Die Sieben ist Wirkung und Ruhe zugleich. Sie erschafft darin eine neue Mitte. Jene Botschaft finden wir in sehr konzentrierter Form bereits im Text vom siebten Tag in der Schöpfungserzählung. Dort erfahren wir, dass das Wesen der Sieben im „Aufhören“ und „Beenden“, sowie im Prinzip des „Vollendens“ und im „Heiligen“ besteht. Was dort grundgelegt wird, nimmt in der Tora in Form der 10 Gebote als neue inhaltliche Mitte Gestalt an. Das inhaltliche Zentrum des sogenannten Zehnworts (Dekalog) ist das vierte Gebot. Das vierte Gebot ist das Gebot der Manifestation. In ihm manifestiert sich der Kern der Religion, die Sieben. Der Tag des Sabbats gießt die Botschaft des siebten Tages der Genesis in eine greifbare Form. Was dort noch mit dem „Ruhen“ und dem „Aufhören“ der Gottheit, sowie dem „Heiligen“ beschrieben wird, das wird nun in greifbare Bilder und Verhaltensregeln gegossen. Um die aber wirklich auf rechte Weise verstehen zu können, ist es notwendig, sie inhaltlich auf den siebten Tag der Genesis rück zu beziehen.
Den „siebten Tag zu heiligen“, d.h. „ganz zu machen“, wie es das vierte Gebot⁵ fordert, bedeutet nicht, am sogenannten Sabbat nichts zu tun – im Gegenteil. Der siebte Tag steht für das denkbar größte Tun im Sinne von Stellung zu beziehen. An ihm soll der Mensch das Ganze würdigen und darin dem notwendigen Schatten- und Spiegelanteil unserer Existenz sein Recht zukommen lassen. Nur die Schau auf ein so verstandenes Ganzes vermag das Bewusstsein zu befreien. Das im siebten Tag der Genesis verankerte „Aufhören“ („Ruhe“) darf nicht belasten, wie es beispielsweise das Handwerk, das stets einem Werkziel folgt, mehr oder weniger tut. Der Sabbat soll die Schau aus der Sicht des Ganzen möglich machen und somit den Menschen von aller Last befreien. Die Metaphorie der Schrift besagt, dass am Sabbat „keine Sachen aus dem Haus getragen“ werden dürfen, denn dann würde der Ganzheit des Hauses etwas fehlen!
„So spricht der JHWH: Hütet euch bei eurem Leben, daß ihr am Tag des Sabbats keine Last tragt und durch die Tore Jerusalems hereinbringt! Und ihr sollt am Tag des Sabbats keine Last aus euren Häusern herausbringen und sollt keinerlei Arbeit tun! … (Jer 17,22f).
Die Sieben selbst ist es, die verlangt, dass die durch sie entstehenden Vorschriften metaphorisch und nicht dinglich zu verstehen sind. Das verrät schon der Begriff Schabbat (dt. Sabbat), der „Absonderung“ oder das „Andere“ bedeutet. Er meint nicht allein die mit dem 7. Tag entstehende und vom Rest der Woche abgesonderte „Insel in der Zeit“, sondern ordnet die in allem notwendige Absonderung der Einheit zu! Das Abgesonderte dient der Ganzheit. Das Judentum scheut die Absonderung nicht. Das Annehmen, Verstehen und Umsetzen von Unterscheidungen und Absonderungen ist geradezu sein Kernthema. Das stellt die Genesis von Anfang an klar: Die in sieben Tage gegliederte Schöpfungserzählung ist nichts anderes als eine Folge von Absonderungen, welche fruchtbringende Polaritäten erschaffen: Licht – Finsternis, Wasser oben – Wasser untern, Erde – Wasser, Erde – Pflanzen, Sonne – Mond, Meerestiere – Lufttiere (Vögel), Landtiere – Mensch, Mensch – Gottheit. Mit jedem Tag werden Grenzen (2) gezogen, aus denen Aufgaben und Funktionen (3) erwachsen. Alle so entstehenden Existenzen erhalten, wie am Ende sogar die Zeit selbst eine Bestimmung. Die hervorgebrachten Gegensätze (2) werden stets in das wachsende Ganze (1) eingebunden. Insgesamt ist die Genesis eine Schau auf die Archetypen und die berichtet endlich nur vom wahren Wesen des Zweiseins, das sodann im Archetyp der Vier das einst verborgene Ganze zur manifesten Erscheinung bringt. Die rechtverstandene und die die Polarität erlösende Vierzahl ist die Basis solchen Schauens auf Raum und Zeit.
Am 4. Tag wird mit dem „großen und dem kleinen Licht“, alias Sonne und Mond die Zeit geboren. Der vierte Tag ist der Tag der konkreten Physis, der Tag von Raum und die Zeit. Die Vier ist das Zentrum der hier noch linear erscheinenden sieben Tage (123-4-567). Inhaltlich ist der vierte Tag ausgerichtet zwischen der vorangehenden, prinzipiellen Dreizahl und den zukünftigen drei Bewusstseinsebenen Tier, Mensch und Gottheit.
