Im Jahr 1980 fanden Archäologen bei der Ausgrabung einer einstigen römischen Siedlung in der Ortschaft Schwarzenacker ein besonderes Dodekaeder. Es stammte aus dem 2. Jhd. n. Chr. Inzwischen sind mehr als 100 solcher Exemplare gefunden worden und ihre Zahl nimmt stetig zu.
Laut den Beschreibungen durch das Römermuseum in Schwarzenacker wurden alle bisherigen Pentagon-Dodekaeder nördlich der Alpen in ehemaligen römischen Provinzen gefunden, die vormals von den Kelten besiedelt waren.³ Die Funde reichen von Schottland bis Ungarn.
Die Verwendung der eigenartigen Körper ist unbekannt. Die Vermutungen sind oft von profaner Art und treiben mitunter bizarre Blüten. Doch allein die Eigenart des Körpers, seine aufwendige Herstellung und seine Fundorte an Kultstätten lassen vielmehr auf einen kultischen Gebrauch schließen. Ich möchte nun zeigen, dass bei Kenntnis seines Wesens und seiner Botschaften kein Zweifel mehr daran bestehen kann.
Der geistesgeschichtliche Hintergrund dieses platonischen Körpers wurde immer wieder erwähnt, meines Wissens jedoch noch nie umfassend beschrieben, obwohl die antiken Gelehrten durchweg die kosmische Bedeutung dieses Zwölfflächners erwähnen.⁴ Um seine Bedeutung zu erhellen, greife ich auf die in ihm ruhende Symbolik zurück, deren Sinn über das platonisch-pythagoräische Gedankengut begreifbar wird. Das Dilemma der heutigen Deutungsbemühungen besteht vor allem im modernen Zeitgeist, der stets primär nach den unmittelbaren, «nützlichen» Funktionen fragt und nicht nach den Symbolen und den hinter ihnen wirkenden Zahlen.
Das besondere Pentagon-Dodekaeder von Schwarzenacker unterscheidet sich vom klassischen Dodekaeder durch zwei Ergänzungen. Beide heben die eigentliche Botschaft des klassischen Körpers und seiner Zahlensymbolik hervor.
Zum einen tragen die 20 Ecken je eine Kugel. Zum anderen sind die 12 Flächen des hohlen Körpers mit 12 kreisrunden Öffnungen versehen. Was bewirken die Ergänzungen? Was «erzählen» sie? Ihre Symbolik verrät es. Sie umfassen nicht zufällig zwei, denn sie sind von gegensätzlicher Art. Die eine Ergänzung besteht im «Hinzufügen» der Kugeln und die andere durch das «Wegnehmen» von Substanz, was den Eindruck von Löchern vermittelt.
Die künstlichen Veränderungen des allbekannten Körpers bringen nicht nur Gegensätze zusammen. Sie fügen Extreme einander zu und vereinen das, was scheinbar nicht zu einander passt. Kurzum: Das so ergänzte Zwölfflächner macht die Zusammengehörigkeit des scheinbar nicht zu Vereinbarenden ansichtig.
Das Eine ist das «Runde», die Kugel. Sie ist ein Symbol für die Ganzheit und Vollkommenheit. Das Andere ist das Loch, ein Symbol für das Fehlende oder das Verfehlende. Mit anderen Worten: Der Zwölfflächner vereint das Ganze (1) mit dem Teilhaftigen (2) alias das Vollkommene mit dem Zwiespältigen alias die größere göttliche mit der kleineren menschlichen Dimension (siehe 1+2➜12).
Die Botschaft des Körpers endet nicht mit der Darstellung der Polarität. Vielmehr führt sie zum Erkennen eines aus ihr hervorgehenden Dritten, das seinerseits von der Dynamik (3) des Lebendigen (5) erzählt. Wir erkennen das sowohl im Blick auf die Kugeln als auch im Blick auf die Löcher.
Beginnen wir mit den Kugeln: Die Ecken des Körpers entsprechen den «Spitzen», dem «Kantigen» und «Aggressiven» im Dasein des Lebens. Die sie überlagernden Kugeln stellen es nun aber in das Licht des Ganzen (1). Die jeweils das Eckige und Kantige umhüllenden Kugeln wiederholen in ihrer Vielheit die jedem platonischen Körper umgebende und umschreibende Kugel.
In den Ecken, die zugleich Kugeln sind, laufen je drei gerade Linien (Kanten) zusammen. Sie vereinen über ihren gemeinsamen Mittelpunkt die Vielheit des (unvollkommenen) Linienhaften. Die vom menschlichen Bewusstsein (5) hinzugefügte Kugel erfüllt das von ihm visualisierte Ideal mit Dimension, oder andersherum: Die Einheit alias Gottheit bekommt hier Gestalt. Wer die Symbolik des Pentagon-Dodekaeders durchschaut, der erfasst in der Figur das Anliegen jeder Religion.
Die Zahl der hinzugefügten Kugeln ist 20. Sie erzählt zahlensymbolisch von der Erhebung der Polarität (2➜20) in eine neue und höhere Dimension. War die Zwei bis zum Erkennen ihres wahren Wesens allein der Grund von Zwist und Zweifel, so wird sie nun wohlwollend aufgenommen und als Türöffner für eine neue Weltsicht interpretiert. Im hebräischen Alphabet symbolisiert der Zahlenwert 20 das «Kaph» (כ). Es ist sein 11. Buchstabe. Das Schriftzeichen ist – wie der Fluss der Schrift – nach einer Seite hin offen. Da die hebräische Schrift von links nach rechts geschrieben wird, bleibt die linke Seite unbegrenzt. Das ermöglicht analog der Schrift ein fortlaufendes Wachstum. Das dem hebräischen Buchstaben und der Zahl 20 zugeordnete Bild-Symbol ist die geöffnete, die empfangende Hand.
