Wenden wir uns nach dem Gesagten nun erneut der Geometrie der Ebene zu, mit deren Hilfe wir den Kreis und das Quadrat vor unserem Auge erscheinen lassen. Die Hinwendung zu ihr ist der richtige Schritt, denn sie repräsentiert die zweite Dimension und ist insofern die geforderte Hinwendung zur Zwei. Die neue Perspektive wird uns zuvor unzugängliche Erkenntnisse möglich machen. Wir werden aber unseren analytischen Blick nicht nur auf Basis der Zwei in Form der Dimension der Fläche schärfen. Wir werden unseren Blick auch innerhalb dieser Dimension vom Standpunkt der Zwei aus entwickeln. Wir starten bei der Erstellung einer Gestalt nicht bei der Eins, sondern bei der Existenz der Zwei. Das bedeutet, wir schauen auf die Flächen, die von der Zahl Zwei getragen werden. Das ist in erster Linie das Quadrat mit der Fläche 2 (Abb. 2).

Abb. 2 Über die irrationale Seitenlänge (√2) des Quadrates mit der Fläche 2 lässt sich das Quadrat mit der Fläche 1 entwickeln.
Die Seitenlänge eines Quadrats vom Flächeninhalt 2 hat die Länge √2 und die ist zugleich die Diagonale eines Quadrats vom Flächeninhalt 1. Es ist die Qualität (der «Inhalt», die Fläche) der Zweizahl ( 2▪ ) über die man zu dem an sich verborgenen Wesen der Einheit und Ganzheit ( 1▪ ) gelangt, sofern man den irrationalen Teil ( √2 ) der Zweizahl würdigt. Anders ausgedrückt: Die Zuordnung der zwei sich ihrem Inhalt (Fläche) nach unterscheidenden Quadrate ( 2▪ → 1▪ ) wird über den Weg und die Existenz des wirklich Anderen – hier der √2 – möglich. Das Andere (II) wird «Wirklichkeit» im eigentlichen Wortsinn. Über sein Wirken entsteht das Quadrat mit dem bedeutsamen «Inhalt» der Fläche 1.
Wir sehen, dass die planimetrische Darstellung irrationaler Verhältnisse diese dem Verstand näher bringt und darin das Vermögen der Geometrie veranschaulicht. Die plane Geometrie macht über den rechten Umgang mit der Zweiheit etwas möglich, was mit dem gewöhnlichen Verstand nicht oder nur schwer zu erfassen ist. Jenes Vermögen der Geometrie veranlasste Platon in seinem letzten Buch «Epinomis» dazu, Kritik daran zu üben, sie nur als «Feldmesskunst» zu bezeichnen, wie es ihr Name eigentlich besagt. Die Kunst und Aufgabe der besonderen Wissenschaft bestehe vielmehr im «Ähnlichmachen¹ der Zahlen, die ihrer Natur nach unähnlich erscheinen», was «dank der Besonderheit der Flächen» möglich sei (Epinomis 990d).
In der Epinomis, dem sogenannten 13ten Buch der Gesetze illustriert Platon die darstellbare und fruchtbare Grenzüberschreitung vom Archetyp der Zwei zum Archetyp der Eins, mit Hilfe der Aufwertung des Wesens der Zwei (2) zu dem völlig Anderen (II). Über dieses Wissen erklärt sich ein besonderes Phänomen, das ebenso die Archetypen 1 und 2 in ihrem direkten Verhältnis zueinander anschaulich macht und das Thema der sogenannten «Quadratur des Kreises» erhellt:
Der Einheitskreis (r =1) umschließt das Quadrat der Fläche 2 (siehe Abb. 3 u. 4). Das Bild lässt die Archetypen Eins und Zwei, Kreis und Quadrat in ihrer gestalthaften Unterscheidung zueinander nicht nur bestehen, sondern zeigt zugleich ihre eindeutige Beziehung auf. Das Bild erfasst ihren Wesensunterschied. Die Eins ist im Kreis, dem Symbol für das Ganze die denkbar einfachste Größe (r =1) und zugleich der Parameter der Einheit und Ganzheit. Der Einheitskreis macht das vollkommene Sein ansichtig. Das von ihm umschlossene Quadrat der Fläche 2 hingegen repräsentiert die konkrete Form in ihrer polaren Existenz. Die «eindeutige» Beziehung der Figuren erzählt vom Gehalt und der Fülle im konkreten Dasein (4). In der Terminologie der Religion wird die Welt (Quadrat) von der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (Kreis) gänzlich umschlossen, sprich geschützt und erhalten.
Die Botschaft dieses geometrischen Gleichnisses ist es, sowohl das Eins-Sein (1) als auch das Unterschieden-Sein (2) als unverwechselbare, sich ergänzende Archetypen anzuerkennen. Konkret bedeutet das, dass man sowohl die Nichtgreifbarkeit der Einheit (1) als auch den grundsätzlichen Bruch (2) der Dinge erkennen und akzeptieren muss. Nur beide zusammen machen den ewigen Fluss und Fortentwicklung (3) möglich.
Aus rein linearlogischer Sicht überschreitet die Kreis-Quadrat-Problematik den Glauben an die Verlässlichkeit der erlebbaren Dimensionen und ihrer Grenzen. Die Quadratur des Kreises scheitert und doch nähert man sich ihr mit mathematischen Raffinessen immer weiter an. Das ist paradox, befördert aber den technischen Fortschritt. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter der Paradoxie die Begründung, warum die Quadratur des Kreises nicht möglich ist und gerade deshalb die Welt in ihrer Existenz erhält.
Im Mittelpunkt des Gleichnisses steht der Einheitskreis als Metapher für die Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit. Er führt uns über die Geometrie zu zwei Aussagen, die ihrem Grunde nach religiöse Aussagen sind:
a) Die Einheit schließt die konkrete Polarität ein (Abb. rechts)
b) Die Welt schließt in ihrer archetypischen Form, der Vier die Einheit ein (Abb. links).

Abb. 3 Der Einheitskreis (r = 1) hat aus zweifacher Sicht ein eindeutig definiertes Verhältnis zur «Welt der Vier»