Der KORAN und seine Zahlenstruktur
Der KORAN und seine Zahlenstruktur von Michael Stelzner Inhaltsverzeichnis 1. Der Koran, eine linearlogische Niederschrift Der Begriff «Koran» bedeutet «das Gelesene». Was gelesen wird, das
Das Labyrinth und der rote Faden
von Michael Stelzner
Der Hellenismus hat wie keine andere Kultur die westlichen Kulturen geprägt. Das verführt, ihn auch als die Ur-Kultur der Europäer anzusehen. Unter dem Eindruck des Hellenismus wird immer wieder vergessen, dass die minoische Kultur der hellenistischen vorausging und wiederum deren Ur-Kultur ist. Die minoische Kultur ist so die früheste Hochkultur Europas.
Obgleich wir relativ wenig über sie wissen, bringen die wenigen auf uns überkommenen Symbole das Wesen der Kultur auf den Punkt. Der Aufsatz soll zeigen, dass das, was ihre Symbolik erzählt, die Botschaft der Einzelkultur übertrifft. Ihre Symbolik erzählt vom Wesen der Archetypen in denen sich nicht weniger als das Zentralgeheimnis der Religion an sich verbirgt. Vorwegnehmend soll gesagt sein, dass es sich um das wahre Verständnis des Wesens der Polarität alias das der Zweizahl geht.
Die Anfänge der minoischen Kultur reichen weit ins 3te Jahrtausend v. Chr. zurück. Die sogenannte frühminoische Phase verläuft somit parallel zur 1ten bis 4ten Dynastie der Ägypter.¹ Da die Archäologen viele Ähnlichkeiten zur ägyptischen Kultur fanden, lag eine frühe Vermischung von Mensch und Kultur nahe. Modernen DNA-Analysen schlossen aber wider Erwarten eine Verwandtschaft beider aus. Das macht die Parallelität der Kulturen für die Archäologen noch geheimnisvoller. Dass die Gemeinsamkeiten auf der Existenz von Archetypen und von ihnen geprägten Zeitqualitäten basieren, wird wegen fehlenden Wissens über solche aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht in Erwägung gezogen. Tatsächlich aber beruht der minoische Kult auf dem reinen Nachvollzug archetypischer Verhältnisse. Das teilen die minoische und die altägyptische Hochkultur miteinander. Allein im Wissen um die ersten neun Archetypen und ihre gegenseitigen Beziehungen lassen sich die Geheimnisse der Pyramiden zu Gizeh ebenso entschlüsseln wie die Kulte und Mythen der Minoer. Während die Ägypter im Bau der Pyramiden das pythagoreische Wissen über die Zahlenarchetypen 3, 4, 5 und 6 niedergelegt und so für lange Zeit konserviert haben, bestechen die minoischen Bilder und Erzählungen durch ihre noch tiefergehende Einfachheit und Direktheit, denn sie thematisieren das Urverhältnis aller Verhältnisse, die Beziehung des archetypisch Zweiten (2) zu dem ihm vorangehenden und regieführenden Ersten (1). Aus jener Einfachheit und Klarheit formulierten sie ein Orientierungswissen, das im umfassenden Sinn «einsichtig» ist. Die Einsichtigkeit ist keine linearlogische. Sie widerspricht meist sogar der einfachen linearen Logik, lässt diese aber in ihrer Fehlerhaftigkeit und Beschränktheit bestehen. Kurzum: Sie tötet das «Andere» nicht, sondern nutzt es, um zu höherem Wissen und zur Weisheit zu gelangen.
Die der ägyptischen und minoischen Kultur und Religion jeweils folgenden Schrift-Religionen bauen auf ihnen auf und entfalten die in ihnen erzählte Lehre von den Archetypen. Deren neue Vielfalt macht es allerdings zunehmend schwer, die archetypischen Grundelemente zu erfassen, die in ihrer relativen Reinform nur noch im jeweils benutzten Alphabet erkennbar sind oder wie bei den abrahamitischen Religionen nur einmal als sogenannte Genesis der sodann folgenden Schriftflut vorangestellt sind.
Die Einfachheit und Klarheit der Bilder und Erzählungen ist offensichtlich auch der Grund, weshalb sich die Kultur der Minoer ähnlich lange wie die der Ägypter erhalten hat, was die Historiker immer aufs Neue erstaunt.
Die Leistungen der Minoer waren erstaunlich. Das zeigen uns nicht nur ihr kunstvoller Schmuck oder ihre prachtvollen Fresken, die wir im Palast von Knossos auf Kreta bewundern können. Es sind vor allem die uns heute noch zu wenig bekannten sozialen Verhältnisse, die erstaunen sollten. Bei den Minoern finden wir die ersten europäischen Schriftzeichen. Sie benutzten parallel zueinander zwei Schriftsysteme, eine Hieroglyphenschrift und eine für merkantile Ziele bzw. die sogenannten Schriften «Linear A» und «Linear B». Wie man heute weiß, ist die «Linear B» eine sehr frühe altgriechische Schrift. Die Schrift «Linear A» hingegen konnte bis heute nicht entziffert werden.
Die geistige Konstitution der Kultur brachte nicht nur talentierte Baumeister hervor, die Straßen, weitläufige Wasserleitungen, Kanalsysteme und mehrstöckige Paläste erbauten. Es war der Geist der Minoer, der das alles möglich machte. Die Legende von der «Befreiung von der verhängnisvollen Piraterie der Meere» bringt ihn inhaltlich auf den Punkt. Tatsächlich hat die Forschung dafür keinerlei Beweise gefunden. Man kennt nicht einmal irgendein Schiff der Minoer, obwohl sie über eine große Flotte verfügt und einen blühenden Seehandel gehabt haben sollen. Hier gilt wohl: Die Erzählung selbst ist die Botschaft. In jedem Fall gab es ein wohlorganisiertes Gemeinwesen, das der archetypischen «Urbeziehung 1—2» folgte, wo immer es ging. Das bekunden beispielsweise ihre zentralen religiöse Symbole, der heilige Stier und die Doppelaxt. So sehr wir heute darüber erstaunt sind, so selbstverständlich wurden die Frauen in der Gesellschaft der Minoer hoch geachtet. Sie nahmen wichtige soziale Positionen ein, selbst die von Priesterinnen.
Abb. 1 Die heiligen Symbole der Minoer sind die Doppelaxt, der Stier und das Wesen der Priesterin im Bild der Schlangengöttin
Folgt man dem griechischen Geschichtsschreiber Diodor (1tes Jh. v.Chr.), so gab es zwei Könige von Kreta mit dem Namen Minos, Großvater und Enkel. Aber erst der Enkel, «der zweite» Minos hatte die Pasiphae zur Gemahlin genommen mit der das Schicksal seinen offensichtlichen Lauf nahm. (s.u.). Das ist insofern von Bedeutung, da Diodor damit das Wesen der Zwei zum Ausgangspunkt seiner Erzählung macht und so den stets vorhandenen aber meist verborgenen «Zwist» zur Anschauung bringt. Von ihm erzählt die Metapher vom «Labyrinth des Lebens». In ihm verfängt sich ein jeder immer aufs Neue, auch Könige, Halbgötter und sogar die Götter selbst.
Der Mythos erzählt aber vor allem auch vom «Faden der Ariadne», der aus dem totbringenden Labyrinth wieder heraus ins Leben führt. Das Geheimnis liegt vorwegnehmend in der «Rückbindung» allen Geschehens an den Ursprung allen Seins, an die Einheit und Ganzheit. Um das Lüften dieses Geheimnisses bemüht sich jede Religion.
Minos war ein weiser König. Doch auch er war an die Zweiheit und Polarität gebunden, aus der jede Existenz ihr Dasein bezieht. Seine Weisheit bestand darin, zu wissen, dass die Zweiheit, das Kleine und scheinbar Nachrangige im Dienst der Einheit steht und dass das mit dem sogenannten Anderen und dem Zweigeteilten verbundene Opfern ein göttliches Prinzip ist. Dieses einfachste Wissen ist zugleich das höchste Wissen. Es ist ein göttliches Wissen und so war Minos von göttlichem Blut, denn er war der Sohn des Göttervaters Zeus und Europa, einer phönizischen Prinzessin. In ihm wirkte sowohl das Göttliche als auch der «Adel der Substanz». Der Mythos erzählt deshalb, dass Zeus die edle Europa in Gestalt eines Stieres entführt hatte, denn der Stier repräsentiert die Substanz in Form seiner mächtigen Erdenkraft.
Ein wahrer König wie Minos einer war, kennt die höchste aller Weisheiten und betrachtet das Eine und Erste mit dem Zweiten und Anderen als eine fruchtbringende Einheit. Das geläufigste Symbol für diese erste aller möglichen archetypischen Beziehungen ist der Stier, der in seinem Haupt die zwei ihn tragenden Hörner als ein Ganzes vereint. Zudem fiel zur minoischen Zeit der Frühlingspunkt in das Tierkreiszeichen des Stiers. Der Frühlingspunkt steht für den Anfang und doch ist das Tier, das ihn abbildet seinem Wesen nach zugleich ein Zweihufer und Wiederkäuer. Die zwei Merkmale symbolisieren im Verhältnis zum Anfang des Ganzen eine Urspannung, die das Bewusstsein des Menschen ständig herausfordert.
Die zentralen Symbole der Minoer stellen die zu einer Einheit zusammengefasste Polarität in drei Daseinsdimensionen dar. Die Doppelaxt erfasst als Werkzeug das Prinzip auf der Ebene von Funktion und Substanz. Der Stier erweitert das Symbol in die Dimension des Lebendigen hinein und die (Schlangen)Göttin erhebt es sodann in die Dimension des menschlichen Bewusstseins.
Der so veränderte und fruchtbringende Blick auf das Wesen des «Anderen» alias der «Zwei» deckt das weibliche Prinzip und sein Botschaft als Heilsbringerin auf. So war es nur eine Frage der Konsequenz, dass die Minoer Priesterinnen hatten. Sie besitzen das Wissen um das Labyrinth des Lebens und sie wissen, wie man durch rechtes Verhalten dem drohenden Tod entkommt. Das «Labyrinth» bedeutet wörtlich das «Haus der Doppeläxte». Will man den vom Labyrinth erzählenden minoischen Mythos auf den Punkt bringen, so erzählt er vom «Wirken der Doppelaxt».
Dem Mythos nach adoptierte, der einstige «Sternen-König» von Kreta Asterios den (zweiten) Minos und seine zwei Brüder (s.o.). Nach der gleichen Erzählung soll er auch der Gemahl von Europa gewesen sein. Das setzt ihn wiederum mit dem zweiten König Minos, dem Enkel des ersten Minos gleich. Dass der König darüber hinaus auch noch den Namen Asterios trägt, der zugleich der eigentliche Geburtsname des späteren Minotaurus ist, eröffnet einen anderen und zweiten Blick auf den König im Allgemeinen und auf das Wesen des Minotaurus im Speziellen. Es geht hier um nicht weniger, als darum, zu thematisieren, dass auch im weisesten König das Zweite und Zwiespältige existiert und wirkt. Der Mythos vom Labyrinth baut auf den Gegensatz auf, ergreift aber Partei und lässt ihn darin gleich wieder ein Stückweit zurücktreten. Das ist notwendig, denn der Mythos beschreibt einerseits die Allgegenwart der Zwei und des Zwists und andererseits ein Verhalten, dass es dem Betrachter möglich macht, den rechten Platz der Zwei im Gefüge der Ordnung zu erkennen. In ihr aber führt die Einheit und Ganzheit die Regie.
Die so am Anfang aller Existenz stehende Spannung (2) schlägt sich auf vielen Ebenen des Mythos nieder. Die Namensdifferenz des ersten Königs, die Zweizahl der Könige Minos und der Zwist der Königsanwärter erzählen davon. Letzterer eröffnet den Mythos, denn die eigentliche Erzählung vom Labyrinth beginnt mit der Frage, wer denn die Nachfolge des Königs antreten werde. Sie entzweit die Brüder, die ihrer Geburt nach dennoch eine Einheit sind.
Welcher von den drei Brüder Minos war, wird nicht gesagt. Jedenfalls bat Minos den mächtigen Meeresgott Poseidon um Hilfe. Der stand ihm zur Seite und schickte ihm einen prächtigen, weißen Stier, dessen Opferung die Frage entscheiden sollte. Doch Minos verfehlte die rechte Antwort. Ihm gefiel das Tier so sehr, dass er ein anderes Tier opferte. Götter aber sind Prinzipien, denen man sich nicht – ohne die angemessenen Konsequenzen in Kauf zu nehmen – entziehen kann. Versucht man es trotzdem, manifestiert sich der göttliche Wille auf andere und nun verdeckte Weise in einer niederen Dimension. Weil Minos den weißen Stier nicht geopfert hatte, belegte Poseidon seine Gemahlin Pasiphae mit dem unwiderstehlichen, tierischen Verlangen, sich mit dem Stier zu vereinen.
Es kam, wie es kommen musste. Pasiphae wurde durch die oben beschriebenen Umstände in das schreckliche Abenteuer mit dem Stier regelrecht hineingerissen. Sie schreibt einerseits das durch König Minos herbeigeführte Schicksal fort, hat andererseits aber eine eigene Biographie mit der sie es erfüllt. Auf diese Weise sind die zahlreichen Mythen miteinander verwobenen und machen Strukturen sichtbar, die den von Fraktalen ähneln.
