Die neue Lehre wird für das einzelne Subjekt sehr verbindlich. Sie nimmt dabei die Farbe der Tiefenpsychologie an, die versucht, das Subjekt und sein Verhalten auf umfassende Weise zu ergreifen. Das Verbindende und Verbindliche des Ergriffenseins bringt in seiner Unmittelbarkeit die Gefahr mit sich, die im Hintergrund jeder Religion, Philosophie und Psychologie wirkenden Archetypen doch wieder zu vergessen. Gerade wenn die zu überbrückenden Unterschiede übermächtig werden, wie beispielsweise dann, wenn Religionen oder Konfessionen aufeinanderstoßen, dann muss man sich die Archetypen immer wieder vergegenwärtigen.
Die Welt sorgt mit ihren „Zufällen“ ständig dafür, dass wir uns nicht unendlich verirren. Sie zeigt, was für uns wichtig ist, was uns fehlt und sie manifestiert das Fehlende. Die uns so stets begegnenden, unvollkommenen und uns aufregenden, anderen Subjekte (die Anderen) spiegeln in Wirklichkeit unsere eigene, subjektive Unvollkommenheit.
Das andere Subjekt muss nicht nur angeschaut werden. Es sollte durchschaut werden, um das jeweils hinter seinem Verhalten stehende Prinzip zu erkennen. Sofern wir den Anderen und seine Unvollkommenheit nur anschauen, dann entfaltet sich unsere eigene Kleinheit, die sich aufbläst und die gegenseitige Aggression sowie deren zerstörende Kräfte nährt.
Der noch unbewusste Geist findet im jeweils anderen Subjekt zunächst nur sein Gegenteil und versucht im Widerwillen zu ihm den größtmöglichen Abstand zu gewinnen. Wir sehen im Anderen nur das Gegenteilige – das Böse. Das macht die Feindschaften aus. Erst wenn der Geist die hinter der Polarität stehende Einheit erschaut und die Symmetrie wahrnimmt, wird er diese auch manifestieren können.
Suchen hingegen nach einem dritten, gemeinsamen Punkt, dann bemerken wir:
Was andere uns angetan haben, haben wir anderen angetan. Mit dieser Erkenntnis sind wir dann nicht mehr allein Opfer. Solche „dritte Sicht“ ermöglicht eine neue Dynamik.
Das Vergessen unserer wahren Herkunft aus der Einheit (1—5) missachtet die Urbeziehung 1-2 und vergiftet alle unsere Beziehungen. Was fehlt schafft Bedürfnisse. Diese können nicht befriedigt werden, wenn wir in der mehr oder weniger dinglichen Ebene, der Ebene der Polaritäten verhaftet bleiben.
Wer die Ganzheit ausschließt, der kann sie auch nicht vermitteln. Was ich nicht habe, das kann ich nicht geben. Wenn ich der Fülle nicht teilhaftig bin, kann ich andere und mich nicht erfüllen.
Es ist die Mangelsicht des Subjektes, welche eine Wirklichkeit schafft, an der man leidet. Die ausschließliche Sicht aus der Zweiheit heraus macht uns zum leidenden Opfer. Wir klagen:
Ich werde nicht anerkannt und nicht recht gewürdigt; ich werde einfach nicht geliebt.
Bei dieser Aussage ist Vorsicht geboten. Die Gesetze der Polarität führen auf einen abschüssigen Pfad, den wir gegenteilig interpretieren und die Fülle in einer Weise huldigen, die das Andere, den Mangel nicht sehen will. Auf diese Weise dienen wir unmittelbar der Zwei und dem Zwist. Tatsächlich existieren Mängel und wir empfinden sie auch regelmäßig. Doch beherrschen sie nur scheinbar das Ganze, denn in letzter Wirklichkeit sind sie der Fülle nachgeordnet. Auf die rechte Würdigung jener Beziehung kommt es an. In ihr liegt die Herausforderung des Subjekts.
Wenn wir uns allein mit dem identifizieren, was uns fehlt, und nicht zugleich mit dem was wir von vornherein haben (archetypisch 1—5, phänotypisch 1—7), werden wir stets unter dem Gefühl des Mangels leiden. Sobald wir das Gute anerkennen, das in unserem Leben ist, verbinden wir uns in einem ersten Schritt mit der allgegenwärtigen Fülle.
