Die Erzählungen von der Kreuzigung JESU verbildlichen die alles umfassende Verbindung von Gegensätzen. Sie beinhalten nicht nur die Widersprüche in der Welt, sondern ergreifen auch die Verbindung des Diesseitigen mit dem Jenseitigen und zeichnen darin eine fortlaufende und universelle Dynamik aus, die sich über die profane Polarität und ihre Hilfsgrössen Anfang und Ende erhebt. Ihr Archetyp ist die Dreizahl.
Wenn die Erzählungen, wie es vordergründig erscheinen mag, ausschließlich die männliche Perspektive einnehmen würden, dann würden sie dem verbindenden Charakter dieser letzten und höchsten christlichen Inszenierung eklatant widersprechen. Das aber ist nicht der Fall. Alle biblischen Texte geht es endlich um die Triade und mit ihr auf eine veränderte Sicht auf den Archetyp der Zwei, denn jegliche Dynamik entspringt der Zwei.
Welchen Bezug die Frauen zum Geschehen am Kreuz haben, beschreibe ich detailliert im gesonderten Aufsatz «« Die «Frauen und das Kreuz» im Licht der vier Evangelien »». Die Evangelien klammern die Frauen und die von ihnen ausgehende Dynamik keineswegs aus. Vielmehr entwickeln sie eine eigene, in sich geschlossene Sicht und ergänzen damit die vordergründig beschriebene männliche Sicht. Alle vier Evangelisten tragen ihrem Charakter nach dazu bei (Mt 27,55f; Mk 15,40f; Lk 23,48f; Joh 19,25). Drei von ihnen, MATTÄUS, MARKUS und JOHANNES benennen jeweils drei Frauen. Immer wird zwei von ihnen der Name MARIA zugeordnet. MARIA ist das Symbol für das vollkommene, weibliche Prinzip, dass in seiner Vollkommenheit auch das Andere und scheinbar Unvollkommene einschließt. MARIA ist die personifizierte Vierzahl. Dem «Gesetz der Vier» entsprechend erlöst sie die profane Zwei und den mit ihr einhergehenden Zwiespalt und fügt ihn fruchtbar in ein neues Ganzes ein.
JOHANNES der vierte Evangelist bringt den Zwiespalt zwischen den drei jeweils namentlich genannten Frauen, von denen jedoch nur zwei MARIEN sind, auf den erlösenden Punkt. Auch bei ihm fehlt bei einer der Frauen der Name MARIA, doch lässt er keinen Zweifel mehr darin aufkommen, dass es sich ebenso um eine MARIA handelt, denn er benennt sie unmissverständlich als die «Mutter von JESU» (Joh 19,25)
Die weibliche Sicht auf die Kreuzigung, die in den Erzählungen der Evangelisten über drei Frauen thematisiert wird, steht nicht für sich allein. Wie die männliche der weiblichen Sicht bedarf, verhält es sich auch umgekehrt. Auch die weibliche Sicht bedarf der männlichen. Beide Sichtweisen werden erst durch die jeweils andere vollkommen. Erst wenn die drei unter dem Kreuz stehenden und aufwärts schauenden Frauen (▲) mit den drei gekreuzigten und abwärts schauenden Männern (▽) als eine Einheit gesehen werden, entsteht das Wunder der Sechs, das eine neue Daseinsebene manifestiert (▲+▽➜✡). Der Augenblick des Wunders ist der, in dem die Frau MARIA MAGALENA das leere Grab entdeckt und somit den Tod relativiert.
Das Bild der Kreuzigung ist ein Gleichnis, das auf das Ur-Muster aller Sprachen, auf die Archetypen zurückgeführt werden kann. Das erfahren wir von Matthäus, dem ersten der vier kanonischen Evangelisten: „Dies alles redete Jesus in Gleichnissen zu den Volksmengen, und ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen“ (Mt 13,34).¹
Die Geometrie dient dem Verständnis der Gleichnisse in besonderer Weise. Anhand der nachfolgenden Abbildung möchte ich das Kreuzessymbol und die in ihm eingeschlossenen Weisheiten erhellen. Die dargestellte Geometrie baut auf dem Einheitskreis (r = 1), dem Symbol für die Einheit und Vollkommenheit auf. Jene göttliche Ganzheit umschließt ein Quadrat der Fläche 2. Das Verhältnis des umschließenden Einheitskreises zu dem umfangenen Quadrat gleicht dem Verhältnis der Gottheit (1) zur Welt der Dinge (4). Sie ist ebenso wenig auf linearlogische Weise zu erfassen, wie eine Berechnung der »Quadratur des Kreises« vollkommen sein kann. Wohl aber kann man in der Schau des Musters die wahre Beziehung der Zwei zur Eins und die die sie ausmachenden Entitäten als Archetypen erkennen. Die Geometrie erzählt darüber hinaus von der Vermittlerrolle der Sechs (Hexagramm) in der Beziehung. Über die vollkomme Zahl 6 wird die Gleichheit von Innen und Außen, d.h. von den sechs umgebenden und dem siebten, zentralen Kreis offensichtlich. Die Sechs erlöst die Zwei vom Verdacht der Sünde, analog der MARIA MAGDALENA, die das leere Grab Christi vorfand.

Abb. 2 Das Kreuzsymbol (4) erwächst aus dem Einheitskreis (1). Es entlässt und umfasst den Archetyp der Zwei in Form des Quadrats der Fläche 2. Das die Archetypen verbindende Wirkprinzip ist das der Sechs.