Das 13. Buch veranschaulicht die Fruchtbarkeit der Zweiheit und Polarität, die bei Unkenntnis der Zahlenkunst zu großen Fehlschlüssen führt. In jener Unkenntnis verliert das Subjekt das durchgängige Wirken der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit aus dem Auge. In der Geschichte der Philosophie hat das soweit geführt, dass man glaubte, schon zwischen PLATO und seinen nächsten Schülern eine tiefe Kluft erkennen zu können. In Wirklichkeit folgten die Schüler der Botschaft des Meisters, stets weiter zu gehen und über den scheinbaren Widerspruch zu neuen Höhen zu gelangen, von denen aus die Einheit und Ganzheit allen Seins noch deutlichere Strukturen offenbart.
Besonders eindrücklich ist der philosophische Fehlschluss bei der Interpretation der Lehre des ARISTOTELES in Bezug auf die des PLATO. Am Beispiel der Elementen-Lehre möchte ich das hier kurz aufzeigen.
Wie wir wissen, hat der Schüler als Erstes die Vier- und sodann aus deren Logik heraus auch die Fünf-Elementen-Lehre PLATOs übernommen. Als Schüler machte er das, was die Elementen-Lehre fordert, nämlich fortzuschreiten und einen fruchtbaren Gegenentwurf zu den Bildern PLATOs zu entwerfen. ARISTOTELES behält die Lehre von den vier Elementen bei, welche die konkrete, irdische Welt beschreiben. Zugleich stellt er ihnen ein »erstes Sein«, den Äther voran, in dem er den Kreis und das Bewegungsprinzip erblickt.⁹ Bei ARISTOTELES erhielt der Äther, das Andere und Ungreifbare eine absolute Vorrangposition vor den üblichen, begreifbaren vier Elementen Feuer, Luft, Wasser, Erde.

Abb. 3 ARISTOTELES setzte den ungreifbaren Äther vor die konkrete Realität der Vier
Der Äther steht als ein Erstes vor allem. In PLATOs erstgenannter Ordnung in der Epinomis war der Äther hingegen ein Letztes und Höchstes. ARISTOTELES betrachtet demnach die gleiche Ordnung aus der Gegenperspektive. Immer aber ist der Äther ein der Vierheit Gegenüberstehendes.
Mit dem absoluten «Vor- und Herausrücken» des Äthers aus allen greifbaren und begreifbaren Sphären anerkennt ARISTOTELES auf neue Weise die Existenz des absolut Anderen und startet aus der so stabilisierten «Sicht aus der Welt» heraus, eine neue Philosophie mit einem Realitätsbezug, der die Entwicklung der Naturwissenschaften beförderte. ARISTOTELES schlug mit der Erkenntnis, dass Erkennen notwendig immer aus der Substanz und Vierheit heraus erfolgt, einen neuen Pflock ein. Die neue Gewichtung der Vierzahl brachte auch ein anderes und neues Bewusstsein (5) hervor. Das erklärt einige seltsam wirkende Passagen in seinen Texten, in denen er seine Vorgänger so behandelt, als ob die doch nur die Vier-Elementen-Lehre oder auch nur eine Drei-Elementen-Lehre angenommen hätten.¹⁰ Jedermann aber weiß, dass er mit dem Äther die Fünf-Elementen-Lehre ebenfalls übernommen hatte. Seine Fünf-Elementen-Lehre unterscheidet sich von der des PLATO. Sie widerspricht ihr in einigen Perspektiven, lehnt sie aber nicht grundsätzlich ab.
Bei ARISTOTELES umspannte das numinose Andere gänzlich die durch die Vierzahl charakterisierte Welt. Das ungreifbare Andere war der Träger der stets vorauszusetzenden Trias und damit der Bewegung. Der Äther beinhaltet die ewige Bewegung samt seines sogenannten «unbewegten Bewegers». ARISTOTELES hielt fest, dass es keinen Sinn ergibt, die Dreiheit alias die Bewegung in einer Endlosschleife ständig weiter hinterfragen zu wollen.
Jenes aristotelische Bild ist ein Neustart auf der Basis der Lehre PLATOs. Was ARISTOTELES behauptet, das lässt sich in der einfachen Geometrie vom Einheitskreis und den von ihm umschlossenen Quadrat der Fläche 2 einfangen. Das geometrische Gleichnis erzählt vom Verhältnis der Ganzheit (1) zum Bruch (2) alias vom Verhältnis der Gottheit zu Welt der Dinge (4). Auf der Basis kann ARISTOTELES sodann eine weiterführende Theorie aufbauen, in welcher die Vierheit nach wie vor das die Welt repräsentierende Prinzip ist.

Abb. 4 Das erste denkbare und somit archetypische Kreis-Quadrat-Verhältnis entsteht durch den ein Quadrat vollständig umschließenden Einheitskreis. Es erklärt, was der Archetyp «Zwei», der für das Prinzip des «Bruchs» (2) steht, in Wirklichkeit ist. Auf diesen lebensnotwendigen Bruch baut Aristoteles sein System auf.
Die zu PLATO sich unterscheidende Perspektive des ARISTOTELES zeigt, dass man die Folge der Elemente anders, eben auf vielfältige Weise zählen kann. Kein Element ist streng und unwiderruflich nur einer einzigen Zahl zugeordnet. Doch bleibt die Archetypenlehre die Lehre von der «Kunst der Zahlen». Sie ist nach wie vor die Grundlage auch der aristotelischen Philosophie. ARISTOTELES stellte aber klar, dass die Zahlen selbst keine Götter, sondern das letzte und erste Greifbare sind – eben Archetypen. Was er damit meinte, ist wohl am besten an Musiknoten zu erklären. Auch sie führen uns die Musik vor Augen, sind aber selbst nicht die Musik.