In uns ist die Ganzheit angelegt. Wir können sie uns und der Welt nicht vorenthalten. Das käme einem Bruch des Bewusstseins mit ihr gleich. Versuchen wir es dennoch, dann enthält uns die Welt die Ganzheit ebenso vor. Das Subjekt strebt nach wachsendem Bewusstsein. Um das zu erreichen, muss es bei seinem Erkennen und seinen Handlungen der Welt das geben, was sie vor allem und primär ist: Fülle, alias Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit.
Identifizieren wir uns primär mit der Zweiheit anstatt mit der Einheit, also primär mit Mangel anstatt Fülle, so prägt das unser Bewusstsein und wir gehen – meist unbewusst – von der Einstellung aus, dass wir der Welt nichts geben könnten. Das ist ein Irrtum. Die beiden höchsten Güter, die Einheit und das Bewusstsein können nur durch deren Träger, also über das Subjekt selbst zusammengeführt werden (1—5). Das Subjekt kann die Ganzheit nicht empfangen, wenn es diese nicht schon von Anfang an gegeben hat. Das begründet die in allen Religionen enthaltene Weisheit, die sogenannte goldenen Regel. Sie besagt, dass das, was man herausgibt, das bestimmt, was man empfängt.
Die Quintessenz solcher Erkenntnis ist: Der erste Schritt liegt beim Subjekt, dem Menschen. Beginnt er nicht selbst damit, zu geben, dann wird er nicht nur nicht in die Aufwärtsspirale einer Bewusstseinsentwicklung einsteigen, sondern den Fluss des Lebens als eine Abwärtsentwicklung erfahren. So verstehen sich die Worte Jesus:
„Gebt, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen. Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? …“ (Lk 6,38f).
„Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ (Matt. 25, 29).
Ohne das Wissen um die dahinterstehenden archetypischen Zusammenhänge wirken diese Worte auf uns sehr ungerecht. Die Soziologie und Psychologie wissen um diese Phänomene. Sie nennen sie den Matthäus-Effekt.
Die besondere Schärfe des Matthäus-Effektes macht seine unausweichliche Dynamik aus. Das Verfehlen der rechten Einstellung führt eben nicht (nur) zu einem Stillstand der Entwicklung, sondern zu einer Abwärtsentwicklung mit zunehmenden Leid.
Die göttliche Fülle (1) liegt in der Natur (1—4). Und wir gehen aus der Natur hervor (4➜5). Die Fülle der Natur ist auch unsere Fülle (1—5). Unser Bewusstsein (5) und unser Handeln (6) sollten das zum Ausdruck bringen.
Die Crux dabei ist: Fülle kommt nur zu denen, die sie schon haben. Wir sollten also Gebende werden! Erst wenn wir das Bewusstsein der Fülle zu geben beginnen, werden wir die Fülle auch empfangen. Die in der Schöpfung verankerte Verantwortung schließt aus, dass wir etwas hereinbekommen, was wir nicht herausgegeben haben.
Zusammenfassung: Machen wir uns das Urverhältnisse klar, das Verhältnis 1-2, welches der Einheit das Primat zuschreibt. Checken wir sodann all unsere Erlebnisse anhand der Grundeinstellung der Fülle, an der wir natur- und schöpfungsgemäß teilhaben. Versuchen wir das, dann werden sich die Situationen verändern: Wir werden die Dinge nicht mehr nur linear dinghaft betrachten, sondern stets einen hinter ihnen stehenden dritten Punkt suchen, der im wörtlichen Sinn Wunderbares vollbringt, nämlich uns mit unserem Widersacher verbindet. Wir reagieren nicht linear, d.h. blindlings sondern versuchen bewusst d.h. die Dreiheit einzuschließen, zu reagieren. Dann können wir die Situationen ein Stück weit akzeptieren. Auf diese Weise vermeiden wir weitgehend Feindschaft. Unser Handeln wird vielmehr von einer Notwendigkeit getragen.
Hinweis: Siehe auch Aufsatz «Das Orakel von Delphi – der Mittelpunkt der Welt»