Pasiphae bedeutet «die allen Leuchtende». Sie ist eine Tochter des Sonnengottes Helios und der Perse, einer der vielen Okeaniden, die vom ersten und stärksten Titanen (Riese), dem Okeanos abstammen. Als Tochter des Sonnengottes und des Riesen in Menschengestalt ist sie unsterblich und der Magie mächtig. Das machte es ihr möglich, dem Tun ihres Gatten Minos wirkungsvoll entgegenzuwirken. Das erschien ihr notwendig, denn Minos hatte ungezählte Liebschaften, die sie immer wieder mit dem Hervorbringen abstoßender tierischer Wesen in seinem Samen vereitelte. Trotz ihrer tiefen Herkunft aus der Welt der Titanen hat Pasiphae auch starke göttliche Wurzeln. Mütterlicherseits ist sie die Enkelin des Sonnengottes Helios und väterlicherseits die Enkelin des Göttervaters Zeus. Sie hatte mit Minos acht Kinder. Gleichwohl führte sie mit dem viele Liebschaften unterhaltenen Minos eine unglückliche Beziehung und lebte folgerichtig im Dauerstreit mit der Liebesgöttin Aphrodite.²
Die Spannung zwischen Pasiphae zu Aphrodite bekommt im Mythos vom Minotaurus Nahrung. Pasiphae gibt ihrem Verlangen Raum. Das aber ist ein reduziertes, d.h. ein linearlogisches Verlangen, das nicht dem anspruchsvollen Wesen einer Aphrodite gleichkommt. An der Verwirklichung der ungebührlichen Vereinigung war Dädalus, ein Genie und Erfinder maßgeblich beteiligt. Das Genie vermochte durch das Beherrschen ausgefeilter Techniken scheinbar jede irdische Aufgabe zu lösen. Sein Gelingen macht Eindruck, wird aber durch die Anwendung einer linearlogischen Kunst getragen. Die macht immer zugleich auch die irdischen Grenzen sichtbar. Und doch macht es die Kunst des Dädalus ein Stückweit möglich, vertikale Grenzen zu überwinden, wie es die legendäre Verbindung von Pasiphae und dem schönen Stier zeigt. Die erzwungene Verbindung von Tier und Mensch bringt die herrschende Sitte und Ordnung durcheinander. Die mechanische Verbindung von Rind und Frau, von Ackerkraft und Geist bringt kein Glück. Und doch bewerkstelligte sie Dädalus im wörtlichen Sinn, denn er baute eigens zu diesem Zweck ein hölzernes Gestell und überzog es zur Täuschung des Tieres mit der Haut einer Kuh. Die aus der unangemessenen Begegnung hervorgegangene Leibesfrucht war Minotaurus, ein menschenfressendes Ungeheuer dessen menschlicher Körper das Haupt eines Stiers trug. Seine Symbolik verrät sein Wesen und sein Wirken. Nicht der Geist des Menschen beherrscht das Tier, sondern der Geist des Tieres steuert den menschlichen Körper. Die Gestalt kehrt die bekannte göttliche Ordnung für alle sichtbar um.
Für die Öffentlichkeit war dieses Wesen eine Schande. Pasiphae wollte im Gegensatz zu Minos das Ungeheuer nicht am Leben erhalten. Einige Erzählungen berichten, dass seine Tochter Ariadne ihn darum gebeten hat. Jedenfalls baute Minos eigens für den Minotaurus – wiederum mit dem Können des Dädalus – das Labyrinth. In ihm konnte er das Ungeheuer vor der Öffentlichkeit verstecken. Obwohl Dädalus das Labyrinth auf sehr einfache Weise konstruiert hatte, fand das von einem Stierkopf regierte, menschenfressende Wesen aus ihm nicht mehr heraus. Das Labyrinth des Dädalus bestand, wie es die Abbildungen zeigen, aus einem einzigen, nicht verzweigten aber in wechselnden Richtungen gewundenen Gang. Schon die wechselnden Richtungen überforderten das Tier.
Der im Labyrinth versteckte Minotaurus musste zum Schrecken der Beteiligten nun aber mit immer neuen Menschenopfern versorgt werden. Die neue Situation veränderte auch das Wesen des ersten und einstig weißglänzenden Stiers, den Minos zum Opfer von und für die Gottheit empfangen hatte. Der göttliche Stier entwickelte sich zu einem wilden, Zwiespalt verursachenden Wesen und richtete im Lande großen Schaden an. Der Held Herakles war es, der half. Er verbrachte das Tier von Kreta auf das Festland nach Argos und ließ es dort laufen. Durch die Hilfe des Helden waren das Problem und die Schäden vorerst in die Ferne verlagert.
In anderen Versionen wird erzählt, dass dem Herrscher und König die Macht entklitt und dass er seinem starken, mykenischen Nachbarn im Norden zu Hilfe gerufen habe. So unterschiedlich die Erzählungen auch erscheinen mögen, sie berichten alle vom Zusammenfinden der scheinbaren Gegenpole. Jene Wirkmacht erfasst den eigentlichen Kern der minoischen Kultur.
Der sich in ein wildes Tier verwandelte, einstige weiße Stier wütete auch an seinem neuen Ort weiter und verwüstete in vier attischen Gemeinden in der Ebene von Marathon das Land. Um sich von dem Tier zu befreien, schickte Aigeus, der König von Athen einen Prinzen in den Kampf, der darin seine Geschicklichkeit zu erproben suchte. Der marathonische Stier tötete den fremden Prinzen. Da es sich hierbei um Androgeos, einen Sohn des Minos handelte, wurde Athen schicksalhaft an dessen Tod schuldig.
Minos war erzürnt und zog aus Rache gegen Athen. Auch diesmal konnte er den Kampf nur wieder durch die Anrufung eines Gottes, diesmal des Zeus, gewinnen. Die Kreter unterwarfen Athen und auferlegten ihm einen hohen Tribut. Neben der Last wurde das Land wegen des Frevels an Androgeos auch noch von Krankheiten und Hungersnöten heimgesucht. Um das zu beenden, schickte Athen Abgeordnete nach Kreta. Sie sollten Minos um Vergebung für ihr Fehlverhalten bitten. Die Minoer nahmen die Abbitte unter der grausamen Bedingung an, dass alle 9 Jahre 7 Jünglinge und 7 Jungfrauen von Athen ins Labyrinth von Knossos zum menschenfressenden Minotaurus gebracht werden mussten. Deren Auswahl war dem Los in Athen anheimgestellt.
Hier kommt nun ein fremder und zweiter Prinz ins Spiel, nämlich der einzige Sohn des Königs Aigeus, der Prinz Theseus. Als Sohn des Königs sah er im Schicksal seines Landes sein eigenes Schicksal und in ihm seine Aufgabe. Zunächst zog er aus und brachte den einst weißen und nun schlimm wütenden Stier zur Strecke. Er überwältigte das Tier, stellte es in Athen für alle Beteiligten sichtbar zur Schau und opferte es schließlich dem Sonnengott Apollon. Über diesen Umweg wurde der kretische und nun marathonische Stier, wie es sein Schicksal einst vorsah bewusst ein Opfer für die Gottheit.
Das überfällige Opfer war aber nur ein Anfang, eine Vorbereitung auf das Töten eines viel gefährlichen Stiers, nämlich dem aus zwei Wesen bestehenden Minotaurus. Der symbolisierte die zweite Generation des von Anfang an herrschenden Zwiespalts. Jetzt war es an der Zeit auch einen Ebenenwechsel im Hinblick auf die Befreiung der Athener von den hohen Tributzahlungen an die Kreter zu vollziehen.
Als zum dritten Male wieder Abgeordnete des Königs Minos kamen, um die 7 Jünglinge und 7 Jungfrauen abzuholen, die der menschenfressende Minotauros alle 9 Jahre bekommen sollte, um sein Überleben zu sichern, nahm Theseus das Schicksal in seine Hand. Mit jenem «dritten Mal» fand ein Wechsel der Ebenen statt.³ Theseus eröffnete eine neue Dimension des Zwiespalts bei dem das verbindende Dritte, die Liebe die Regie übernimmt. Dafür sorgte niemand anderes als Aphrodite, die Göttin der Liebe. Sie gab dem Königssohn einen Orakelspruch mit auf dem Weg. Theseus zog sogleich freiwillig mit den potentiell zweimal 7 Opfern nach Kreta. Sein Vater, König Aegeus konnte nichts gegen solchen Willen einwenden. Seine einzige Handlung bestand darin, das stets schwarze Segel tragende Trauerschiff mit zusätzlichen weißen Segeln auszustatten. Sie sollte Theseus bei seiner Rückkehr aufziehen lassen. So hätte der Vater frühzeitig das Überleben seines Sohnes erkennen können.
Auf Kreta angekommen begegnete Theseus der Sohn Aigeus der hübschen Ariadne, der Tochter des Minos. Hier begegnen sich die gegnerischen Reiche nunmehr in Form der zweiten Generation.⁴ Abbildungen auf Vasen zeigen, dass Ariadne gerade beim «Spinnen von Fäden» ist. Sie verliebt sich sogleich in den Jüngling und will dessen bevorstehendes Schicksal, vom Minotaurus getötet zu werden, nicht hinnehmen. Tatsächlich beenden die beiden Königskinder Ariadne und Theseus auch die Existenz der abartigen Geburt.
Ariadne gab Theseus dazu zwei scheinbar sehr unterschiedliche Dinge, ein Schwert und einen Faden. Beide Hilfsmittel haben eine Gemeinsamkeit. Sie sind Symbole für das wahre Wesen der Zwei. Sie symbolisieren in zwei unterschiedlichen Bildern, die aus ihm sich erhebende Verbindungsfunktion. Mit dem Schwert vermag Theseus den Minotaurus zu töten und mit dem «hoch am Eingang» des Labyrinths befestigten Faden findet er anschließend aus selbigen wieder heraus.
Nach gelungener Tat flohen Ariadne und Theseus auf die Insel Dias, die später den Namen Naxos erhält. Zuvor aber zerstört Theseus auf Rat der Ariadne die Böden aller anderen Schiffe, damit Minos die Zwei nicht verfolgen kann. Der König Minos bleibt machtlos, wie auch der König Aigeus machtlos blieb.
Auf Dias erscheint dem Theseus in der Nacht der Gott Dionysos und erhebt Anspruch auf die ihm offenbar zugehörige Gattin Ariadne. Dem Gott und dem Umstand nicht widersprechend zieht Theseus mit schwerem Herzen und in gleicher Nacht weiter gen Athen, während Ariadne noch schläft. In seiner Verwirrung verfehlt Theseus die ihm von seinem Vater übertragene Pflicht, denn er vergisst, die weißen Segel bei seiner Rückkehr zu setzen. König Aigeus wartet voller Bangen um seinen einzigen Sohn am anderen Ufer auf einem Felsen sitzend auf ein Zeichen des Lebens. Als er die schwarzen Segel erblickte erhob er sich und stürzte sich im Schmerz über das Geschehene ins Meer, das seit dem das Aigäische Meer genannt wird.
Der Mythos beginnt mit einem Fehler des Königs und nimmt seinen Lauf. Da es sich um den Fehler eines weisen Königs handelt, lässt darauf schließen, dass es ein unvermeidbarer und somit ein gottgewollter, ein göttlicher Fehler ist. Es geht also nicht um das Spezifische des Fehlers, sondern um das Prinzipielle des Fehlerhaften (2), das unvermeidlich zur Dynamik (3) wird. Man kann auch archetypisch sagen, die Zwei wird unvermeidbar zur Drei. Die übersteigt die vorangehende Dimension und eröffnet immer wieder neue. Der Fehler des Minos war kein solitärer, sondern ein der Ordnung immanenter «Fehler». Alle am Mythos beteiligten Subjekte, Mensch, König oder Gottheit haben ihre eigenen Profile, welche das unauflösbare Ganzen auf ihre Weise sichtbar machen. Gewinnt man einen Überblick, so erweist sich die mythologische Struktur als eine fraktale Struktur, die von allen möglichen Seiten immer das Eine und Ganze zur Anschauung bringt. Um das zu zeigen, werde ich im Nachfolgenden nochmals das Wesen von Ariadne und Theseus beleuchten, die eine zweifache Dynamik (siehe 3+3 = 6) aufzeigen und so das Wesen des Archetyps der Sechs ins Bild setzen. Im Mythos der Minoer geht es um die Notwendigkeit, die in ihm angelegte Polarität zu einer Einheit zusammenzuführen. Die inneren Widersprüche der Subjekte sind keine direkte und alleinige Folge des vordergründigen, physischen Fadens, dem sich der Mythos bedient.
Was den König Minos und die Symbole der minoischen Kultur angeht, habe ich dazu das Notwendige zum Urverhältnis der Zwei zur Eins bereits gesagt, denn es war die Voraussetzung, den Mythos in seiner Tiefe zu verstehen. In diesem Zusammenhang muss man auch die zwiespältig erscheinende Rolle der Pasiphae interpretieren. Erst das Zusammendenken aller Figuren kann schließlich das Symbol der Schlangengöttin und das des Labyrinths erhellen. Auch muss man den linearlogisch konstituierten Charakter des Dädalus verstehen, um den wahren Sinn des minoischen Rituals des Stiersprungs erfassen zu können.
Ariadne ist die Tochter des Königs Minos und der Sonnentochter Pasiphae. In allen Mythen um sie ist sie die ureigene Gattin des Dionysos, des Gottes des Rausches und des Genusses. Das zeigt die zwei Seiten der Ariadne. Sie ist ein sterbliches Mädchen und trägt doch den Namen einer Göttin.
