Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

Leonardo da Vinci und der vitruvianische Mensch

von Michael Stelzner

Inhaltsverzeichnis

1. Die Popularität der Abbildung und ihre Gründe

Kaum eine andere Abbildung hat einen solchen Bekanntheitsgrad wie die des sogenannten, vitruvianischen Menschen. Man begegnet dieser Abbildung im Alltag regelrecht auf Schritt und Tritt. Die Gründe sind leicht erkennbar:

Der Mensch sucht nach seinem Selbstverständnis, nach dem Sinn seines Daseins und nach seinem Platz in der mitunter undurchschaubaren Schöpfung.

Wenn wir den vitruvianischen Menschen betrachten, dann drängt sich uns unmittelbar der Eindruck auf, dass Leonardo da Vincis in seiner berühmten Skizze die Antwort auf unsere Fragen verborgen hält. Das komplizierteste aller Wesen wird unmittelbar mit den beiden einfachsten, geometrischen Symbolen, dem Kreis und dem Quadrat in ein Verhältnis gesetzt. Selbst wenn wir die in ihr verborgene, tiefgründige Aussage noch nicht zu deuten vermögen, so erkennen wir doch, dass unsere Frage nach der menschlichen Existenz die Frage nach dem Zusammenhang vom Kompliziertesten mit dem Einfachsten ist. 

2. Der Mensch und sein vergessener Schatten

Das komplizierteste aller Wesen, der Mensch, ist ausgespannt zwischen Himmel und Erde, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit (Unendlichkeit und Endlichkeit), zwischen Ideal und Wirklichkeit – zwischen Kreis und Quadrat. Alles Existierende scheint auf ihn regelrecht hingerichtet zu sein, und ihm kommt die größte Machtfülle zu. Kein Wesen ist der Vollkommenheit seines Schöpfers so nah, und doch erzeugt dieses Wesen mit jedem seiner Gedanken und mit jeder seiner Handlung Schatten. Menschliche Existenz ist nicht anders denkbar als eine Existenz durch Schatten – mehr noch, sie ist Schatten. Das bringt die Skizze Leonardos in ihrem Original zum Ausdruck.

Der Mensch ist in seinen unterschiedlichen Erscheinungen bzw. in seiner von ihm erzeugten Dynamik von Schatten umgeben. Die Nachzeichnungen der Originalskizze lassen in Unkenntnis der Symbolik, den Schatten mitunter vermissen. 

3. Proportion: zählende Zahl oder erzählender Archetyp

Der Mangel an Symbolverständnis lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters ausschließlich auf die rechnenden und zählenden Aspekte der Skizze anstatt auf den erzählenden Aspekt, welcher hinter ihr steht.

Wir wollen uns nun dem vitruvianischen Menschen unter dem rechnenden Aspekt nähern, ohne dabei den symbolischen Aspekt zu vergessen.

Der vitruvianische Mensch ist eine menschliche Proportionsfigur analog der Proportionsregel des römischen Architekten Vitruv (ca. 80–70 v. Chr. bis ca. 10 v. Chr.). Nach ihm wird ein Mensch mit gespreizten Extremitäten so in einen Kreis eingezeichnet, dass diese den Kreisumfang berühren. Der Nabel des Menschen entspricht dem Kreismittelpunkt. Nach Vitruv findet man in der Gestalt des Menschen auch noch die Figur des Quadrats. Über die Lage dieses Quadrats im Verhältnis zum Kreis berichtet Vitruv nichts. 

Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.“ (Vitruv)

Während zahlreiche andere Illustratoren der vitruvianischen Proportion die Mittelpunkte von Kreis und Quadrat zur Deckung brachten, wie dies die nebenstehende Abbildung zeigt, wählte Leonardo eine darüber hinausgehende Sichtweise und Interpretation. Er verbindet Kreis und Quadrat nicht aufgrund ihrer eigenen geometrischen Parameter, sondern lässt zwischen beiden eine offensichtliche Differenz zu. Kreis- und Quadratmittelpunkt fallen bei ihm nicht zusammen. Die Verbindung beider Figuren ist nur noch eine periphere. Die Differenz wird zum Gewinn für den Menschen. Leonardo macht ihn mit seinen unterschiedlichen Kriterien zum Zentrum beider. 

Die so andere Sicht Leonardos begründet sich in seiner anderen Sicht auf die Polarität im allgemeinen und die des Menschen im besonderen. Sie wird im Verhältnis der beiden geometrischen Figuren Kreis und Quadrat deutlich. Ihr rein geometrischer Bezug zueinander ist bekannt und existiert unabhängig vom Menschen. Der Mensch realisiert aber mit seinem Bewusstsein die in beiden Formen enthaltenen und sich voneinander unterscheidenden Archetypen. Dabei stellt er fest, dass sie sehr unterschiedliche Welten verkörpern und dass sich ihre Parameter nicht auf eine einfache, linear-logische Weise verbinden lassen. 

