Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

Der Merismus im biblischen Prolog und im Paradiesgeschehen

von Michael Stelzner

Der Prolog der Bibel besteht aus vier zusammenhängenden Sätzen. Jeder für sich greift das Wesen der Polarität auf einer jeweils höheren Ebene auf und artikuliert diese in Form eines sogenannten Merismus.

Der Merismus (grch. μερισμός / «merismos», teilen, trennen) erwächst seiner Bedeutung nach zunächst aus der Zahl Zwei und dem «Zweimachen». Über die zwei kontrastierenden Teile wird zum einen ihre Gesamtheit ausgedrückt. Zum anderen macht der Merismus auf ein verbindendes Drittes aufmerksam. Letzteres ist seine wirkliche (3), entscheidende (3) Botschaft.

Im ersten Satz, dem «Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde» kann man seine Funktion inhaltlich nachvollziehen, noch nicht aber lautlich. Das geschieht dann im zweiten Satz, den Luther mit «Und die Erde war wüst und leer» übersetzt. Die Übersetzung wird dem in ihm enthaltenen Merismus «tōhû wabōhû» aus vielen Gründen nicht gerecht. Treffender wäre beispielsweise die Übersetzung «Und die Erde, sie war Verlangen und Gegenverlangen». Sie würde dem Merismus, der auf vier verschiedene Weise hinter jeden den vier Prologsätze steht, näher kommen. Das gilt insbesondere im Bezug des zweiten Satzes zum ersten.

Konkret geht es im ersten Satz nicht darum, mit «den Himmeln und der Erde» das Ganze zu beschreiben, das auch die Teile zwischen den beiden Erscheinungen einschließt. Das wäre eine rein linearlogische Interpretation. Es geht um die Würdigung des Gegensatzes, also um die Würde der Zwei. Die jedoch gelingt nur, wenn sie im Kontext der Drei-Einheit geschieht und die umfasst ebenso das Würdigen der Eins UND der Drei alias der Ganzheit (1) und der aus dem Gegensatz hervorgehenden Funktion (3). Der verkürzte und unvollständig verstandene Merismus hingegen schließt von dem Dasein zweier Pole direkt und ausschließlich auf ein Ganzes, ohne das Dritte in seiner verbindende Funktion zu würdigen. Die aber ist es, die das Ganze erst zur Anschauung bringt. Um sie, das triadisch konstituierte Ganze geht es in Wirklichkeit. Es geht um das Ganze, das «wirkt»!

Was der Prolog aussagt, das wird durch die ersten Subjekte, Mann und Frau später auf der Ebene des Bewusstseins weiter ausgeführt. Wer von der Frucht des Baumes isst, der das Erkennen von «Gutem und Bösem» (siehe Gen 2,9) möglich macht, der muss die Wirklichkeit, das Wirken (3) in sich aufnehmen und selbst wirken, wie das die «Zweite», die Frau im Paradies dann auch getan hat.

Im Falle «der Himmel und die Erde» ist das verbindende Dritte die wirkende Gottheit Elohim. Sie ist das Dritte, die Totalität. Obwohl sie von jedem Merismus ins Bild gesetzt wird, bleibt seine so wichtige Funktion (3) regelmäßig unbeachtet. Deutlich wird das an uns bekannten Merismen, wie «Gutes und Böse», das «Groß und Klein» oder «Tag wie Nacht». Wir assoziieren sie bei ihrem Gebrauch lediglich mit der Totalität des Ganzen.¹ Das «klipp und klar» verstehen wir nur noch als Synonym für «völlig klar» im Sinne von «unmissverständlich». Das ist zu wenig. Die so gesehene inhaltliche und zugleich lautlich zusammenklingende Doppelung wird dann geradezu mit «unnötigerweise zweifach» interpretiert. Der Kerngedanke besteht aber in der ausdrücklichen Notwendigkeit der Zwei und des Zweifachen, um die «Funktion der Ganzheit» hervorzuheben. Umgangssprachlich dient der Merismus leider nur noch dazu, etwa nachdrücklich zu beschreiben. Seinem Ursprung nach dient er hingegen der Definition eines stets wirkenden (!) Oberbegriffs.

Das Beispiel, dass der erste Satz des Prologs den Merismus umfassend umsetzt, dann aber im lautmalerische «Tohuwabohu» des zweiten Satzes Gestalt bekommt, wiederholt sich im Verhältnis des Prologs zur anschließenden Genesis. Obwohl die Genesis zwei zueinander gegenläufige Schöpfungserzählungen enthält, kommt der in ihr verborgene Merismus erst im sogenannten Paradiesfall zur Wirkung. Das Tohuwabohu des zweiten Satzes bekommt im Verhalten der Frau und im Essen von der Frucht des verbotenen Baumes Gestalt.