Der Name Ariadne setzt sich aus zwei Namensteilen zusammen, aus «Ari» und «Hagne». «Ari-Hagne» bedeutet «die überaus Reine». Nicht nur der Name hat eine zweifache Wurzel. Ariadne hat auch einen zweiten Namen, denn sie wurde auch die «Aridela» genannt, was «die überaus Klare» bedeutet. Aus welcher Perspektive man auch schaut, wird ihr Verhalten stets von zwei jenseitigen Welten getragen, der unterirdischen und der himmlischen. Beide Wurzeln wirken positiv und fruchtbar. Auch wenn der Augenblick ihres Verhaltens zwielichtig erscheint, ist er es nur aus der Daseinsperspektive der Oberfläche heraus. Ariadne ist einerseits eine große Göttin und zählt andererseits durchaus zu den großen Sünderinnen. Immer wieder lässt sich ihre scheinbare Untreue feststellen und das sogar mehrere Dimensionen umfassend: Sie war ihrem Bruder, dem Minotaurus untreu, denn sie half dem Theseus, ihn zu töten. Sie war ihrem Vater Minos gegenüber untreu, denn sie floh vor ihm aus der Liebe zu Theseus, und sie war offenbar auch ihrem eigentlichen Gatten Dionysos gegenüber untreu. In Wirklichkeit aber speist sich das Verhalten der Ariadne aus mehreren Dimensionen, was ihr aus der Sicht der anderen Dimensionen immer wieder das Urteil der Untreue einbringt. Karl Karényi sagt, die Ariadne sei als die «Unterirdische rein» und als die Himmlische klar», was wohl ihre Mehrdimensionalität gut umschreibt.
Das Wesen der Ariadne übersteigt die profane Daseinsebene nach «oben» und nach «unten», also in zwei Richtungen. Im minoischen Mythos kommen ihre beiden Anlagen zur Wirkung. Erkennt man erst einmal ihre Doppelanlage, dann erblickt man sie auch in ihrem Bruder, dem Minotaurus. Er ist königlicher Herkunft und hat doch wie jeder König zwei Seiten. Im Unterschied zu seiner Schwester ist sein Zwiespalt augenscheinlich. Der spezielle Mythos vom Labyrinth spricht ihn vornehmlich mit dem Namen Minotaurus an, der ihn als Ungeheuer zur Erscheinung bringt. Sein Geburtsname hingegen ist «Asterios», was «Sternen-König» bedeutet, welcher nach dem Geschichtsschreiber Diodor zugleich der Name jenes Königs von Kreta war, der den zweiten Minos (s.o.) adoptierte und um den sich der Mythos entfaltet.
Ariadne besitz die Fähigkeit zu spinnen. Das zeigen Abbildungen auf Vasen. Indem sie spinnt stellt sie einen Faden also eine Linearität her. Als die Schöpferin des Fadens weiß sie zugleich, wie man das Lineare mit Gewinn auf- und wieder abrollt und etwas vollbringt, was die anderen, welche die Kunst nicht beherrschen, unmöglich erscheint. Ariadne weiß um die Existenz der unterschiedlichen Dimensionen und ihr Potential, das sich im linearen und aufgewickelten Fadenknäuel verbirgt. Sie entfaltet es in ihrer Liebe zu Theseus und verhilft ihm dessen Werk zu vollbringen. Neben dem passiv wirkenden Fadenknäuel übergab sie ihm auch noch ein magisches Schwert. Das befähigte Theseus zur Handlung. Mit dem Schwert konnte er den in der Mitte des Labyrinths sitzenden Minotaurus töten. Den Faden knüpfte Theseus nach der Anweisung der Ariadne an einer «hohen Stelle» am Eingang des Labyrinths an und rollte ihn nach und nach aus.
Das mehrere Dimensionen umfassende Wirken der Ariadne ist damit nicht beendet. Die sich Liebenden Theseus und Ariadne fliehen auf die Insel Dia. Hier kommt es zu einem neuen Bruch, denn Theseus ehelicht sie nicht, obwohl er ihr es versprochen hatte. Der Bruch hat einen guten, einen göttlichen Grund. Der in der Nacht erscheinende Gott Dionysos erweist sich als der eigentliche Gatte der Ariadne und fordert sein Recht ein. Der verstörte Königssohn verlässt in gleicher Nacht die Insel und lässt die schlafenden Ariadne zurück. Den «Bruch» und die «Untreue» muss man hier vor dem Hintergrund der höheren Dimensionen sehen, will man das Verhalten Theseus nicht fehlinterpretieren, was immer wieder geschieht. In Wirklichkeit unterwarf sich der Königssohn dem göttlichen Recht und erfüllte darin eine höhere Dimension. Dass auch diese keine Singularität ist und wie alles wiederum von der Zweiheit getragen wird, mit der eine eigene Fügung einhergeht, das erzählt das o.g. Schicksal des Aigeus.
Minos wusste um das wahre Wesen der Zwei. Diese höchste aller Weisheiten würdigend erbat er von den Göttern ein Tier, das diese Weisheit transportiert. Im Opfer konnte er sein Wissen den Göttern nahebringen, was aber nichts daran änderte, dass er nach wie vor den göttlichen Strukturen unterworfen war und dem Grad seines Bewusstseins entsprechend selbst Opfer wurde. Das «Gesetz der Götter» kann nicht umgangen werden. Es kann nur erfüllt werden. Der Irrgarten des Lebens verbildlicht jenes Verhältnis des Menschen zu seinen Gottheiten.
Das legendäre Labyrinth des Minos beschreibt insofern nicht ein Einzelschicksal, sondern das allgegenwärtige Prinzip des Lebens. Das hohe Wissen des Königs ist nicht gleichbedeutend mit dem Entkommen aus dem Labyrinth des Lebens, sondern die Voraussetzung, es zu verstehen. Der Name Minos bezeichnet deshalb nicht nur den einen oder nach Diodor die zwei Könige die unmittelbar den Namen Minos trugen. Vielmehr führte jeder der kretischen Könige ab etwa 2000 v. Chr. den Namen in Form eines Ehrentitels weiter, wohlwissend um dessen Urverfehlung um den weißen Stier, den Poseidon dem Meer entstiegen lies. Der Kult um Minos entfaltet die Erzählung vom Verfehlen an sich. Den Minoern führte er den rechten Blick auf den Zwist und Zwiespalt vor Augen, der von jedem Subjekt ein anderes, ihm angemessenes Verhalten fordert. Die Subjekte müssen sich dazu ihrer Konstitution bewusst sein, die archetypisch eine zweifache, d.h. eine polare ist, die das Höchste und das Niederste vereint. So darf man aus ätiologischer Sicht annehmen, dass gerade auch der Königsname Minos, den «Minor», Kleinere und vermeintlich Geringe zum Ausdruck bringen will.
Was im Allgemeinen das Labyrinth des Lebens ist, das verkörpert im anderen Maßstab der Palast des Königs. Der sogenannte «Palast von Knossos» hat den Charakter eines Labyrinths. Außergewöhnlich lange Korridore, falsche Eingänge und Räume, die oft erst nach vielen eigenartig wirkenden Wendungen erreicht werden, vermitteln das. Wer den Palast betritt, der bemerkt schnell, dass es keinen durchschaubarer Plan mit Symmetrien oder Mittelachsen gibt, wie man sie gewöhnlich in späteren Palästen vorfindet. Im Palast von Knossos verfängt man sich regelrecht in der Vielfalt irdischen Daseins.
An dieser Stelle ist es hilfreich, sich wiederholt die Gründe für die Verwirrungen in der Vielfalt der Dinge anzuschauen. Sie besteht im Wirken der Polarität, die zugleich zwei Dimensionen aufspannt, die horizontale und die vertikale, verkörpert durch das Wirken der Menschen und das Wirken der Götter. Die Menschen bedienen sich der ihr möglichen Logik, die in der Regel eine linearlogische ist und dem Muster des Zahlenstrahls folgt. Die Götter hingegen wirken aus einer höheren Dimension heraus und verlangen, auch die vertikale Polarität in Augenschein zu nehmen, welche die Griechen später mit dem Logos beschreiben, der soviel wie Zahl und Gesetz im Sinne des «Erzählten» bedeutet. Der Mensch aber beginnt den Weg seiner Bewusstwerdung auf linearlogische Weise. Auf ihm sammelt er Wissen an und lernt die Details seiner Welt zu beherrschen. Der Palast von Knossos und das berühmte Labyrinth sind Zeugen seiner erstaunlichen Leistungen. Für sie steht insbesondere der Name Dädalus. Dädalus war ein berühmter Kunsthandwerker und der Konstrukteur jenes hölzernen Gestells, das es möglich machte, dass sich Persiphae mit dem göttlichen Stier vereinen konnte. Auch das Labyrinth das den so verursachten Makel namens Minotaurus wieder aus der Welt schaffen sollte, war eine Konstruktion des Dädalus. Die Linearlogik des Menschen erscheint genial, endet aber stets an den Grenzen der Substanz, an denen der so denkende Mensch schließlich doch scheitert.
Ein anderer Mythos, der Mythos von Dädalus und Ikarus thematisiert die Tragik des notwendigen Scheiterns. Dädalus beherrschte als Erster sogar die Kunst des Fliegens und damit die Kunst, eine höhere Dimension zu erklimmen. Nach dem Dilemma um das entartete Königskind wurden Dädalus und sein Sohn selbst zum Opfer ihrer Kunst. Wegen des Todes des Minotaurus sperrte sie Minos in ihr eigenes Labyrinth ein. Doch konnte der geniale Konstrukteur mit seinem Sohn Ikarus dem Labyrinth entkommen. Die «zwei Generationen» erhoben sich über die Konstruktion, indem sie sich Flügel bauten und die Federn mit Wachs stabilisierten. Der Legende nach kam Ikarus der Sonne zu nahe. Das Wachs seiner Flügel schmolz und Ikarus stürzte ins Meer, das darauf hin das Ikarische Meer genannt wurde. Es war der Sohn des scheinbar genialen Dädalus, der auf die Substanz zurückgeworfen wurde, der er entkommen wollte. Ikarus war die Nachfolgegeneration, wie schon Minotaurus die Nachfolgegeneration des an sich ebenso genialen Königs Minos war.
Die Archäologen fanden direkt im Kultraum des Palastes von Knossos eine Statuette, die ersichtlich eine Göttin darstellt. Das auffällig triadische Muster ihre Gewandes, ihre entblößten Brüste und die eng gegürtete Taille sind in Verbindung mit den anderen archäologischen Funden offensichtliche Charakteristika der minoischen Epoche. Die Statuette ist in ihren Details archetypisch gerecht polar angelegt, führt als Ganze jedoch eindeutig zur Trias. Im Verstehen des Übergangs von der Zweiheit und Polarität zur Dreiheit und Dynamik allen Daseins löst sich der unvollständige und somit falsche und verhängnisvolle Blick auf das Zweite und scheinbar Minderwertige auf und schlägt in sein Gegenteil um. In der Verbindung der Archetypen Zwei und Drei erhebt sich der Archetyp der Sechs. Jenen Vorgang, in dem die (göttliche) Schlange, die sich scheinbar nicht aus ihrer Existenzebene erheben kann, schließlich doch aber die Weltsichten verändert, finden wir in vielen Urkulturen. In der christlichen Mythologie ist es die Paradiesschlange. Durch sie kommen die Menschen in die Pubertät. Ihr Vorbild findet sie im Gilgamesch-Epos, der Jahrtausende älter und wohl wahrscheinlich sogar das älteste Epos der Menschheit ist.
Die Schlange ist ein Symbol des Erhebens aus der Ebene der Linearität. Mit ihm entsteht das fraktal fortschreitende Dreieck, das wir im Bild der «Flussform der Zahlen» wiedererkennen. Die minoische Göttin trägt dieses Bild im Zentrum ihres Gewandes.
Abb. 2 Linearität und Polarität verfangen. Die Drei durchbricht sie und erhebt sich, analog der eigenartigen Fortbewegung einer Schlange.
Kommt der nach Bewusstsein strebende Mensch mit der sich für ihn auf unbegreifliche Weise fortbewegenden Schlange in Kontakt, dann stößt er an seine Grenzen und die gipfeln im Begriff des Todes. Die Schlange thematisiert den Tod. Tatsächlich aber ist sie nur die Vermittlerin einer höheren Dimension. Gleichsam erscheint sie dem Unwissenden als ein Wesen des Todes. Das führt zum Augenblick der denkbar höchsten Spannung, denn der Tod ist die größte aller Bedrohungen. Der Gipfelpunkt ist die Wegscheide zwischen dem Hälftigen und Fehlerhaften und dem ersehnten Ganzen. Dem bis dahin zurückgelegten Hinweg steht ein Rückweg gegenüber, der nun aber nicht mehr die Sache der Schlange ist, sondern die des von ihr herausgeforderten Bewusstseins. Die Ansprache der Schlange erfordert die Antwort des angesprochenen Subjekts und die wiederum verlangt, das Ganze in den Blick zu nehmen. Am Ende erweist sich die Schlange als ein Wesen, das den drohenden Tod geradezu überwindet, denn die sich häutende Schlange wächst in immer größere Dimensionen hinein.