4. Die „Quadratur des Kreises“, Einheit und Zweiheit als Archetypen

Wir wissen, die Quadratur des Kreises ist uns nicht möglich: Mit den für die geometrischen Figuren typischen Parametern, Zirkel und Lineal, lässt sich kein Kreis in ein flächengleiches Quadrat verwandeln. 

Die Unterschiedenheit (2) beherrscht das Verhältnis von Kreis und Quadrat. Und doch besteht trotz ihrer Unterschiedenheit eine tiefsinnige Verbindung zwischen beiden. Sie wird deutlich über die Sicht der Archetypen, welche Kreis und Quadrat verkörpern. Der Kreis, das Symbol der Einheit, bildet als Kreis mit dem Radius 1 (Einheitskreis) in sich ein Quadrat mit der Fläche 2 ab! Mit anderen Worten: Die allen Erscheinungen zugrunde liegende Einheit schließt die von ihr unterschiedene (2) und doch von ihr geprägte Welt des Quadrats (4) ein. Die Welt (4) wird von der Ganzheit (1) erhalten!

Die Unterscheidung von Kreis und Quadrat ist eine archetypische, eine Ur-Unterscheidung zwischen den Zahlen 1 und 2, die hier geometrisch abgebildet wird. Sie ist keine linear-logische, d.h. rational rechnerische sondern setzt eine Sichtweise voraus, zu welcher nur das höhere Bewusstsein des Menschen fähig ist. Der Mensch vermag so Dinge zu einen, welche scheinbar keinen Bezug zueinander haben.

Leonardo trägt mit seiner Illustration des vitruvischen Menschen diesem Umstand Rechnung. Für ihn ist der Mensch Maß und Mittelpunkt der voneinander unterschiedenen Archetypen Kreis und Quadrat.

Um das deutlich zu machen, hebt er die Zweiheit, die Unterscheidung ausdrücklich hervor und bedient sich ihrer. Im Gegensatz zu anderen Illustratoren überlagert Leonardo zwei Menschen in von einander unterschiedenen Haltungen. Der eine bildet nach der Vorgabe Vitruvs mit seinen Nabel den Kreismittelpunkt, der andere bildet mit seinen Extremitäten ein Kreuz und zugleich mit seinem Genital den Mittelpunkt des Quadrats. Die sich in ihrem Wesen unterscheidenden geometrischen Figuren Kreis und Quadrat stehen bei Leonardo nur in einem peripheren Kontakt. Sie finden ihren Bezug durch den Menschen. Das eine Abbild des Menschen wird über seinen Nabel aus dem Kreis, dem Sinnbild für Ganzheit und Vollkommenheit heraus geboren. Das andere Abbild stellt den Menschen über sein Genital in den Mittelpunkt des Quadrats, dem Sinnbild der von der Sexualität durchdrungenen Welt. 

Leonardo enthebt den Menschen nicht der Zweiheit, der er seine Existenz verdankt. Vielmehr formt er dessen Polarität aus und macht sie so sichtbar zu seinem Bestand. Nach Leonardos Illustration hat der Mensch zwei Zentren, den vorgeschlechtlichen, göttlichen Nabel und das aus ihm herausgeborene, der Welt zugehörige Geschlechtsmerkmal.

5. Der nicht vorhandene goldene Schnitt

Die durch den Menschen gehaltene Spannung wird dem eingehenden Betrachter dann noch einmal besonders deutlich, wenn er die Figuren Kreis und Quadrat in Leonardos Zeichnung auf rein geometrische Weise in Einklang zu bringen versucht. Quadrat und Kreis stehen nicht, wie man vielleicht erwartet, und wie gelegentlich auch behauptet wird, im sogenannten, legendären goldenen Verhältnis. Der Kreisradius weicht gegenüber der Seitenlänge des Quadrates um ca. 2% vom goldenen Schnitt ab. Auch sind Kreisumfang und Quadratumfang nicht identisch, wie das beispielsweise bei der Konstruktion der Cheopspyramide der Fall ist (die Höhe der Cheops entspricht dem umfanggleichen Kreis zum Basisquadrat der Pyramide). In Leonardos Skizze weichen auch sie um nahezu 2% voneinander ab.

Der Text über die Sintflut führt das Prinzip des Verneinens im Sinne eines bewussten Selektierens an den Zahlen Sieben und Zwei vor Augen: „Von der Gesamtheit des reinen Herdentiers sollst du zu dir nehmen, sieben (zu) sieben, (das) Männchen und sein Weibchen und von dem Herdentier, das nicht (30-1) rein ist, zwei, (das) Männchen und sein Weibchen“ (Gen 7:2).

