Der Augenschein erfasst nicht die volle Wahrheit. Das hat uns Galilei mit dem Fernrohr vor Augen geführt und Newton mit dem schnellen Fall einer Feder in der Vakuumröhre. Die immer subtiler werdenden Instrumente des Augenscheins entlarven alte Weltbilder und schaffen neue. Selbst mathematischen Formeln erweisen sich am Ende nur als – wenn auch höchst präzise – Instrumente des Augenscheins. Der geniale indische Mathematiker Ramanujan hat den Augenschein der Dinge bis in die Mathematik hinein auf den Punkt gebracht: „Eine Gleichung hat keinen Sinn. Es sei denn, sie drückt einen Gedanken Gottes aus.“¹
Was uns der Augenschein heute vorführt, das erscheint morgen oder später in einem anderen Licht. Aus einer Wahrheit wird eine andere. Ist die andere und neue Wahrheit eine höhere, dann muss sie die vorangehende einschließen und erklären. Solche Erkenntnis- und Wahrheitsprozesse haben kein Ende, denn sie sind Prinzip. Die so stattfindende Veränderung des schauenden Menschen führt dazu, dass dieser irgendwann nicht mehr die Dinge in den Vordergrund stellt sondern die Prinzipien, die alles beherrschenden Archetypen, auf deren Grundlage die Prozesse stattfinden.²
Wie der sich verändernde Augenschein die Weltsicht verändert, das haben wir im großen Maßstab an der kopernikanischen Wende beobachten können. Vor den theoretischen Entdeckungen des Kopernikus, glaubte man, an einen Weltenbau, den jeder Normalbürger augenscheinlich nachvollziehen konnte: Das gesamte Universum drehte sich um die Erde und somit im Grunde um den Menschen.
Kopernikus war ein Theoretiker, der genauer hinblickte. Er fand Widersprüche in der bestehenden Theorie. Ihre 40 verwirrenden Kreisbahnen (Epizykel) konnten ihn nicht befriedigen. Kopernikus war getrieben von der Suche nach einer klar erkennbaren, einfachen Struktur des Universums. Am Ende fand er ein schlüssigeres Weltbild, in dem nicht die Erde im Mittelpunkt des Universums stand, sondern die Sonne.
Die im Nachhinein absurd erscheinende Tragik des Geschehens war, das die neue, kopernikanische Theorie noch lange Zeit zu schlechteren Berechnungen führte als die durch die Vielzahl von Epizykeln inzwischen besonders ausgefeilte alte Theorie. Die Erfahrung der Praxis schien dem alten aristotelischen Weltbild zuzusprechen. Aus der Sicht der Wahrscheinlichkeit hätte Kopernikus scheitern müssen. Es kam anders.
Die Geschichte ging weiter und heute sind wir – wie die damaligen Vertreter des Ptolomäischen Weltbildes – davon überzeugt, dass wir zumindest die Realität der Bewegung der Gestirne endgültig erfasst haben. In Wirklichkeit sind wir nur einen Schritt weiter und haben zum vergangenen Standpunkt den Gegenstandpunkt eingenommen. Die neue Polarität lautet:
Alte Wahrheit: Dem Gesichtssinn nach schienen sich alle Objekte des Universums
um die Erde zu drehen.
Neue Wahrheit: Nach dem mathematischen Augenschein war es nun eindeutig die
Sonne, um die sich alles drehte.
Im Rausch des Neuen sah man noch nicht die notwendig dritte und verbindende Wahrheit, die es nach dem Gesetz der Trias immer gibt. Nach ihr sind beide Weltsichten war. Die Sonne ist nicht der letzte Fixpunkt des Universums. Auch sie dreht sich um einen weiteren Mittelpunkt und dieser sich wieder um einen anderen, usw. Der Mensch aber, der dieses alles beobachtet und dessen Augenschein die Weltsichten prägt, bleibt immer der Mittelpunkt der Betrachtung.³
Das erweiterte Weltbild des Kopernikus und Galilei erklärt das bis dahin herrschende. Das ist, wie oben bereits erwähnt, auch notwendig, wenn es wirklich ein höheres ist. Die Menschen leben auf einer Ebene und bestellen ihre ebenen Äcker. Auf dieser ihrer alltäglichen Vorstellung bewältigen sie ihren Alltag ohne die Bedenken, womöglich von der runden Erde herunter zu rutschen. Die alte Vorstellung von der Welt wurde nur „relativ relativiert“. Der Ackermann und der Naturwissenschaftler handeln vorherrschend auf der Basis des alten Weltbildes. Es prägt den Alltag und macht ihn in unserem Augenschein möglich.
Wer aber über diesen Augenschein hinausgeht, der begibt sich auf eine Reise, an deren Ende die Dinge zugunsten der Prinzipien weichen. Dabei sind alle Prinzipien Bewegungsprinzipien. Die Bewegung an sich, das Symbol der Trinität erlangt höchste Bedeutung.
Mit dem kopernikanischen Weltbild bewegt sich nun nicht nur die Erde. Es bewegt sich vor allem – hier in seiner Bedeutung noch unerkannt – vor allem auch der Mensch, der auf dieser Erde ist. Er wird bewegt und muss sich bewegen, weil die Bewegung selbst das Gesetz der Gesetze ist.
Wenn die Bewegung (3) das prägende Gesetz ist, dann dürfen wir nicht mehr nur auf die Dinge schauen, sondern auf die Bewegung in und durch die Dinge. Die Konsequenz wird besonders deutlich, wenn wir unsere heutige Physik anschauen. Wir haben die Newtonsche Physik der Dinge inzwischen überwachsen und die Quantenmechanik entwickelt, welche die Vorstellung von Dingen in der gewohnten Weise nicht mehr zulässt und doch sprechen wir von Partikeln, welche die Welt ausmachen. Wären wir konsequent, dann würden wir nicht primär die Dinge voraussetzen, welche dann sekundär bewegt werden, sondern würden viel mehr die Bewegung voraussetzen, aus welcher dann die Dinge hervorgehen. In den uns eingeborenen Parametern Raum und Zeit müssten wir konstatieren:
Am Anfang ist die Bewegung. Aus ihr gehen die Expansionen Zeit und Raum hervor. Weg (Raum) und Zeit führen nicht zur Bewegung, wie uns das die „Formel der Bewegung“ (Bewegung ist gleich Weg pro Zeit), sondern aus der Bewegung entstehen erst der Weg und die Zeit!
Haben wir diese Hierarchie einmal erkannt, dann bleibt vor allem noch die spannende Frage nach den Prinzipien der Bewegung und ihrer Ordnung.⁴ Am Ende sollten wir beantworten können, welches Bewegungsprinzip der Mensch (5) ist und wie er die Welt (4) sehen muss, um sein Bewegungsprinzip (6) erfüllen zu können.