Viele Mythen bedienen sich der Metapher der Schlange, um das wahre Wesen der Zwei, des Begrenzten und Begrenzenden zu vermitteln. Das wahre Andere und Zweite erlöst das schauende Subjekt von seinem beschränkten Blick auf das Wesen der Zwei und seiner Erscheinungen. Ein solches Wesen, das diesen Blick entwickeln kann ist göttlich, denn es hat die «Polarität im Griff», wie die Schlangengöttin die Zweizahl der Schlange im Griff hat.
Im Wissen um diese Botschaft erscheinen die Attribute der minoischen Schlangengöttin verständlich. Das Wesen der Zwei wird in allen ihren Attributen nicht etwa hintenan gestellt oder gar verdrängt, sondern hervorgehoben. Das triadischen Muster auf dem Gewand der Schlangengöttin fasst die Details zusammen, die alle den einst unvollkommenen Blick auf die Zwei korrigieren.
Die Schlangengöttin trägt ein Kleidungsstück, dass ihre Brüste nicht verhüllt! Das erregt Aufmerksamkeit, die durch deren Prächtigkeit noch gesteigert wird. Die eng gegürtete Taille symbolisiert die Verbindung von oben und unten. «Enge» erzeugt bekanntlich «Angst». Im Bild der Göttin hingegen befördert sie Fruchtbarkeit.
Das Gewand ist eine Hülle und Oberfläche und die erzählt immer vom Zusammenwirken eines Inhaltes mit einer Form, vom Zusammenwirken von innen und außen. Insofern symbolisiert auch das Gewand der Göttin eine zweifache Polarität, eine horizontale und eine vertikale, wie es die von mir an anderer Stelle vorgestellt «Formel Vier» archetypisch erzählt. Die horizontale Polarität der Göttin tritt vor allem durch die Brüste und durch die zwei Schlangen hervor, die sie fest in ihren Händen hält. Die vertikale Polarität entsteht durch die Taille und gipfelt im Gegensatz von Brüsten und Füßen. Während das Gewand die prallen Brüste völlig unbedeckt lässt, verhüllt es Beine und Füße. Letztere sind nicht einmal ansatzweise zu sehen. Damit aber nicht genug! Das Gewand hebt nicht nur die unterschiedlichen Polaritäten hervor. Vor allem erzeugt es als Ganzes die schon beschriebene, nach oben weisende Dreieckform der Figur.
Fasst man die Symbolik der minoischen Schlangengöttinnen zusammen, so geht es um das rechte Verständnis der Zwei vor dem Hintergrund des Ganzen. Es geht um deren «Schau», weshalb die Göttinnen alle so auffallende, weit geöffnete Augen haben.
Die Perspektive der minoischen Schlangengöttin erweitert den Blick auf die Zwei und auf das Wesen der Schlange. Sie fasst die Extreme zusammen. Das Tier, das vermeintlich den Tod bringt erweist sich als ihr Gegenteil. Diese Schau auf das Tier und ihre Natur sowie die Natur an sich geht trotz anderer Absicht im Nebel der Religionen oft unter. Wir finden sie aber nach wie vor in einfacher Form in Märchen, in denen die «Schlange der Weisheit» ein bekanntes Bild ist und als Kennzeichen ihrer Erhabenheit oft eine Krone auf dem Kopf trägt.
In Knossos fand man zahlreiche stiergestaltige Statuetten sowie bildliche Darstellungen von Stiersprüngen, die alle aus der Zeit um 1600 – 1450 v. Chr. stammen. Die sogenannten Stiersprünge bergen nichts Geringeres als das Zentralgeheimnis der minoischen Kultur und das besteht in der Botschaft über den Umgang mit der gewaltigen, von der Polarität beherrschten Kraft der Substanz. Wir finden sie in Form der «Acker- oder Erdenkraft» sowohl im Rätsel um die ägyptische Sphinx wie auch im biblischen Namen «Adam», der sowohl den «ersten Mensch» als auch den «Erdboden» bezeichnet. Der Erdboden, die Sphinx und der Stier bergen ein Geheimnis, das der Mensch zu enthüllen und zu kultivieren hat.
Die Stiersprünge faszinieren nicht nur durch die in ihnen abgebildete, irreale Akrobatik. Sie erzählen von der tiefsten Herausforderung des Menschen, nämlich vom rechten Umgang mit der Substanz, an die sein Dasein gebunden ist und der er durch den Tod erliegt. Der Archäologe Diamantis Panagiotopoulos (siehe Wikipedia) verweist mit recht darauf, dass der Kampf mit dem Stier meist zusammen mit Publikum abgebildet wurde. Daraus kann man nicht den Schluss ziehen, dass es sich beim sogenannten Stiersprung um ein real durchgeführtes Ritual gehandelt habe, dass wohl kaum jemand hätte überleben können. Vielmehr verbildlicht die Anwesenheit eines Publikums den wahren Sinn der Abbildungen und dieser besteht in der SCHAU des abgebildeten Vorgangs, der die Realität übersteigt. In diesem Kontext gewinnt auch eine andere Tatsache symbolische Bedeutung. Die jungen Männer und Frauen springen stets in Längsrichtung über einen Stier.⁵ Wer in der Linearität verfangen ist, den fordert ihr Wesen heraus. Kurzum: Es ist die «Länge», die Linearität, die es zu überwinden gilt. Sie wird durch die Längsrichtung des Stieres verbildlicht.
Wer die Linearität überwinden und überwachsen will, der muss eine andere Dimension ergreifen, die aus der Sicht der ersten eine Umkehr, alias ein «Kopfüber» bedeutet. Das illustriert der Stiersprung. Auch hier verraten die abgebildeten Details Weiteres über die Voraussetzung, um der Herausforderung gerecht werden zu können. Der Sprung bedarf des Anderen, d.h. der Anerkennung und der Hilfe des zu ihm Polaren. Die erste Person packt den Stier bei den Hörnern. Die zweite Person verkörpert das wahre Wesen des »Anderen» und «Zweiten». Sie ist es, die am Ende des Geschehens den sich «Erhobenen» und dabei beinahe in den Tod springenden Dritten auffängt! Die den Stiersprung inszenierenden DREI führen das aus, was endlich alle großen Religionen mit Hilfe ihrer Bilder und Mythen erzählen.
Obwohl es in allen Religionen und Weisheitslehren stets um das Erfassen der Triade geht, bedarf es der Einzelbetrachtung aus drei Perspektiven. Die zentralen minoischen Symbole stellen das Wesen der Zwei und der Polarität in den Vordergrund, weil es der Ankerpunkt ist, der Verlässlichkeit garantiert und ohne den keine Existenz denkbar ist.
Abb. 3 Der Stierspringer (Palast von Knossos / Kreta)
Der Labyrinthos war kein Irrgarten wie wir uns einen solchen heute vorstellen. Er bestand vielmehr aus einem einzigen Gang, welcher sich mehrmals zu zwei Seiten hin um das Zentrum herumwindete. Während die gängigen Labyrinthe es schwer machen, in dessen Zentrum zu kommen, ist es bei dem minoischen Labyrinth geradezu umgekehrt. Sein zu zwei Seiten hin gewundener Gang führt unweigerlich ins Zentrum. Dort angekommen, muss man das Labyrinth auf gleichem Wege wieder verlassen. Der Eindringlich muss den Weg folgerichtig zweimal gehen. Was hier so einfach erscheint ist bereits die Kernbotschaft des minoischen Labyrinths. Es ist die Eingängigkeit (1) der Polarität (2). Die Kernbotschaft der minoischen sowie aller Religionen ist der rechte Blick auf das erste denkbare Verhältnis. Es ist das unzertrennbare Verhältnis der Archetypen Eins und Zwei. Die Zwei und Polarität ist unauflöslich an die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit, deren Repräsentant die Zahl Eins ist, gebunden. Jeder Zwist und Zwiespalt (2) «erzählt» von der Einheit (1) der Dinge. Alle «anderen» Erzählungen sind nur Variationen jener ersten Erzählung, der Ur-Erzählung.
So klar die Botschaft des minoischen Labyrinthos auch ist, so «eindeutig» stürzt sie den Leser des Mythos in einen Zwiespalt. Wäre das nicht so, wäre die Botschaft keine wahrhaftige. Konkret stellt sie den linearlogisch denkenden Leser vor die Frage, nach dem Sinn und der Bedeutung des Fadens der Ariadne, denn der nur eine Weg alias das Fehlen der erwarteten Verzweigungen bedarf eines solchen nicht. Dass hier die erwarteten VerZWEIgungen der gängigen Labyrinthe fehlen, bedeutet nicht, dass der Archetyp der Zwei nicht existiert und wirkt. Der Mythos erzählt geradezu unentwegt vom Zwist, von Verzweiflung und von Zweisamkeiten. Seine Rückbindung (Religio) an die einfachste aller Beziehungen 1—2 macht ihn aber eindeutig und somit durchschaubar. Der ernste Leser kommt nicht umhin, das verborgene Wesen des Fadens zu reflektieren: Der Faden bringt zwei Daseinsarten zur Anschauung, das Geradlinige im abgerollten Zustand und das Krummlinige im aufgerollten Zustand. Ariadne beherrscht nicht nur die linearlogische Welt. Sie beherrscht vor allem auch die Kunst, die vertikalen Gegensätze zu unterscheiden und auf rechte Weise miteinander zu verbinden. Der von ihr gesponnene Faden verbindet sie mit Theseus, den sie liebt. Dabei verbindet er die Liebenden nicht allein im konkreten Dasein, sondern auch im Bezug zu ihrem höheren Sein und ihrer Aufgabe, die sie zu erfüllen haben. Theseus muss auf Geheiß der Ariadne den Faden «hoch oben am Eingang» des Labyrinths befestigen und abrollen. Die Liebe übersteigt das Profane. In der Liebe «brechen» (2) sie die Regeln der herrschenden Gesellschaft und Ariadne bringt den Bruch (2) ins Rollen (3). Sie ist nicht nur die Gattin des Dionysos, sie hilft auch noch, den Bruder zu töten und flieht schließlich vor ihrem Vater Minos. Das kann und macht sie, weil sie in der Lage ist, die Dimensionen voneinander zu unterscheiden und auf neue, bewusste Weise miteinander zu verbinden.
Die Unterscheidung von Dimensionen eröffnet den wahren Sinn des sogenannten Fadens der Ariadne. Der Faden macht nun auch Theseus auf die Dimensionsunterschiede aufmerksam und er hilft ihm, sie bei seinem Tun im Blick zu behalten. Über ihn kann er die drei Daseinsformen, die des Tieres, die der Götter und die des Menschen hierarchisch differenzieren und zugleich als ein Ganzes erschauen.
Um im Labyrinth und seinen Windungen den ganzheitlichen, sprich heilbringenden Ursprung nicht aus dem Auge zu verlieren, musste Theseus den Anweisungen der Ariadne folgen und den Faden auf rechte Weise am Eingang fixieren. Sieht man den ab- und wieder aufzurollenden Faden nur aus der linearen Perspektive, die den Blick auf die profane Polarität von Anfang und Ende fixiert, irrt man und verfängt sich im Labyrinth des Lebens.
Durchschaut man das dimensionsübergreifende Wesen der Ariadne und ihres Fadens, so erklärt sich eine weitere Erzählung von der Befreiung vom Minotaurus, die von der vorgenannten abweicht. Sie kennt keinen Faden, zumindest keinen dinghaften. Die Erzählung ersetzt ihn durch die Metapher eines mit Edelsteinen geschmückten Kranzes, den Ariadne einst von Aphrodite erhalten hatte, die in einem ewigen Spannungsverhältnis zu ihrer Mutter Pasiphae stand. Ariadne begleitet Theseus mit dem hellleuchtenden Kranz bei seinem Gang ins Labyrinth.
Die Bedeutung des Kranzes erschließt sich, wie schon die des Fadens über seine Symbolik. Ein Kranz ist ein solcher, weil alle seine Peripheriepunkten das gemeinsame Zentrum ehren. Im Symbol des Kranzes vereinigen sich sichtbar das Ideal mit dem Substanziellen, das Göttliche mit dem Erdverhafteten. So unterschiedlich die Erzählungen vom Faden oder vom Kranz auch erscheinen mögen, so erzählen sie doch vom Gleichen. Was der entrollte und wieder aufgerollte und so zeitweise linear wirkende Faden bewirkt, das bewirkt auch der Kranz, der ein Symbol für das Ganze ist, weil er alle seine Peripheriepunkte an ein und dem gleichen Zentrum ausrichtet.
Der Vollständigkeit halber und zur Untermauerung der zwei vorangehenden Erzählungen soll hier noch eine dritte Erwähnung finden, nach der Ariadne dem Theseus «Pillen aus Pech und Haaren» gibt, die er dem Ungeheuer zu dessen Überwältigung in den Rachen werfen soll. Die Erklärung für die zunächst absonderlich erscheinende Variante der Erzählung finden wir wie schon bei den beiden anderen in der Triade. Der Minotaurus wurde zum menschenfressenden Ungeheuer, weil seine zwei Anteile, das Menschliche und das Tierische sich nicht auf rechte Weise miteinander verbunden hatten und so das «einfach konstruierte» Polare, Lineare und Zwiespältige zum Erscheinen bringt. Im Minotaurus verschwindet das triadische Ganze weitgehend und das Polare und Zwiespältige wird augenfällig. Dem Ungeheuer fehlt zweierlei. Er hat keinen Zugang zur rechtverstandenen Linearität und er hat keinen Zugang zum dem, was die Gegensätze verbindet. Die Haare sind ein Symbol für das Erste. Das Pech symbolisiert das Verbindende. Beide Qualitäten ergänzen das Wesen des Minotaurus und heben dessen Zwietracht erzeugendes Verhalten auf.