Die Reinheit, Ganzheit und Vollkommenheit wird der Sieben zugeordnet, das Unreine hingegen der profanen Zwei und Zwiespältigkeit. Doch wird durch das Zusammenkommen beider Archetypen in der Arche der Zwiespalt aufgelöst. Arche bedeutet „Kasten“ und ein solcher verkörpert die dreidimensionale Form der Vier. In der Arche kommen die dimensionsunterschiedenen Gegensätze zusammen, wie in der Vier die Archetypen Eins (1) und Zwei (2) zu einer Form (4) verschmelzen. Der Text unterstreicht das Wirken der Vier (1+24) in Form der Arche, indem zwei Generationen in die Arche gehen, NOAH und seine Frau, sowie seine drei Söhne, samt ihrer Frauen. Die insgesamt acht Menschen bilden in sich eine auf der Vier beruhende Polarität ab (23 = 2 x 4). Zu ihr kommt eine Vierheit von Tieren in die Arche: „Von dem ((1)) reinen Herdentier und dem ((2)) Herdentier, das »nicht-ist« (1-10-50-50-5) rein und von ((3)) den Vögeln und ((4)) alles was auf dem Erdboden kriecht“ (Gen 7:8). Die insgesamt drei Vierheiten (3 x 4) führen zur 12, der Zahl der Ordnung. Die Ordnung ist eine solche, weil in ihr die unterschiedlichen Manifestationen (4) ein Ganzes bewirken (3). In der Erzählung von NOAH und der Sintflut fällt vor allem die vertikale Unterscheidung im Sinne des Erhebens des Bewusstseins (5) ins Auge. Die aber kommt nur zustande, weil auch die in der Linearität und im Horizontalen existierenden lebendigen Wesen mitgenommen und eingeschlossen werden, analog der Zahl 12 welche auf lineare und horizontale Weise von der „geordneten“ Ganzheit erzählt, welche die Einheit (1) und die Zweiheit (2) hierarchisch korrekt miteinander verbindet. 

Die 3te Toledot gebraucht deshalb nicht zufällig insgesamt 12 Verneinungen. Sie ist einerseits eine verneinende Erzählung. Das Schicksal (7) des Zurücklassens von Leben sowie das Auftauchen von Spannungen zwischen NOAH und seinen Söhnen aufgrund des bis dahin nicht gekannten Weingeistes machen das sichtbar. Sie ist anderrseits aber vor allem auch eine Erzählung von der Ganzheit, die das Andere und Verneinende einschließt, wie es die Zwölfzahl 12 der Verneinungen berichtet. Die 12 Verneinungen werden 11mal mit dem starken „lo“ (30-1) gebildet. Die zweite Verneinung (s.o. Gen 7:8) aber hat eine andere Struktur. Sie besteht aus dem an sich fragwürdigen „nicht-sein“ (1-10-50), wie es erstmals in der 1ten Toledot (Gen 2:5) gebraucht wird. Dort wird das Prinzip der Verneinung an sich vorgestellt und die Form des „nicht-sein“ ist dabei die vierte Verneinung in der Vierergruppe (siehe oben / Gen 2:5).

Erwähnenswert weil möglicherweise ebenfalls nicht zufällig, ist, dass die Zahlenkombination 30-1, wie auch immer sie zustandekommt, in der 3ten Toledot 22mal erscheint und damit die Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets entspricht. Mit Hilfe jener 22 Buchstaben erfassen wir die Konstitution des Bewusstseins (5) und seines Erhebens über das Profane.

Bringt man die Botschaft der 3ten Toledot auf den Punkt, so berichtet sie vom Erheben des Bewusstseins, das in seiner Vollkommenheit den Tod vom Leben umschließt. Die Erzählung von NOAH und seiner „Gerechtigkeit vor der Gottheit“ endet deshalb noch immer mit dem Satz „Und er starb“ (Gen 9:29). Man möchte hinzufügen „wie seine einstigen Mitmenschen, nur mit höherem Bewusstsein und auch später“.

6. Die Weisheit des Leonardo da Vinci und der Gegensatz im Geschlecht

Leonardo hat Vitruv nicht nur illustriert. Er hat die maßgebenden Hintergründe der menschlichen Existenz offengelegt und interpretiert. Nichts Geringeres war seine Absicht. Diese, seine Erkenntnis hat er in seinen Werken versucht umzusetzen. Seine höchsten Meisterwerke, welche er Zeit seines Lebens nie aus seinen Händen gab und welche seinen persönlichen Wohnraum zierten, waren zwei Bilder: Mona Lisa und Johannes der Täufer. In ihnen hat er seine höchste Erkenntnis auf gegengeschlechtliche Weise buchstäblich verbildlicht. 

Fußnoten

¹ Pythagoras: „Die höchste Weisheit eines Menschen besteht darin, Dinge zu einen, welche scheinbar keinen Bezug zueinander haben.“

 … dazu einen Tagebucheintrag von Leonardo da Vinci: 

„Gebildete Männern werden sich ansehen, was ich tue und das als nutzlos bezeichnen.

Doch die Worte, die ihren Mündern entwehen, sind so weise, wie der Wind der Fürze aus ihren Ärschen. Was für Idioten! “

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