Wie der zweite Satz in vier Wörtern die Konstitution der Erde beschreibt, so beschreiben auch die zwei Paradiesbäume die Konstitution des Menschen über die Zahl. Der «Baum des Lebens» und der «Baum des Erkennens Gutes und Böses» haben ein Zahlenverhältnis von 1:4.

«Baum des Lebens»                 —       «Baum  des Erkennens  Gutes und Böses» (Gen 2,9)

70-90   5-8-10-10-40   ∑ 233    —         70-90   5-4-70-400   9-6-2  6-200-70   ∑ 932

1                                                                             4  x 233

Der zweite Satz des Prologs verhält sich zum ersten wie die Genesis zum Prolog. Deutlich wird das u.a. durch die Zahl der Gestalt, die Zahl Vier. Sie «verkörpert» im eigentlichen Wortsinn das erste aller Gesetze, das «Gesetz der Vier», das von der Einheit des Teilhaftigen (4) mit dem Ganzen (1) erzählt.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Merismus von «Gutem und Bösem». In ihm geht es darum, das Wesen des Zweiten über seine Erscheinungen begreifbar zu machen, die da sind die Substanz, das Substantiv oder das Subjekt in seiner Subjektivität. Im Mittelpunkt der scheinbaren Gegensätze steht die Wirkung des Teilhaftigen – die Wirklichkeit.

Auslöser der so erzählten Bilder sind das Begehren und die Lust (Gen 3,6). Sie sind von archetypischer Herkunft und werden von den Verfassern des Prologs deshalb zielbewusst erstmals im zweiten Satz der Genesis (Gen 1,1) artikuliert. Der Satz artikuliert das Verlangen der Zwei nach der Eins und umgekehrt:

Die Herkunft der Lust der Frau im Paradies ist das Verlangen, wie es der 2. Satz des Prologs bereits erzählt. Das dort artikulierte, archetypische Verlangen der Erde entfaltet sich im Paradiesfall im Archetyp der Zwei, der durch die Frau (2) als Subjekt (5) die Welt betritt. In der Frau wirkt das verbindende Dritte. Sie ist der Frucht zugeneigt. Zahlensymbolisch geht es in der Dimension der Subjekte um die Begegnung der 5 mit der 6. Wir finden sie in auffälliger Weise im zweiten Satz des Prologs. Seine 4 Wörter enthalten dreimal die Begegnung der 6 mit 5, was analog der Begegnung des Subjekts (5) mit dem Wesen von Sechs/Sex entspricht und im Paradiesfall regelrecht gegenständlich wird. Dass der im «Tohuwabohu» deutlich hörbare Merismus in seiner ihm immanenten Spiegelbildlichkeit auch in der Frau im Paradies wirksam wird, das haben die Verfasser der Genesis unmissverständlich in den von ihnen artikulierten Wörtern in Gen 2,9 niedergelegt. Auch dort geht es um die Begegnung von 5 und 6. Diesmal werden die Zahlen nicht nur aufgegriffen, sondern darüber hinaus auch in einer merkwürdig wirkende Spiegelbildlichkeit vorgestellt.

«Und die Frau sah, dass der Baum gut zum Essen war

und dass er Lust (war) für die Augen und begehrenswert … » (Gen 3:6)

Das hebräische Wort «Lust-er (war)» wird durch die Zahlenfolge 400-1-6-5—5-6-1 wiedergegeben. Auch hier begegnen sich wie im 2. Satz des Prologs auffällig die Zahlen 5 und 6. Das im 2. Satz artikulierte «Verlangen» bricht sich im Paradies Bahn in der Lust der Frau an der Frucht des Baumes. Der im 2. Satz lautmalerisch in Erscheinung tretende Merismus wird im Paradies für die Augen sichtbar in der offensichtlichen Symmetrie der drei Zahlen 1-6-5 | 5-6-1.

Kernpunkt des Merismus ist das Wirken der Triade (3) und seine Manifestation in der Zahl 4. Die den Schöpfungserzählungen und dem Paradiesfall folgenden biblischen Erzählungen versuchen, über das rechte Zusammenwirken der zwei Archetypen die Fortentwicklung des Bewusstseinseins (5) zu beschreiben. Besonders hilfreich ist dabei die Geometrie, allem voran die des pythagoreischen Dreiecks mit den Seitenlängen 3, 4 und 5.

Fußnoten

¹ Die profane Umsetzung des Merismus finden wir in der sogenannten Meristik. Sie ist ein Fachbereich in der Biologie und beschreibt die Wiederholung ähnlicher Teile oder sich wiederholenden Merkmale eines Organismus, die der Klassifizierung dienen. Das sind beispielsweise die Schuppen bei Fischen u.ä.

Weitere Beiträge

Ethik und Geometrie

Ethik und Geometrie von Michael Stelzner Die modernen Wissenschaften zeigen uns, dass es universell geltende Gesetze gibt, sogenannte Naturgesetze. Sie werden in aller Regel mit

Mehr lesen »