Die Welt erscheint dem Menschen als ein Labyrinth. Die Darstellung von Labyrinthen ist sehr alt und man kann sie mehr als 4.000 Jahre zurückverfolgen. Nicht allein das Leben ist ein Labyrinth, auch der Tod wird vom Menschen unmittelbar in Beziehung mit einem Labyrinth gebracht. So findet man sie auf vielen Grabsteinen. Ein Labyrinth hat nur ein Ziel, aus ihm herauszufinden. Sich im Labyrinth des Lebens orientieren zu können heißt, die beiden großen Pole, Leben und Tod in eine rechte Beziehung zueinander setzen zu können. Dazu muss der Suchende den Begriff von recht und richtig als Archetypus verstehen lernen.
Sehen wir zunächst auf die Botschaften die uns in Verbindung mit dem bekanntesten aller Labyrinthe, dem aus der der Sage um Theseus erreichen. Theseus hat den in einem Labyrinth hausenden und vom Zwiespalt beherrschten Minotaurus überwältigt und getötet. Dieses frühe und einfache Labyrinth habe ich oben hinreichend beschrieben und aufgezeigt, dass man sein Geheimnis lösen kann, wenn man wie Ariadne das Urverhältnis der Zwei zur Eins respektiert und es unter Berücksichtigung der stets existierenden höheren Dimensionen sodann umsetzt.
Die minoische Kultur versuchte in allen ihren Details das Zusammenwirkens der Gegensätze ins Bild zu setzen. So ist es fast schon Ironie, dass gerade im minoischen Palast in Knossos, dem Zentrum des Mythos vom Minotaurus keine erhaltenen Labyrinthe gefunden wurden. Die Archäologen fanden nur wenige Fragmente von Labyrinthmustern. Den Überlieferungen nach soll aber das historische Labyrinth ca. 1600 v. Ch. im Palast von Knossos auf Kreta existiert haben. Man fand lediglich in Pylos aus dem 12. Jahrhundert stammende Tontäfelchen, die das Labyrinth als eine Art Tanzplatz mit gewundenen Gängen darstellen. Eine um 640 v. Chr. stammende, in Tragliatelle gefundene etruskische Kanne zeigt zudem Krieger, die aus einem Labyrinth heraustanzen. Vor allem zeigt sie hinter den Kriegern zwei kopulierende Paare, deren Bedeutung sich uns im archetypischen Blick auf das Labyrinth von Chartres erhellen werden.
Obwohl die heute zugänglichen Abbildungen von minoischen Labyrinthen alle jünger sind und aus der hellenistischen Zeit kommen, ist ihre Wirkgeschichte beeindruckend. Sie hat sogar Einzug in die jüdisch-christliche Kultur gefunden. Auf dem Weg dorthin hat das Labyrinth viele Formen durchlaufen. Seine Deutung ist dadurch nicht einfacher geworden und bedarf nach wie vor der Erzählung vom Minotaurus. Als Beispiel soll hier das Labyrinth in der Kathedrale von Chartres (Abb. 4) dienen, das wohl bekannteste Labyrinth der Gotik.
Das Labyrinth von Chartres ziert nicht einfach den Boden der Kathedrale. Gleich hinter dem großen Eingang im Westen platziert, konfrontiert es den ins Gotteshaus Eintretenden mit seinem Lebensgefühl. Der Weg zur erlösenden Botschaft ist lang und verschlungen, gleich dem Weg ins Zentrum des verwirrenden Gebildes.
Das Labyrinth hat einen Durchmesser von über 12 Meter. Nach Darstellung der örtlichen Bauhütte soll es mit insgesamt 273 Steinplatten gefertigt worden sein. Wie jedes Labyrinth ist auch das in Chartres ein Symbol für das «Labyrinth des Lebens», das sich über den Archetyp der Zwei, des Zwiespaltes und des Zwists aufspannt. Doch zeigt es, dass der Weg eindeutig zum Kern des Geschehens führt und der besteht aus dem Archetyp Sechs. Was der Mythos von Ariadne und Theseus erzählt, das verbildlicht die Kathedrale in Chartres bei ihrem Betreten auf geometrische Weise. Wer dem Pfad des Labyrinths folgt, der erreicht das Zentrum, das die Form eines Hexagramms hat. In seiner Mitte wurden ursprünglich das Erzählte und das Bild in seiner Geometrie eines, denn noch bis ins 18. Jahrhundert befand sich im Hexagramm eine Metalltafel, welche den Kampf zwischen Theseus und dem Minotaurus darstellte. Heute findet man nur noch die Nieten mit denen die Tafel auf dem Boden befestigt war. Auch wenn die Tafel heute fehlt, ist der Bezug der christlichen Darstellung zum minoischen Mythos eindeutig. Zur Zeit seiner Erstellung nannte man das Labyrinth «Domus Daedali», also das «Haus des Daedalus«, so Jeff Saward. Das ist im Hinblick auf die allbekannte Bezeichnung «Domus Dei» (Haus der Gottheit) interessant, da die Kathedrale ein Abbild des «Ganzen» ist, das «Haus des Daedalus» hingegen den linearlogischen Geist seines Erbauers hervorhebt. Das Labyrinth verbindet beide Sichtweisen und lebt doch von der sichtbar herrschenden Linearität und Polarität. Sein Weg ist ein von der Zweiheit geprägter Weg mit einem eindeutigen Hinein und einem ebenso eindeutigen Heraus. Seine Dimension scheint eine zählende zu sein und ist doch auch eine erzählende. Die Literatur weiß von beiden zu berichten. Immer wieder einmal finden wir die Angabe, der Weg sei genau 666 Fuß lang. (Jean Shinoda Bolens „Crossing to Avalon“, 1994)⁶. Jeff Saward hat konkret nachgemessen und kommt auf 860,9 Fuss (262,4 m).
Die erzählende und die zählende Perspektive klaffen auseinander. Das liegt in der Natur des Labyrinths. Es macht auf den ewig vorhandenen Widerspruch aufmerksam, der zum Wesen der Sechs führt. Der Widerspruch wird dann als erlösend erfahren, wenn man nach derem Vorbild einen Dimensionswechsel zulässt. Die 666 ist die Metapher für das Labyrinth eines verirrten Lebens. Die christliche Offenbarung (Off 13:18; Apolkalypse)⁷, das letzte Buch der christlichen Bibel versucht den Zusammenhang der Siebenzahl, die das Göttliche und Jenseitige erfasst, mit der in der Welt wirkenden Sechszahl herzustellen. Die Crux dabei ist, dass das nach Bewusstsein strebende und sich erhebende Subjekt im Hinblick auf die mächtige Sechs den notwendigen Dimensionswechsel verpasst. Das symbolisiert die 666. Die dritte Sechs müsste nach dem Vorbild der Drei eine erhobene Position einnehmen und anstatt einer fortlaufenden Linie die Fläche eines Dreiecks hervorbringen.⁸
Wenn die Literatur im Widerspruch zu den offensichtlichen Fakten die Länge des Labyrinths mit 666 angibt, dann ergreift sie die Zahl als Metapher für das Vorliegen eines geistigen Labyrinths, das man nicht erfüllt, wenn man es auf Knien nachläuft, wie es viele Pilger gern tun – im Gegenteil. Das Labyrinth fordert wie die Zahl 666 vielmehr das Bewusstsein heraus, sich nicht in der scheinbaren Linearität der Substanzen und ihren dinglichen Perspektiven zu verfangen.
Das Labyrinth demonstriert das, was die biblische Offenbarung über die 666 zu vermitteln versucht. Es versucht das wahre Verhältnis die Siebenzahl zur Sechszahl und ihre Dimensionsunterschiede zu erhellen. Das Labyrinth und seine Botschaft gehen der biblischen Botschaft voraus. Die ältesten, in Südeuropa gefundenen und sicher datierten Labyrinthsymbole sind zum einen mindestens 4000 Jahr alt. Zum anderen existierte der nahezu durchgängige, sogenannte «klassische Gestaltungsstil» schon Jahrhunderte v. Chr. und der besteht eben aus sieben konzentrischen Wegen, die ein zentrales Ziel umgeben.
Bei der Deutung des Labyrinths von Chartres darf man nicht den eigenartig wirkenden Kranz übersehen, der das Gebilde umfasst, zumal einige der Mythen von Theseus und Ariadne ebenfalls einen sogenannten «hellleuchtenden Kranz» erwähnen, mit dem Ariadne dem Theseus bei seinem Abenteuer den Weg ausleuchtete. Der mythische Kranz kam einst von Aphrodite, der Göttin der Liebe über Dionysos zur Ariadne. In der Kathedrale von Chartres finden wir wieder einen Kranz. Dort erscheint er als ein Kranz von Höckern oder Dornen, die das Labyrinth umgeben. Mitunter wird er auch als «Lunarisation» des Labyrinths bezeichnet, also als ein «Heiligenschein». Seine Bedeutung lässt sich, wie oben angesprochen über den Mythos erklären, doch dringt man noch tiefer zu seiner Bedeutung vor, wenn man die hinter dem Objekt wirkenden Archetypen erschließt.
Das Labyrinth ist ein Symbol der Zweiheit alias des Weiblichen. Archetypisch korrekt muss die Zwei von ihrem Gegenpol umschlossen werden. Aus der Sicht der Zwei, des «Geteilten» und des «Halben» ist das das Vollkommene und Ganze. Sein geometrisches Symbol ist der Kreis. Wechselt man nun den Blick und zählt anstatt der scheinbaren Höcker und Dornen die von ihnen manifestierten Kreise, so besteht der Heiligenschein aus 114 einzelnen Kreisen, vorausgesetzt, man ergänzt den Höcker, dessen Fehlen den Eingang zum Labyrinth möglich macht.
Warum die Kreise nur als Halbkreise ausgebildet sind, ergibt sich ebenfalls aus dem Verhältnis der Archetypen Eins und Zwei: Erst die Zwei, das scheinbar Halbe und Fehlerbehafte macht das Erscheinen der Ganzheit und Vollkommenheit, d.h. der Kreise möglich. Das Labyrinth zeigt auf vielen Ebenen, dass das Ganze immer nur durch das «Halbsein» zur Erscheinung kommt. Jeder Versuch die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit darzustellen, endet im «Halben» und Fehlerbehafteten. Doch das führt weiter und eröffnet den Weg der Erfahrung. So befindet sich auch Zwischen Anfang (Kreis 1) und Ende (Kreis 114) dieses «Heiligenscheins» der Eingang zum Labyrinth.
Abb. 4 Das Labyrinth von Chartres besteht aus einem einzig möglichen Weg und der führt im Zentrum zum Archetyp der Sechs. Der das Objekt umgebende Heiligenschein besteht aus 114 Kreisen.
Es wäre naiv anzunehmen, dass die Erbauer der Kathedrale und ihres Labyrinths die Zahl 114 zufällig gewählt hätten. Will man die Botschaft hinter der Zahl empfangen, muss man die Botschaft des Labyrinths vor dem Hintergrund des biblischen Kontextes interpretieren. Das Verbindungsglied ist der Archetyp der Sechs, hier als Hexagramm in der Mitte des Labyrinths sichtbar. Der verborgene Kern, das Innen wird im Außen mit Dimension erfüllt und nimmt eine für jeden wahrnehmbare Gestalt an. In der Sprache der Zahlen erscheint sie in Form des Multiplikators 19, denn 114 = 6 x 19.
Wer weiß, was die 19 erzählt, der entdeckt die Stimmigkeit der äußeren Erscheinung des Labyrinths mit dem biblischen Bericht. Um sie einzufangen, möchte ich zeigen, wie letzterer die Zahl entwickelt. Dabei muss man das schon mehrmals genannte Zentralgeheimnis der Religionen im Auge behalten, das in der Blickwendung auf das Wesen der Zwei besteht.
Auch die Bibel fängt mit dem «Beth», dem zweiten Buchsstaben des Alphabets und seinem zwielichtigen Wirken an. Der erste Satz entfaltet die «tonangebende Zwei». Er formt das Wesen der Polarität in allen denkbaren Dimensionen aus, von der Grammatik beginnend bis zu der Syntax der Wörter. Die Zwei gewinnt zunehmend an Gewicht und beherrscht die Fülle aller nachfolgenden Texte. Ihre Verfasser stürzen ihre Leser aber nicht ohne eine erste bzw. letzte Absicherung in den Zwiespalt. Wie das Labyrinth am Eingang der Kathedrale in Chartres haben sie vor die ausführlichen Texte einen Prolog gestellt. Der fasst die zentrale Botschaft der Existenz einer vollkommenen, göttlichen Polarität (2) in höchster Konzentration zusammen. Das macht er über das äußere Erscheinen von «19 Teilen».
Der Prolog besteht aus nur zwei Versen und die wiederum aus nur vier Sätzen (Gen 1:1-2). Doch umfasst er 19 Wörter und erzählt von der Zweiheit und Polarität der Welt, die zunächst als «Finsternis», dann als «Urtiefe» erscheint, schließlich aber als ein «über den Wassern schwebender und fruchtbarer Geist Gottes» erkennbar wird. Der Prolog ist konzentrierte Weisheit.
