Johannes kennt 3 Kreuzesworte und ist doch in der Reihe der Evangelisten ein Vierter. Um die Erlösung dieser Spannung zwischen dem dritten und vierten Archetyp, die vom Individuum (5) vollzogen werden muss, geht es im Johannesevangelium.
Als ein Vierter abstrahiert Johannes einerseits die Dinge und Ereignisse noch weitreichender als das schon Lukas, der Dritte getan hat. Andererseits manifestiert Johannes seinem Archetyp entsprechend als Vierter eine neue und konkrete Ebene des Daseins. Während die Perspektive des Lukas vorwiegend von der Neutralität der Dinge und Ereignisse bestimmt wird, muss sie von Johannes nun auf einer neuen und höheren Ebene konkret manifestiert werden und zwar in einer Weise, die all den Erdexistenzen eine Zukunft eröffnet. Nur so kann das durch die Vier zur Erscheinung kommende «Gesetz der Addition» erfüllt werden. Die Erzählung des Johannes vergisst, verachtet oder ignoriert keine der vorangehenden Qualitäten. Sie versucht nicht, sie aus der Welt zu schaffen. Die Herausforderung des vierten Evangeliums besteht darin, sie auf einer höheren Ebene zur Erscheinung bringen (s. I-II / 1-4 Dreiecke /als PupUPFenster gestalten). All das kann nur durch eine veränderte Sichtweise auf die Zwei, den Zwist, den Widerspruch und die falschen Angebote im Leben geschehen.
In der profanen Welt führt die Kreuzigung Jesu zu großen Wunden. Die umfassen wiederum drei Dimension. Die einfachste und besonders ergreifende ist die der Mutter Maria, die den Tod ihres Sohnes vor Augen hat. Das ausgerechnet sie das Gesetz der Vier und die in ihm verborgene Vollkommenheit verkörpert und somit ein Symbol für den gewandelten Blick auf die Zwei und den Zwiespalt eröffnet, das kann ein unwissender Leser nicht erfassen. Die Kunst transportiert das in Maria verborgene Wissen immer wieder, indem sie die ewig fruchtbare Mutter auf dem Mond, dem Symbol für die Zwei und auf der Vier in Form der konkreten Erde stehend, abbildet.
Über dem Leid der Erde, der Substanz und der Maria steht die zweite Daseinsdimension, verkörpert durch den leidende Jesus. Wiederum darüber steht die dritte und höchste Dimension, die göttliche. Sie entsteht in der Vorstellung von einem Höchsten und der Vorstellung, das Vollkommene im Bewusstsein des Individuums auch realisieren zu können und somit zu manifestieren.
Im vierten Evangelium besteht die Aufgabe Jesu dank seines besonderen Bewusstseins darin, eine neue Realität zu manifestieren. Sie betrifft alle drei genannten Dimensionen. Die drei von Johannes überlieferten Kreuzesworte ergreifen sie und setzen sie manifest ins Bild. Im ersten Kreuzeswort gibt Jesus der zurückgelassenen Mutter einen neuen Sohn und im Gegenzug „seinem Jünger, den er liebte“ eine neue Grundlage, eine neue Mutter (Joh 19,26f).
Sein zweites Kreuzeswort betrifft den zwischen Himmel und Erde ausgespannten Jesus direkt. Wie alles Lebendige erlebt auch er den lebensnotwendigen Mangel. Wie jedes Lebendige versucht auch Jesus diesen Mangel durch das Aufnehmen des ihm Fehlenden auszugleichen. Auch hier wird Johannes sehr konkret und anschaulich. Jesus artikuliert den Mangel in Form seines „Durstes“.⁴ Die Ursache seines Leidens besteht darin, dass ihm die Erfüllung im Geist fehlt. Der ihm zur Vollkommenheit fehlende Geist ist nicht der des Profanen wie beispielsweise der Geist des Weines, obwohl schon der ein Kulturgut ist (s. NOAH der Weinbauer, der Ersterbauer eines Altars). Nicht der reine Weingeist und auch nicht seine zwei Varianten, der mit Galle (Matthäus) oder der mit Myrrhe (Markus) versehene verkörpern das im Bewusstsein Fehlende. Der fehlende Geist ist von einem höheren Reifegrad, einem Reifegrad der aus der Erdenperspektive wenig oder selten schmackhaft erscheint. Es ist der «ausgegorene Wein», der Essig. Den bekommt Jesus und er bekommt ihn wunderbarer Weise sogar von den Profanen gereicht. Dass im Reichen des Essigs eine neue Daseins-Dimension angesprochen wird, welche die linearlogische übersteigt, erzählen die in diesem Zusammenhang genannten Utensilien, die Schale, das Rohr und der Schwamm (s.o. „Das «Sterben» von Jesus am Kreuz im «rechten Geist» und die Bedeutungen von Wein, Galle, Myrrhe, Essig, Schwamm und Rohr“). Sie alle verkörpern eine Linearität, bergen in Wirklichkeit, d.h. in ihrer Wirkung jedoch eine höhere Dimension.
Das dritte und letzte von Johannes übermittelte Kreuzeswort ergreift das denkbar Höchste, die Vollkommenheit. Hier vollbringt Jesus das größte aller Wunder. Er bringt die denkbar größten Extreme zusammen. Er überwindet die Urspannung, welche sich zwischen dem Archetyp der Einheit und dem der Zweiheit auftut, um deren Verstehen und Erlösung jede Religion ringt. Kurzum: Selbst das Höchste, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, die Einheit, Ganzheit und Vollkommene bedarf der Zweiheit, des Anderen und einst Verschmähten. Ohne jenen Archetyp der Zwei zu würdigen und zu erhöhen, kann auch die Vollkommenheit nicht gedacht werden. Der Leistungserbringer ist ein verbindlich handelnder Dritter – der Menschen- und Gottessohn Jesus Christus.