Der Vollständigkeit halber muss hier eine andere und fünfte Salbung Erwähnung finden, die unmittelbar mit dem Tod und der Auferstehung des Erlösers in Verbindung steht. Mit dessen Tod und Auferstehung tritt ein neues Bewusstsein hervor, das Gottesbewusstsein. Das führt zu einen ambivalenten Blick auf das Salben. Einerseits würdigt es das Salben als Ritual. Andererseits wird es ebenso hinfällig, denn das Ritual ist nicht die Wirklichkeit. Es bildet sie nur ab. Das Ritual vertritt eine aus der niederen Perspektive noch nicht greifbare Dimension, die über das Ritual im Bewusstsein zur Wirkung kommt. Jenen neu erscheinenden Zwiespalt artikulieren die Evangelien in der sogenannten Totensalbung.
Die jüdische Tradition kennt die Totensalbung. Sie wertet den Tod auf und schließt ihn ins Leben ein. Im Wissen um die Archetypen, ihre Ordnung und ihre Botschaften, erübrigt sich letzten Endes jedoch das Ritual, da man in der Schau der Vier schon das erkennt, was am mit ihm bewirkt, nämlich die Gegenwart der Ganzheit und Vollkommenheit in Einheit mit dem Anderen. Aus der Sicht der Salbenden ist sie Ausdruck des Willens, der noch immer verlorengeglaubten Ganzheit zuzustreben. Streng genommen verfehlt das Ritual der Totensalbung die neue Wirklichkeit. Es schafft nur einen vorübergehenden Ersatz für das Ungreifbare und es wird zudem von der Wirklichkeit überholt. Von beiden Aspekten erzählen die Evangelien.
Die Salbung des Leichnams JESU betrifft JOSEPH v. ARIMATÄA und NIKODEMUS einerseits und andererseits die der Kreuzigung zuschauenden Frauen unter denen MARIA MAGDALENA herausragt. Die zwei Männer salben den Leichnam wirklich am Tag der Kreuzigung, also am Tag Eins. Die Frauen hingegen beabsichtigen nur die Totensalbung am Tag Drei, dem Tag der Auferstehung. Dazu kaufen sie wohlriechende Öle, finden dann aber nur noch das leere Grab vor. Ihre in die Zukunft gerichtete Absicht wird von der Drei und Wirklichkeit am dritten Tage überholt.
Wirklich gesalbt wurde der Leichnam JESU nur durch zwei Männer JOSEPH v. ARIMATÄA und NIKODEMUS, die zu seinen heimlichen Jüngern zählten. Ersterer erhielt von Pilatus den toten Körper und NIKODEMUS besorgte Myrrhe und Aloe mit denen »die Zwei am Tag Eins» (!) ihren Erlöser salben (Joh 19:38ff). Der hier erstgenannte Tag ist der Todestag und es ist der Tag der Salbung. Hinter dem Bild steht der direkte Bezug der Archetypen Eins und Zwei, um den es endlich immer geht.
Wer aus der wirklichen Salbung des Erlösers durch die Männer vorschnell den Schluss zieht, dass deren frühzeitiges, aktives Handeln sie über die Frauen erhebt, der verkennt die Unvollkommenheit ihres Daseins. Die zwei Männer sind auf verschiedene Weise Gefangene in ihrer Welt, obwohl sie um die Existenz einer höheren wissen. NIKODEMUS glaubt an die Botschaft JESU, ist jedoch vollständig im linearlogischen Denken gefangen und kann eine über die dingliche Dimension hinausreichende Dimension nicht erfassen (Joh 3:1ff; 7:50f). Doch tut er das ihm Mögliche und nutzt sein Vermögen, um im Ritual und seinen Symbolen über den Augenblick hinauszuweisen. Darin sehen die zwei Männer den Sinn der Salbung des Leichnams JESU. Die Welt des NIKODEMUS ist die der Substanzen. Er kauft die Öle. Die Welt des mitsalbenden JOSEPH v. ARIMATÄA ist vorwiegend die des frühzeitigen Handelns. Auch er ist noch ein in einer linearlogischen Weltsicht gefangen. Doch handelt er seinem rechten Bewusstsein entsprechend und tut sein Möglichstes. Er lehnt den Tod nicht ab, sondern empfängt und würdigt ihn.
Die vier Evangelien lassen die Totensalbung in einem wechselnden Licht erscheinen. MARKUS, LUKAS und JOHANNES berichten direkt von ihr. Bei MARKUS und LUKAS, dem Zweiten und dem Dritten kaufen die Frauen die Öle, kommen aber wegen der Auferstehung nicht zur Ausführung (Mk 16,1; Lk 23,56). Bei MATTHÄUS und JOHANNES, dem Ersten und dem Vierten ist das anders. Sie rahmen die vier Erzählungen indem sie auf gegensätzliche Weise eine Einheit bilden. Der Erste erwähnt die Totensalbung erst gar nicht. Sein Bericht ist von der Einheit und Ganzheit durchdrungen. Er erzählt in dem Zusammenhang von der «Reinheit des Leinentuchs» (Mt 27,59), dem «völlig neuen Grab» (Mt 27,59), dem «reinen Weiß des Schnees» (Mt 28,3) u.a. Dies alles sind Attribute der Eins. MATTHÄUS artikuliert über sie die Herrschaft der Vollkommenheit. Der Vierte erzählt scheinbar etwas völlig anderes. Bei ihm sind es die zwei Männer JOSEF von ARIMATHÄA und NIKODEMUS (Joh 19,39f). Es sind «Fremde». Doch geht die Fremdheit mit der Vollkommenheit Hand in Hand. Das symbolisiert die in dem Zusammenhang genannte Zahl 100, in der die Eins und Einheit durch die Zwei und Null zweifach erhöht wird. Über die Zweizahl der Männer zeigt der vierte Evangelist JOHANNES, dass die Vier alle Zweiheit und Zwiespältigkeit und jeden Wechsel einschließt.
Die Evangelien stellen die Totensalbung nicht nur in ein wechselndes Licht, sie nennen in Bezug auf sie auch stets andere Subjekte. Sind es bei Markus noch «die MAGDALENERIN und die Mutter» (Mk 16,1), welche beabsichtigen den Leichnam Jesu zu salben, so sind es bei Lukas nur abstrakt «die Frauen» (Lk 23,56) und bei Johannes sind es die zwei bereits erwähnten «Männer» (Joh 19,39f). Auch diese Struktur erzählt von dem einen und letzten Gesetz der Vier, dass die Zwei erhebt und ihr den ihr gebührenden Platz zuweist.