Dass die Zahl 19 hier kein Zufall ist, zeigt die dem Prolog folgende Schöpfungserzählung, die bekanntlich von sechs Schöpfungstagen und dem zusätzlichen, siebten Tag der Gottheit erzählt. Sie differenziert das Vorangestellte in einer sorgfältigen Archetypenfolge aus, die endlich ins noch zwielichtige Handeln des ersten Menschenpaares Adam und Eva mündet. Während der Name des erdverhafteten und trägen Adam durch die Buchstaben- und Zahlenfolge 1-4-40 entsteht, entwickelt der Name der sichtbar tonangebende Frau Eva über die Zahlenfolge 8-6-5 die Zahl 19. Hierzu muss man wissen, dass die fortlaufende Quersumme von Wörtern und Namen (s. theosophische Addition) von den in ihnen jeweils herrschenden Archetyp erzählen. Der Name Adam (1+4+40 = 45 → 4+5 = 9) erzählt von den grundsätzlich existierenden neun Archetypen in der hebräischen Sprache. Der Name der Frau erzählt von einer anderen und höheren Dimension. Sie, die «Zweite» und «Zwiespältige» bringt das Dasein des Menschen voran. Sie ist, so hebt es der biblische Text explizit hervor, die «Mutter alles Lebendigen», wie es (Gen 3:20).
Der Archetyp der Zwei verwandelt das Sein und Dasein in der Welt im Gewand der 19. Alles geschieht vor dem Hintergrund von Sechs/Sex und dem so ausgelösten Wechsel der Dimensionen. Der sogenannte Paradiesfall bedarf der Schlange. Das ist ein Wesen, das analog zu Dädalus ein Stückweit Dimensionen zu überschreiten vermag. Mit ihrer Hilfe erkennen die Menschen ihre Geschlechtlichkeit.
Was die Bibel als Mythos inszeniert, erhellt die Geometrie von der Sechs und der 19, sofern man sie nach dem bisher von der Polarität Gesagtem vor dem Hintergrund des Hexagramms und seiner Entfaltung betrachtet. Das Hexagramm mit dem sieben, identischen, d.h. gleichgroßen Kreis in seiner Mitte, wird in seiner Fortentwicklung zu einem Hexagramm, dessen Mittelpunkt ein 19ter Kreis ist. Das Göttliche in der Mitte des Daseins erscheint in der Gestalt und dem Wesen der 19.⁹
Abb. 5 Das Hexagramm entfaltet und erfüllt den Wesenskern göttlichen Seins mit Dimension. Es manifestiert das zentrale Ganze (1) in Gestalten und Oberflächen. Was zunächst als Archetyp Sieben aufscheint, das interpretiert in der höheren Dimension die Zahl Neunzehn.
Labyrinthe sind keine Irrgärten im heutigen Sinn. Sie bestehen aus nur einem aber langen Weg, der auf verschlungene Weise ins Zentrum und auf gleiche Weise wieder herausführt. Das Wesen des Labyrinths zu deuten ist nicht einfach. Die relative Einfachheit des nur einen Weges macht es aber möglich. Irrgärten leiten sich zwar von den Labyrinthen ab, bestehen aber aus zusätzlichen Verzweigungen des vormals einen Weges und lassen sich in ihrer zusätzlichen Komplexität theologisch schwer deuten. Ihre Deutung ist nur möglich, sofern man schon die Botschaft des eingängigen Labyrinths kennt.
Natürlich kann man Irrgärten auf naturwissenschaftlich-mathematische Weise durchleuchten und Formeln finden, die bei ihrem Beachten einem im Irrgarten Verfangenen wieder herausführen. So scheint es zumindest. Aus theologischer Perspektive tun sie das aber nur, sofern man auch die gefundenen Formeln selbst zu deuten vermag. Im anderen Fall bemächtigt sich der Minotaurus des zählenden und rechnenden Dädalus und seiner Nachkommen um so mehr. Um den wahren Ausgang aus dem Labyrinth des Lebens zu finden, bedarf es der Geisteswissenschaft. Das soll der nachfolgende Text zeigen.
Die Mathematiker haben uns Formeln geschenkt, die in wörtlichen Sinn formulieren, wie man aus einem Irrgarten wieder herausfindet. Es gibt eine einfache Regel, die das garantiert. Sie nennt sich die Rechte-Hand-Regel und besagt, dass, wenn man beim Eintreten in einen Irrgarten die rechte Hand an die Substanz des Labyrinths legt und dafür sorgt, dass sie den Kontakt nie verliert, immer wieder zum Ausgang zurückfindet. Die inhaltliche Deutung der Regel ist vergleichsweise einfach. Das Wieder-Herauskommen aus dem Irrgarten wird über das gesichert, was man in den Geisteswissenschaften unter «rechtem Verhalten» versteht. Im Mythos ist das der Faden der Ariadne. Er garantiert den Erfolg, weil er den Kontakt zum Gegenpol und somit zugleich zum Höheren und Dritten aufrechterhält. Genau das versteht der Mythos unter rechtem Verhalten.
Versucht man hingegen diese übergeordnete Religio-Regel in Bezug auf die Substanz, also praktisch und somit auf linearlogische Weise umzusetzen, dann zeigt sie schnell ihre Grenzen auf. Selbst wenn man die Regel befolgen würde, würde man nicht unbedingt jede Stelle des Labyrinths erreichen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht das Zentrum. Im Bild des Mythos käme es nicht zur notwendigen Begegnung und Erfahrung mit dem Minotaurus. Der Held könnte seine Aufgabe nicht erfüllen. Die Rechte-Hand-Regel greift angesichts der Aufgabe des Helden zu kurz.
Abb. 6 Die Rechte-Hand-Regel führt in einem Irrgarten nicht unbedingt ins Zentrum. Befolgt man sie nicht von Anfang an, kann sie den Irrenden auch im Kreise herumführen.¹⁰
Aus der geistigen Sicht scheitert die Rechte-Hand-Regel an ihrer grundsätzlichen Nichterfüllbarkeit, denn in ihrer Reduktion auf die konkrete Substanz hat sich der notwendige Kontakt zum Anfang, der ein geistiger und auch ein substanzieller ist, bereits verloren. Das zeigt der Blick auf das Leben. Wer eine Regel sucht, um aus dem Irrgarten des Lebens herauszufinden, der befindet sich bereits in ihm an einer x-beliebigen Stelle. Das Verfehlen, der Irrtum und die Verstrickungen gehören zum Wesen des Menschen. Realisiert er das, ist es zu spät für die Regel. In solcher Situation muss der Mensch auf eine Verbindung zurückgreifen, die das Physische übersteigt. Der Rückbezug (Religio) zu nur linearlogischen Regeln führt dazu, dass er, wie oben gezeigt, im Kreis läuft. Das bedeutet, dass ihm das gleiche Schicksal immer wieder ereilt. Wer kennt solches Im-Kreis-Herumlaufen nicht?
Genau das beschreibt die Legende vom Minotaurus, der ein Symbol für einen Menschen ist, der vom Erdhaften und Konkreten regiert wird. Der Mythos aber erzählt bei weitem mehr. Er erzählt vom wahren Zusammenwirken der Archetypen Eins, Zwei und Drei und zugleich von dessen Bedeutung in der höheren Dimension, der Dimension des Bewusstseins (5). Die im gleichseitigen Dreieck sichtbar werdenden drei Archetypen finden im sogenannten pythagoreischen Dreieck ihre Ausformung in den Archetypen 3, 4 und 5, die ins Zahlensymbolische übersetzt für die Entitäten Information (3), Substanz (4) und Bewusstsein (5) stehen und in ihrem Zusammenwirken den bedeutungsvollen rechten Winkel hervorbringen.
Das pythagoreische Dreieck ist primär ein geistiges Instrument. Seine Auswirkungen hingegen werden konkret vor allem im Rechteck und im Quadrat sichtbar. Immer allerdings erzählt der rechte Winkel vom «Erheben aus der Linearität» und vom «Erstellen von Einheit im Zwiespalt». Letzteres erkennt man schon im Wesen der Dreizahl. So ist der rechte Winkel nicht erst im Quadrat zu finden. Er verbirgt sich schon in den Geometrien von Kreis und Dreieck in Form der ihnen immanenten Verbindlichkeit.
Die Geometrie und die Mathematik machen das sehr theoretisch klingende «verbindliche Verhalten» dingfest. Als Beispiel «formulieren» sie im wörtlichen Sinn eine Verhaltensweise wie man aus einem Irrgarten wieder herausfindet. Erwartungsgemäß formulieren die Naturwissenschaften dabei genau das verbindende und verbindliche Wesen der Drei auf der Ebene des rechten und bewussten Verhaltens, das auch die Erzählung vom Faden der Ariadne erzählerisch zu erfassen versucht.
Wer sich im Labyrinth des Lebens verfangen hat, der muss den Grund dafür in Erfahrung bringen und das erfordert, die prinzipielle Konstitution der Welt und ihrer Dimensionen zu kennen. Mit jenem Wissen kann er dann wie Theseus das Labyrinth der Welt und ihrer Wege erfahren. Wie Theseus findet man aus dem Irrgarten des Lebens nur über die systematische Erweiterung des Bewusstseins heraus. Der Mythos bedient sich dazu des aus nur einem Weg bestehenden Labyrinths. Das Labyrinth des Mythos aber bleibt in seiner Einfachheit den Mathematikern gegenüber stumm. Sie schauen deshalb auf den komplexeren Irrgarten und die Vielzahl seiner Wege. Die von ihnen entwickelten Formeln machen sie ein Stückweit greifbar. Theologen und Philosophen aber wollen mehr. Sie wollen begreifen und die Formeln erscheinen ihnen viel zu kompliziert. Sie sind ihnen ein Graus.
Bei genauerem Hinsehen aber gehen beide Arten von Wissenschaft ähnlich vor. Auch die Mathematiker formulieren ihre Lösungen mit Hilfe von drei Entitäten, die wir im Nachfolgenden näher betrachten wollen. Wir bezeichnen sie einfach mit den Zahlen 1, 2 und 3. Der rechte Umgang mit den drei Zahlen macht es den in einem Irrgarten Umherirrenden möglich, wieder aus ihm herauszufinden. Dazu bringt der den Ausgang Suchende jeweils eine der Zahlen am Anfang und eine am Ende des von ihm genommenen Weges an. Jeder Anfang eines Weges wird mit der Zahl Eins markiert. Die Zahl 2 oder die Zahl 3 schreibt der Umherirrende ans Ende seines gerade gegangenen Weges in der Weise, dass er die Zahl Zwei schreibt, wenn sein Weg ihn auf eine ihm noch unbekannte Kreuzung geführt hat. Stellt er hingegen fest, dass ihm diese Kreuzung bereits bekannt ist (weil sie schon mit einer Zahl gekennzeichnet ist), dann schreibt er am Ende jenes Weges die Zahl 3. Diese zusätzliche Unterscheidung am Ende eines Weges ist von Bedeutung. Denn kommt der den Ausgang Suchende noch einmal über einen anderen Weg auf die gleiche Kreuzung, dann signalisiert ihm die Drei, dass seine Entscheidungsfindung einer zusätzlichen und höhere Dimension unterliegt. Konkret darf er den mit der Drei gekennzeichneten Weg nur noch einmal (diesmal rückwärts) gehen, wenn sich ihm keine anderen Möglichkeiten mehr bieten.
Um die inhaltliche Bedeutung der drei Regeln, insbesondere der 3ten, die den Umherirrenden sicher zum Ausgang aus dem Irrgarten führen, einsichtig zu machen, erzählen wir sie hier noch einmal anders, diesmal unter Berücksichtigung des Wesens der Zahlen.
Das Hauptkriterium (1) für das Finden des Ausganges ist die Herrschaft der Eins, des Ganzen bzw. seiner «Verdünnungen», des Einmaligen und somit Neuen. Dieses erste Kriterium ist gleichbedeutend mit der Fortbewegung die jedem Sein und Dasein innewohnt. Jenes wichtigste Kriterium ist Gegenstand der Regel Eins, die dadurch fordert, dass kein Weg ein zweites Mal in die gleiche Richtung durchschritten werden darf. Um das zu sichern, kennzeichnet der den Ausgang aus dem Irrgarten Suchende den Anfang jedes von ihm beschrittenen Weges mit der Zahl Eins.
Das Prinzip der Zwei, das «Zweimal» steht wegen des Hauptkriteriums (1) notwendig unter dem Gebot der Eins. Die Zwei steht im Dienst der Eins und darf nur dann zur Anwendung kommen, wenn dabei das Wesen der Eins verwirklicht wird. Die Zwei kennzeichnet im Gegensatz zur Eins nicht den Anfang, sondern das Ende eines Weges. Dort garantiert sie, dass der Weg nur dann wieder begangen wird, wenn er ein Rückweg eines bereits erfolgten Hinweges ist. Insofern ist der Weg in dieser Form ebenfalls ein neuer Weg. Das Kriterium der Zwei kann man deshalb als eine Verdünnung des Ersten betrachten. Es bewegt sich in der gleichen, unmittelbaren Dimension und ist daher im wörtlichen Sinn leicht einsichtig.