Was die Ecken und Kugeln erzählen, das wiederholt sich in gegenpolarer Weise in der zweiten Ergänzung, in den Löchern der 12 Flächen. Die Polarität von Kugel und Ecke wird durch den Blick auf das «Fehlende» im Leben ergänzt. Während die Kanten, Ecken und Kugeln über das Linienhafte erscheinen, greifen die Flächen symbolisch eine höhere Dimension auf. Der niederdimensionalen Linie gegenüber manifestieren sie ein weitergehendes Kontinuum, das im Fünfeck auf seine Weise das Eine und Göttliche zur Gestalt erhebt. Zugleich wird auch das wiederum durch das jeweils vorhandene Loch in seiner Mitte durchbrochen. Wieder fallen die Extreme zusammen. Auch hier werden im Anblick jedes Fünfecks das Vollkommene und Göttliche einerseits und das Unvollkommene und Fehlende andererseits zu einem Ganzen.
Das Loch steht für das Fehlen und den Fehler (2), die jedem Leben zugehören. Der Mensch findet ihn hier nun auch in der ihn begegnenden Gottheit und der von ihr hervorgebrachten Ordnung. Der Fehler ist so subjektiv und individuell wie die Menschen selbst. Kein Loch ist mit einem anderen identisch. Jedes hat eine andere Größe.⁵ Von jedem geht eine andere Botschaft aus, die trotz ihrer Subjektivität immer auf eine größere Einheit und Ganzheit zielt. Dieses Eine und vereinende Ganze findet man im gemeinsamen Mittelpunkt im Inneren des Körpers. Dass die Zahl 12 der Flächen und Löcher kein Zufall, sondern Botschaft ist, wird hier deutlich. 12 ist die Zahl der Ordnung, weil sich in ihr erstmals – der zweistelligen Zahl – die zwei ersten Archetypen, die Eins (Einheit, Gottheit) und die Zwei (Zwiespalt, Polarität) zu einem größeren Ganzen verbinden.
Die Zahl 12 verlangt Hierarchie. Über sie bekommt die Gottheit (1) dank des hinzugefügten, polaren Widersachers (2) Gestalt. Die Zahl der Ordnung erzählt vom hierarchisch geordneten Verhältnis zwischen der Gottheit (1) und ihrem Gegenüber (2).
Sowohl die Gottheit (1) als auch das Gegenüber (2) erscheinen jeweils im Rahmen eines Bewusstseins. Seine Zahl ist die 5. Die Wechselwirkungen zwischen einem jeweils kleineren und größeren Bewusstsein finden über 6 zentrale Durchsichtsachsen statt, welche jeweils zwei gegenüberliegende Fünfecke verbinden. Die Zahl 6 ist nun wiederum jener Archetyp, der die verbindende Funktion zwischen den sich unterscheidenden und ergänzenden Subjekten (5) bewirkt (siehe Symbolik 5—6—5). Der Archetyp 6 erzeugt und bezeugt die ewige Fruchtbarkeit.
Die Fruchtbarkeit kommt nur zustande, weil den beteiligten Subjekten jeweils etwas fehlt. Im Dodekaeder wird das subjektiv Fehlende durch die Löcher in den Flächen symbolisiert. Misst man sie am Pentagon-Dodekaeder von Schwarzenacker nach, so fällt nicht nur die Einmaligkeit jedes Loches auf. Es fällt auch auf, dass sie umringt sind. Doch die zwei größten und einander gegenüberliegenden Löcher, welche die Grundpolarität symbolisieren, machen hier eine Ausnahme.
KOLLNG deutet die Ringe als Wulst. Wie dem auch sei, unterscheidet sich das größte Paar der insgesamt 6 Paare von den anderen durch seine Einfachheit. Da alle Löcher wegen ihrer verschiedenen Größen einmalig sind, hebt das größte Paar seinerseits die Unmittelbarkeit des Einmaligen hervor. Das größte Paar ist das Ur-Paar, das für das Gegenüber von 1 und 2, dem Ganzen (1) und dem Geteilten (2) steht. Das besondere Archetypen-Paar initialisiert gewissermaßen die anderen Gegensätze in ihrem «Fehlen». Dem reinen Ur-Paar folgen die weiteren Archetypen, welche mit Ringen umgeben sind. Das «Umringt-Sein» erzählt nicht mehr allein von der Zweiheit und Polarität, sondern von einem Dritten, also einer Drei-Einheit. Die Ringe illustrieren das «Gehalten-Sein» des Fehlenden und Fehlerbehafteten. Das allgegenwärtig Fehlerhafte wird gewissermaßen durch das Wesen des Ur-Paares in der Ordnung «gehalten».
Aus dem besonderen Archetypen-Paar geht ein neuer Archetyp hervor – der Archetyp der Drei. Er steht für die Funktion (3). Wir kennen ihn in den Religionen in Form einer Götter-Drei-Einheit.