
Für beide Weisheitslehren, die der Hebräer und die der Araber sind Buchstaben und Zahlen nur Hinweisende. Sie verweisen auf etwas, das höher liegt und selbst über sie noch hinausgeht und nur in einer 5ten Seins-Art, nämlich im Bewusstsein (5) Heimat findet. Aus der Perspektive der arabischen Buchstaben und Zahlen entspricht das der aus der 28 sich erhebenden 29. Folgerichtig weist der Koran 29 initialisierte Suren auf. Ihr Geheimnis kann die in der Linearität gefangene zählende Zahl nicht mehr gänzlich erfassen. Der Leser des Korans kann sie aber wohl übersteigen. Dabei hilft ihm, dass sich der Glanz der Gewissheit auch in den niederen Seins-Arten und ihren Schatten niederschlägt.
Dem sorgfältigen Leser des Korans begegnen zwei Welten über die er sich auf ein wiederum höheres Anderes zubewegt. In der Ordnung der profanen, «gezählten Daseins-Dimension» wird der Wechsel (s.o. 110 alias I-II) mit der Zahl 10 angezeigt. In der ganzheitlichen Ordnung des Korans hingegen und der von ihm «erzählten Seins-Dimension» zeigt die Zahl 19 den Wechsel zum Geistigen (I-II—III) an. Insofern wundert es nicht, dass die 10te initialisierte Sure ausgerechnet die 19te Sure ist. Die Ordnung der Koran-Initialen verbindet die profane Weltsicht mit der Sicht auf das Ganze und Heilige.
Die Koran-Initialen lassen den ernsthaften und in (zählenden) Linearitäten verhafteten Leser des Korans nicht entkommen, denn der Koran besticht durch viele Scheinlinearitäten, die einerseits auf ihn magisch wirken und andererseits von ihm doch überwachsen werden müssen. So fällt vor allem auf, dass die Suren ihrer Länge nach geordnet sind und nicht in der Reihefolge ihrer Offenbarung durch den Engel Gabriel. Die Linearitäten sind Hilfsmittel, die gelesen, verstanden und schließlich doch überwunden werden müssen. Das begründet den Kontext der Offenbarungen, in dem der Engel Gabriel den Propheten zum vermeintlichen «Lesen» zwingt, obwohl er es nicht vermag. In Wirklichkeit war Mohammed nicht in der Lage zu «schauen». Es gelingt ihm erst nach viermaliger Gewalt durch den Engel. Nun konnte er die Texte «erschauen», die auf einem Tuch aus Brokat geschrieben waren. Es war ausdrücklich kein glattes Blatt, sondern ein unebenes, gewölbtes und geschwungenes Tuch. «Glatt» im Sinn von linear war nur der beschränkte Verstand des Propheten, den der Engel später als einen «Eingehüllten» (3te Koranoffenbarung / Sure 73) und «Verdeckten» (4te Koran-Offenbarung / Sure 74) bezeichnet. Auf den Punkt gebracht konfrontierte der Engel Gabriel Mohammed mit einer «völlig anderen» Erscheinung, einem archetypisch «Zweiten», das ihn dazu auffordert, sich zu «enthüllen» und zu «entdecken» und sich vom Subjekt zum Individuum zu erheben.