Anders verhält sich das mit dem Unterscheidungskriterium, das mit die Zahl Drei einhergeht. Die Zahl Drei wird wie die Zwei am Ende eines Ganges geschrieben. Im Gegensatz zur Zwei besagt die Drei, dass der Weg auf eine jungfräuliche Kreuzung führt bzw. sagt sie ihm bei einem Wiederbetreten der Kreuzung, dass dieser Weg einst die Jungfräulichkeit entdeckt hat. Der Weg zur Drei ist ein herausgehobener, ein besonderer, weil er das Einmalige und Neue ansichtig macht oder in diesem Falle gemacht hat und darin dem Gebot der Eins direkt nachgekommen ist. Jenen Weg darf man nicht einfach zurückgehen. Würde man es, dann könnte es das direkt manifestierte Neue möglicherweise wieder negieren, was dem Wesen der Eins entgegenliefe. Dennoch erlaubt die Eins (1) unter zwingenden Bedingungen den Widerspruch (2). Die Bedingungen kommen aus einer zusätzlichen, höheren Dimension und üben aus der Sicht der niederen einen Zwang aus. Konkret: Der Weg, dessen Ende der mit der Zahl Drei markiert ist, darf nur dann beschritten werden und zum Rückweg werden, wenn es im Konkreten keine andere Möglichkeit mehr gibt. Die Drei bringt zwei Dimensionen zusammen. Was sich aus der einfachen Sicht und Dimension verbietet, das kann aus einer höheren regelrecht gefordert sein!
Die drei Zahlen stehen für drei Arten von Bewegungen. Die Eins steht für die Bewegung an sich, die stets das Neue erschafft. Die Zwei erzählt von einer Bewegung des «Zurück». Sie muss die Eins bereichern. Das führt zur Drei. Es erzwingt die Drei regelrecht, die weitergehend und notwendig differenziert. Sie beantwortet die gewichtige Frage, unter welchen Umständen die Zwei im Sinne eines Zurück oder Negierens eines bereits Vorhandenen erlaubt und nötig ist!
Bewegt man sich mit Hilfe des genannten Algorithmus und seiner drei Kriterien solange durch den Irrgarten bis der Algorithmus abbricht, weil sich kein zu gehender Weg mehr anbietet, hat man jede Kreuzung betreten und ist jeden Weg zweimal gegangen, hinwärts und rückwärts. Unter Beachtung des Algorithmus und seiner drei Orientierung gebenden Zahlen erreicht man demnach mit Sicherheit sowohl das Zentrum des Irrgartens als auch dessen Ausgang. Das können uns die Nachfolger des Dädalus, die Mathematiker rechnend bestätigen und beweisen. Wer die Regeln mathematisch überprüfen möchte, der kann den Ausführungen von Albrecht Beutelspacher folgen, der sie dankenswerterweise in seiner Schrift «Luftschlösser und Hirngespinste» Vieweg-Verlag, Braunschweig 1986, S. 3, ISBN 3-528-08957-1) ausführt hat.¹¹
Die Mathematik vermag bei allem Respekt nicht, den Bedeutungsgehalt, den religiösen Sinn hinter ihnen zu erfassen, wie ihn der Mythos von Theseus erzählt. Bemerkenswert ist, dass der Mythos vom Labyrinth die Verhaltensregeln im sogenannten «Irrgarten des Lebens» über das einfache Bild von ihm erzählt, das nur einen einzigen Gang zeigt, der aber zwei Wege, den Hin- und den Rückweg vereint! Die Unterschiede zwischen den Herangehensweisen der Mathematiker und der Theologen könnten nicht größer sein. Obwohl sich beide Parteien im gleichen Irrgarten bewegen, ignorieren sie sich, was mitunter zu einer besonderen Ironie führt. Beispielsweise schließt A. Beutelspacher seine Darstellung mit dem Satz: «Insgesamt haben wir uns klargemacht, dass man mit dieser simplen Regel aus jedem Labyrinth leicht herausfindet, ohne sich in einem Ariadnefaden zu verheddern.»
Die nachfolgenden Texte gehören nicht unmittelbar zur minoischen Kultur und zum Mythos vom Labyrinth. Sie sollen aber die Kernbotschaft ihrer Weisheit helfen zu vertiefen.
Die Erzählung von Theseus, Ariadne und dem Minotaurus findet nach der Rückkehr des Helden von Kreta nach Athen keineswegs ein Ende. Heldenerzählungen sind zeitlos, wirken weiter und ziehen sich wie ein «roter Faden» durch die Theologien der Welt. Das Schiff des Theseus bewegt sich nach wie vor durch ihre Labyrinthe. Wenn alte Substanzen verrotten, werden sie von denen, die vom «roten Faden» wissen durch neue ersetzt. So vermittelt es auch der vorübergehend letzte Teil der Erzählung. Man erzählt, dass die dankbaren Athener das Schiff des Theseus auf ewig bewahrten. Als nun aber die Schiffsplanken nach und nach verrotteten, ersetzten sie diese durch neue. Man war der Überzeugung, dass es immer noch das Schiff des Theseus war. Die neuen Planken änderten nichts daran.
Was verrottet ist, das ist die Substanz. In diesem Sinn gibt es auch keinen Faden durchs Labyrinth, jedenfalls keinen physischen. Am Ende jeder Analyse löst sich die Physis auf und verweist auf den Geist. Jener Geist ist ein Geist der Einheit (Drei-Einheit) der in der Physis erscheint. Geist und Physis sind eines. Sie sind untrennbar. Das ist das letzte Gesetz, welches wir greifen können und welches in der Beziehung der Zahlen 1 und 4 zahlensymbolisch dargelegt werden kann. Es ist der Endpunkt des Denkens, ohne selbst dinglich zu sein, denn es beschreibt auch den unaufhörlichen Wandel, der die konkreten Dinge beständig auflöst und wieder neu entstehen lässt. Selbst das niedergeschriebene Gesetz 1«-»4 beschreibt seine eigene Veränderung und ist als solches nicht dinglich oder starr. Es ist im umfassenden Sinn das «Das Ein-für-alle-Mal», das wir gesucht haben.
Wenn die Einheit in der Vielheit und der Geist der Einheit in der Materie allgegenwärtig sind, müssen und können wir das göttliche Ganze nicht mehr in einem Außen suchen. Das hat Konsequenzen. Auf der Suche nach einem höchsten Geist wird der aus diesem Geist erwachsene Mensch, alias «der von Gott erschaffene Mensch» auf sich selbst zurückverwiesen. Das Zurückverweisen ist eine Auflösung der herkömmlichen Gottesvorstellung. Das Zurückverweisen und Auflösen ist kein Verlassen im eigentlichen Sinn. Es ist der höchste Dienst, die höchste Adelung die der Mensch erfahren kann. Die Heiligen Schriften und ihre Einweihungslehren berücksichtigen und lehren das allenthalben:
BIBEL
Das Bilderverbot / AT / Ex 20,4 / Ex 30,12 «Du sollst Dir kein Bild machen …» verbietet das Ganze substanziell zu fassen, zu greifen, was allenfalls zu erfassen, zu begreifen ist. Das Bilderverbot ist nicht zufällig das zweite (!) der 10 Gebote. Damit ist nicht wirklich das Verbot aller Bilder gemeint, sondern die durch die Zweiheit drohende Verkürzung des Ganzen. Das Ganze bedarf zwar der Zweiheit und schließt diese ein, darf durch ihre falsche Anwendung jedoch nicht infrage gestellt werden. Der lebendige Gott, ist der Gott des Fließens. Bei seiner Vergegenständlichung würde es ein im wörtlichen Sinn «versteinerter», «hölzener» oder anderweitig reduzierter Gott sein.
Das Zählverbot / AT / Ex 30,12 verbietet das Zerstückeln des Ganzen. Danach darf die Kopfzahl nicht direkt gezählt werden, sondern nur indirekt über das Ersatzgeld von einem «halben Taler». Der Begriff «die Hälfte» hat hierbei die Bedeutung, beim Gebrauch der Zweiheit stets den Bezug zur Eins (Einheit) im Auge zu haben, wie er im mathematischen Bruch gewahrt ist (= ½). Die biblische Geschichte erwähnt auch deshalb ausdrücklich, dass das Gewicht eines Talers 20 Gramm beträgt.* In der 20 wird die 2 durch das Göttlich-Numinose (die Null) erhöht. Dadurch wird ihr spaltender Aspekt nicht der Willkür anheimgestellt, sondern der Ganzheit und Vollkommenheit zugeordnet. David, der trotzdem die direkte Volkszählung durchführt, wird dafür bestraft (2. Sam 24)**. Gott zwingt ihn «auszuwählen» zwischen drei Plagen. Das Auswählen führt ihn das Spalten in seinem Zusammenhang mit der Drei-Einheit vor Augen. David muss wählen zwischen drei Jahren Hungersnot, drei Monaten Flucht und Verfolgung oder drei Tagen Pest. Immer sind es aber drei! Drei verbindet und spaltet nicht bzw. setzt die Spaltprodukte ins Bild des Ganzen! Nicht die Quantität (Jahre, Monate, Tage) ist das Wesentliche, sondern die Qualität.
* „Es soll aber jeder, der gezählt ist, einen halben Taler geben nach dem Münzgewicht des Heiligtums;
ein Taler wiegt 20 Gramm. Dieser halbe Taler soll als Opfergabe für den Herrn erhoben werden.“
** „So spricht der Herr: Dreierlei lege ich dir vor; erwähle dir eins davon, dass ich es dir tue.
… Willst du, dass drei Jahre lang Hungersnot in dein Land kommt oder dass du drei Monate
vor deinen Widersachern fliehen musst und sie dich verfolgen oder dass drei Tage Pest in deinem
Lande ist? So bedenke nun wohl …“
Der Dienst am Ganzen / NT / 2.Korinther 3,6 «… der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.»
TAO TE KING
Das feststellbare TAO ist nicht das TAO.
Der gangbare Weg ist nicht der Weg.
Der nennbare Name ist nicht der Name.
… … …
BUDDHISMUS
«Wenn Du den Buddha begegnest, töte ihn! Töte den Buddha!»
Der im Zen-Buddhismus bekannte Satz findet sich im sogenannten Mumonkan, einer Sammlung von Meditationssprüchen des ostasiatischen Buddhismus. Er bringt die Vorherrschaft des Geistes über die Substanz zum Ausdruck, die zugleich von der Unmöglichkeit redet, die Substanz vom Geist zu trennen.
ISLAM und sein «Bilderverbot» (s.o.)
Das Bilderverbot entstammt dem Alten Testament (Ex 20,4).
MYTHOS vom «Zerhauen eines Gordischen Knotens»
Unter dem «Zerhauen eines Gordischen Knotens» versteht man, ein Problem endlich lösen zu können, das bis dahin unlösbar erschien. Möglich wird das durch den Wechsel der Sichtweisen von der augenblicklich herrschenden, linearlogischen Dimension in die höhere triadische Dimension. Von jenem Sichtwechsel erzählt der Mythos von König Gordius und Alexander dem Großen:
Die Phrygier lebten einst in Anarchie. Nach einem Orakelspruch könnten sie sich von dem Chaos befreien, sofern sie sich einen König wählen würden. Auf die zweite Frage der Phrygier an das Orakel, wer das sein könnte, antwortete es, dass es ein Mann sei, der ihnen als Erster auf einem Wagen auf dem Weg zum Tempel begegnen würde. So geschah es und so wurde der einstige Bauer Gordius der König von Phrygien.
Der Wagen ist das Symbol der Bewegung (3). Der Tempel ist der Ort des göttlichen Ganzen (1) und das Ziel der Bewegung. Die Konstitution des Wagens aber war eine besondere. Die (eine) Deichsel war mit dem (polaren) Joch durch einen Knoten verbunden. Der Wagenlenker konnte sich auf die Unauflösbarkeit des Knotens verlassen. Er war der Schlüssel für sein Schicksal. Was der Gordische Knoten in der Substanz ist, das ist im Geist der «Weg zum Tempel». «Knoten» und «Religio» symbolisieren eine Sicherheit gebende Verbindung. Sucht man genau diese erste aller Beziehungen, die Urbeziehung in der Lehre der Archetypen, so findet man sie in der Beziehung des Archetyps Zwei zum Archetyp Eins analog der Beziehung des Menschen zu seiner Gottheit. Jene unauflösbare Urbeziehung der ersten zwei Archetypen ist das Zentralgeheimnis der Religionen.
Ihr Hervortreten ließ im ersten Teil der Erzählung den Bauer zum König werden. Der zweite Teil erzählt von ihrer Fortentwicklung und hebt in besonderer Weise das der Eins dienende Wesen der Zwei hervor, wodurch die Einheit sichtbar an Größe gewinnt. Der zweite Teil erzählt aber auch von der ständigen von der Zwei ausgehenden Gefahr, sofern man sie nur aus der linearen Perspektive betrachtet. Aus ihr heraus stellt die Zwei die Eins immer wieder in Frage. Beispielsweise erzählt man, dass der Knoten des Gordius nicht zu lösen war, weil er kein Anfang und kein Ende hatte. Diese Logik ist ihrem Prinzip nach richtig, denn ein ringförmiger Knoten unterliegt nicht dem fehlerhaften und einschränkenden Wesen der Linearität. Sie bleibt aber hinter der Botschaft des Mythos zurück. Der Versuch, seine Botschaft dinglich fassen zu wollen, bezeugt nicht mehr als die Allgegenwart des Wesens der Zwei und des Widerspruchs, die mehr will. Sie will eine höhere Dimension erfüllen und ihren Platz im größeren Ganzen einnehmen.
Es gibt immer eine Polarität und einen «zweiten Teil», der verwirrt, sofern man ihn nicht unter dem Gebot des ersten deutet. Das gilt auch für den Gordischen Knoten, der im zweiten Teil der Erzählung durch einen anderen und nun völlig neu erscheinenden Orakelspruch wiederum eine Wendung des Geschehens prophezeit. Wieder zielt das Orakel auf das Eröffnen einer höheren Dimension. Es verkündet, dass derjenige, der den Knoten lösen wird, nicht nur König, sondern der Beherrscher von ganz Asien sein wird.
Nach ungefähr 1000 Jahren stetig misslungener Versuche, den Knoten zu lösen, gelang es 333 Chr. Alexander dem Großen doch noch. Was dabei aus dinglicher Sicht zu seinem Gelingen geführt hat, ist heute strittig, eben zweifelhaft! Es gibt zwei abweichende Erzählungen. Die eine sagt, Alexander hätte mit nur EINEM Schwerthieb den Knoten durchschlagen, die andere meint, er hätte einfach den EINEN Deichselnagel herausgezogen. Die sich offensichtlich widersprechenden Erzählungen umschreiben dennoch ein und das gleiche. Sie erzählen von der Unauflösbarkeit der Archetypen Eins und Zwei, die sich wie ein «roter Faden» durch alle Theologien zieht. Tatsächlich eröffnete Alexander der Große eine neue und höhere Dimension indem er die Beziehung auf eine höhere Eben hebt, ihrem Prinzip nach aber nur forterzählt.
Der Faden der Ariadne ist ein Faden der Orientierung, genaugenommen ein Faden der Rückorientierung mit dessen Hilfe man aus dem Labyrinth des Lebens mit seinen grausamen Erscheinungen, wie den vom Minotaurus wieder herausfindet. Im Mythos hat der orientierende «Faden» keine Farbe. Hätte er eine, würde das den seinen hohen Anspruch konterkarieren, denn Farbe ist eine dingliche Zuordnung und der Mythos erzählt von Prinzipien und nicht wirklich von Dingen.
Der sogenannte «rote Faden», den der Volksmund kennt, verdankt seine Popularität Johann Wolfgang von Goethe. Sein weltbekannter Roman «Die Wahlverwandtschaften» erzählt von Vier in Liebesbande verstrickten Figuren. Nicht zufällig erwähnt der Dichterfürst im 2. Teil und im 2. Kapitel einen bei der englischen Marine vorkommenden roten Faden: «Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören».
Der rote Faden hat seitdem Furore gemacht, lässt aber nicht seine biblische Verquickung erkennen. Die finden wir im Buch Genesis in der 13ten Geschlechterfolge (siehe 13te Toledot), der sogenannten Josefs-Erzählung. Die wiederum schließt eine andere, kurze Erzählung ein, in welcher ein «roter Faden» Orientierung geben soll (Gen 37:2ff). Der mit dem roten Faden verbundene Plan wird dann aber von der Wirklichkeit eingeholt und das Gegenteil geschieht. Die ungewollte Umkehr der Umstände ist es dann, die zu einer Fort- und Höherentwicklung führt und schließlich sogar für Gerechtigkeit sorgt:
Nach der biblischen Erzählung hat Juda drei Söhne. Nachdem die ersten zwei kinderlos gestorben waren, hätte er dem Gebot der sogenannten Leviratsehe folgend seiner Schwiegertochter seinen dritten Sohn geben müssen und so für Nachkommen sorgen müssen. Das aber tat er nicht, denn er fürchtete, auch den dritten noch zu verlieren. Hier korrigierte ihn das Schicksal.
Judas Schwiegertochter Tamar verkleidete sich als Prostituierte und überlistete so ihren Schwiegervater. Sie wurde schwanger und gebar Zwillinge. Das Bild von der Geburt erzählt vom Zusammenwirken der drei ersten Archetypen und ihr Erleben durch den Menschen. Da der Archetyp der Eins prinzipiell die Regie führt, versuchen die Menschen ihm konkret zu folgen, so auch in der Erzählung um Tamar und ihre Zwillinge. Die Eins ist in Wirklichkeit aber eine Drei-Einheit und die erzählt, wie die linearlogische Perspektive immer wieder durchbrochen wird:
Als Erstes streckte sich eine Hand heraus. Die Hebamme band einen roten Faden darum, um den Erstgeborenen eindeutig wiedererkennen zu können. Doch der zog seine Hand zurück und so kam der Andere und Zweite der Zwillinge als Erster ins Dasein.
Der rote Faden der Bibel erzählt vom Ersten und dem Zwielicht, das ihn umgibt. Die Erzählung zeigt, dass das Geschehen nicht den gedachten Verlauf nimmt, sondern die gedachte Linearität durchbricht. Darüber hinaus erzählt sie dem interessierten Leser im Detail, dass dies über die Zahlenarchetypen 3, 6 und 13 geschieht und deren Wirkung aus dem Ungreifbaren, der Sieben heraus kommt. Die Sieben ist Gegenstand der Josefs-Erzählung, der Haupterzählung der 13ten Geschlechterfolge (Toledot).
Diese späte und letzte Geschlechterfolge der Genesis lässt trotz zahlreicher Details nicht erkennen, weshalb es gerade die Farbe rot ist, die in besonderer Weise der Orientierung dient, obwohl deren Signalwirkung allgemein bekannt ist. Genaueres erfahren wir, wenn wir auf den ersten kanonischen Text, die Genesis zurückgreifen. Aus ihrem grundlegenden Text entwickeln sich alle späteren Menschengeschlechter. Ihr Kern ist die im wörtlichen Sinn zu verstehende, wesentliche Verbindung der Archetypen 1 und 4 (1-4…) die ich an anderer Stelle als die Formel der Formeln beschrieben habe. Aus ihr entsteht der Begriff «Mensch» (hebr. Adam = 1-4-40) der identisch mit dem Begriff des (fruchtbaren) «Erdbodens» und identisch mit dessen Farbbezeichnung «rotbraun» ist. Der Mensch ist das Wesen, das unter allen anderen im Rückblick auf die Botschaft der Ur-Formel eine Orientierung findet. Er schafft es über die «Religio», sein Bewusstsein am Höheren und Geistigen aufzurichten. Die mit ihm am gleichen Tag erschaffenen drei Arten von Geschöpfen, die Kriech-, die Herden- und die Wildtiere blicken «nach unten» auf den Erdboden. Der Mensch schaut im Wissen um seine Konstitution nun aber auch und vor allem «nach oben». Doch er beachtet und würdigt seinen Ursprung. Die schon zur ersten Geschlechterfolge gehörende Paradieserzählung benutzt dafür die Metapher eines «Quellstrahls» (1-4) , der von der Oberfläche des Erdbodens aufsteigt, die Erde tränkt und das andere, neue und bewusste Leben erhebt (Gen 2:6).
Fußnoten
¹ Die minoische Kultur umfasst den Zeitraum von 2800 bis 900 v. Chr. und wird in vier Zeiten unterteilt.
– frühminoischen Zeit von 2800 bis 1900 v. Chr
– erste Palasepoche von 1900 bis 1700 v. Chr.
– zweite Palastepoche von 1700 bis 1450 v. Chr.
– mykenische Periode von 1450 bis 900 v. Chr.
² Den Grund findet man in ihrem Vater, dem Sonnengott Helios, der alles sieht. Er hatte einst auch das bekannte und unerlaubte Liebesabenteuer des Ares mit der Aphrodite beobachtet und wahrscheinlich verraten. Die davon erfahrenen Götter lachten darüber, doch Pasiphae kultivierte die Spannung zur Aphrodite und ihrem Wesen.
³ Die Quellen berichten zumeist nur, dass Theseus bei dem anstehenden dritten Tribut nach Kreta aufbrach. Manche Überlieferungen glauben zu wissen, dass es das 18te Jahr der Tragödie mit dem grausamen Tribut war. Dass als Beginn der dritten Fälligkeit hier nicht das 19te Jahr, sondern explizit das 18te genannt wird, hebt den Blickwinkel hervor, mit dem der Mythos betrachtet werden soll und das ist nicht der zählende, sondern der erzählende Blickwinkel. Für den Betroffenen ist der zunächst ein linearlogischer und notwendig ein konkreter und erdverhafteter, von dem aus er den Wechsel in eine neue und höhere, eine «dritte Dimension» bewerkstelligen muss.
Welche Situation die Zahl 18 umschreibt, das zeigt der von mir vorgestellte «Fluss der Zahlen», der den linearlogisch verlaufenden Zahlenstrahl mit der triadischen Sicht auf die Zahlenarchetypen vereint. In ihm markiert die 18 das Ende des zweiten großen Dreiecks und zeigt den Höhepunkt der erdhaften Existenz an. In Verbindung mit der immer auch ausdrücklich genannten die Zahl Drei geht es in der sich in der Zahl 18 erhebenden Aufgabe um einen verbindenden und verbindlichen Übergang – einen Sprung – in die neue Dimension des dritten Dreiecks (s. III). Die Zahl 19 erzählt sodann davon, dass das Erdhafte und Lineare bereits überwachsen ist. Das Wesentliche des Mythos ist hier allerdings noch der anstehende und notwendige Dimensionswechsel. Eine andere und spätere verwendete Zahlenmetapher dafür dessen Notwendigkeit ist die Zahl 666. Ihr begegnen wir im Christentum in Verbindung mit der Erzählung von der Apokalypse.
⁴ Hes 18:2 «Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne stumpf».
⁵ S. Daminai-Indelicato: Were Cretan girls playing at bull-leaping? In: Cretan Studies. Band 1, 1988, S. 39–47.
⁶ Jeff Saward: Thundersley, England, 2005, überarbeitet März 2017; Das Labyrinth der Kathedrale von Chartres. Jeff Saward gibt die Quelle Jean Shinoda Bolen in seinem Aufsatz «Zum Labyrinth der Kathedrale von Chartres» (siehe «labyrinthos.net») wie folgt an:
«In mehreren Büchern wird die Weglänge mit 666 Fuß angegeben, eine Zahl, die sicherlich zu schön ist, um wahr zu sein, wobei oft Jean Shinoda Bolens „Crossing to Avalon“ aus dem Jahr 1994 zitiert wird. Als Quelle gibt Bolen jedoch Barbara Walkers „The Woman’s Dictionary of Symbols & Sacred“ an Objects (1988), das wiederum Elizabeth Peppers und John Wilcocks „Magical & Mystical Sites“ aus dem Jahr 1976 zitiert. Wenn wir uns dieser Quelle zuwenden, stellen wir fest, dass diese Informationen aus einem unbenannten „alten Buch über das heidnische Rom“ stammen, was eindeutig keine verlässliche Grundlage dafür darstellt späterer Glaube an diese fast magische Weglänge.»
⁷ Off. 13:18 «Der Verstand (Weisheit) Habende berechne die Zahl des Tieres. Denn Zahl eines Menschen ist sie. Und seine Zahl (ist) 666.» (wörtliche, interlineare Übersetzung n. Dietzfelbinger, Hänssler Verlag 2008)
⁸ Das geometrische Gleichnis, dass diesen Dimensionswechsel ins Bild setzt, ist das Hexagramm. Das Hexagramm symbolisiert die Formel «wie innen, so auch außen». Sechs im Kreis angeordnete Kreise bringen einen siebten Kreis in ihrer Mitte zum Erscheinen, der den gleichen Radius hat, wie die ihn erzeugenden Außenkreise (siehe Abb. A).
In der von mir vorgestellten «Flussform der Zahlen» kommt die Welt in ihrem konkreten Dasein (2tes Dreieck) durch drei Archetypen, durch die Substanz (4), das Bewusstsein (5) und die Wirkung (6) zum Erscheinen. Stellt man das Zusammenwirken der drei Archetypen (4, 5, 6) im Dreieck (3) auf eine Weise dar, die das Dreieck selbst als 6 erscheinen lässt, also mit der Seitenlänge a = 6 und würdigt zudem die in seinem Inneren wirkende Ganzheit als Kreiserscheinung, so erfährt man Erstaunliches (siehe Abb. B). Dieser innere Kreis spannt in sich ein Quadrat auf, dass die Fläche 6 hervorbringt. Das ist nicht ohne Bedeutung, denn das im konkreten Dasein existierende Subjekt fragt naturgemäß immer auch nach der Substanz (4 = Quadrat) aller Erscheinungen und so auch immer wieder nach der Substanz der letzten und «inneren Gottheit». Sie erweist sich in diesem Fall als Sechs/Sex – dem Kern des Labyrinhts.
In diesem Zusammenhang muss auch die noch weiterreichende Botschaft des pythagoreischen Dreiecks mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 Erwähnung finden. Das besondere Dreieck erfasst das «Schiefe» im Labyrinth des Lebens und das mit ihm einhergehende rechte Verhalten des Subjekts (5), das den Geist (3) mit der Substanz (4) verbindet und das höherdimensionale Wesen der Sechs (Fläche 6) hervorbringt (siehe Abb. C).
⁹ Das Phänomen greift der Koran auf und entwickelt am Wesen der 19 die in ihm vorgetragenen Weisheiten zu einem neuen Ganzen. Das umfasst nicht nur die Anzahl der 114 Suren (6 x 19). Sehr viele seiner Details bauen auf dem Wesen der 19 auf bis einschließlich der Berichte über seine Offenbarungen. Auch die 114mal vorkommende und vor 113 Suren stehende und aus vier Wörtern bestehende Basmalla besteht aus 19. Teilen (Buchstaben).
¹⁰ Entnommen aus Albrecht Beutelspacher: Luftschlösser und Hirngespinste, Vieweg-Verlag, Braunschweig 1986, S. 3, ISBN 3-528-08957-1.
¹¹ Albrecht Beutelspacher: Luftschlösser und Hirngespinste, Vieweg-Verlag, Braunschweig 1986, S. 3, ISBN 3-528-08957-1.
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