1 2 3 – 4 – 5 6 7
Die prinzipielle Triade die Triade des Bewusstseins
Tier, Mensch und Gottheit
Mit dem Erscheinen der Substanz am vierten Tag ist auch das sich später aus der Physis erhebende Bewusstsein in seinem Kern bereits angelegt. Das verlangt das Gesetz der Polarität, das den Dingen der Natur (4) das Übernatürliche (5) gegenüberstellt. Das sodann herangereifte Bewusstsein, von dem die 10 Gebote später berichten, reflektiert das. Es erschaut im vierten Gebot, also im Wesen der Vier schon das Wesen der in ihr verborgenen Sieben. Das vierte Gebot ist nach der originalen hebräischen Zählung nicht zufällig das sogenannte Sabbat-Gebot. Es würdigt das „Andere“ und „Abgesonderte“ und erkennt es als hierarchischen Teil in der archetypischen Ordnung. Die in Ex 20:11 genannte, siebengliedrige Abfolge (1) Subjekt, (2) Sohn, (3) Tochter, (4) Knecht, (5) Magd, (6) Vieh und (7) Gast wird dabei nicht als eine absolute beschrieben, sondern innerhalb einer sie rahmenden Polarität erkannt. Das meint der Zusatz „innerhalb deiner Tore“ (s. II). Mit anderen Worten: Die Sieben erwächst aus den „Toren“ der Polarität.
Schon die nach dem Mondkalender geordnete Welt des alten Orients kannte den 7.Tag als einen herausgehobenen Tag. Dort ist er – da an den Mondkalender gebunden – zwar herausgehoben, aber zweiseitig, also auch negativ, beispielsweise als schlechtes Omen. Der Inhalt des biblischen Sabbats greift darüber hinweg und erfasst die nächst höhere Ebene, indem er das aus dem Mondhaften (2) Geborene und somit archetypische Unstete und Veränderliche gleich zweifach, d.h. aus zwei Perspektiven und damit ganzheitlich einbindet. Die Ganzheit des Sabbats erkennt man zum einen in seiner Zuordnung zum 4. Gebot. Zum anderen verbindet das Gebot den Anfang, das erste Gebot mit dem Ende, dem 10. Gebot. Der Bezug zum 1. Gebot ist der der Befreiung. Wie JHWH einst die Israeliten aus ihrer Gefangenschaft befreit hat (1. Gebot), so befreit sie nun das Bedenken und das Einhalten des Sabbats.
Während das 4. Gebot die Befreiung noch auf die substantielle Ebene bezieht, wird im weiteren und gemäß der Tetraktys (1+2+3+4 = 10) die Befreiung auf das gereifte Bewusstsein der Subjekte übertragen. Die dem Sabbatgebot folgenden Gebote sind Bewusstseinsgebote und beschreiben eine nächsthöhere Dimension. Sie gipfeln im 10. Gebot, dem Begehrensverbot. Die Vierzahl manifestiert sich in der Zehnzahl auf der Ebene des Bewusstseins – analog der JHWH-Formel (10 = 5+5). Die Verbindung von Sabbatgebot und Begehrensverbot wird durch die gemeinsam verwendeten Begriffe „Knecht, Magd, Vieh, Gast, Haus, Weib, Ochs und Esel oder Genosse“ deutlich.
Bei genauem Hinschauen eröffnet schon das Sabbat-Gebot einen mehrdimensionalen Blick, indem es sich sowohl auf das erste als auch auf das zehnte Gebot bezieht. Die Vier, die Mitte verbindet scheinbar unüberbrückbare Gegensätze. Das äußert sich beispielsweise in der Eigenart, dass der Sabbat gleichermaßen ein Ruhe- und ein Feiertag ist. Ruhe und Feiern sind aus profaner Sicht Gegensätze. Ihre Verbindung bedarf einer Erklärung, insbesondere weil beide Begriffe noch nicht Gegenstand des siebten Tages der Genesis sind und deren Verbindung erst im Dekalog vorkommt.
Warum ist das so und in welchem Zusammenhang steht das „aufhören“ (šābat) mit den Begriffen von „Ruhe“ und „Feier“? Die gleichsam auf der Hand liegende Antwort, „erst wenn ich Ruhe habe, kann ich die Ganzheit sehen“, bleibt unbefriedigend, denn sie beantwortet noch nicht die Frage, WARUM ich überhaupt die Ganzheit sehen kann, die mich zur (inneren) Ruhe bringt und Feierlaune auslöst? Die Antwort findet sich im Begriff „aufhören“ (šābat / 300-2-400), der in der Genesis „am Tag, dem siebten (5-300-2-10-70-10) genannt wird. Die Verbindung von „sieben“ und „aufhören“ erklärt sich mit der Definition von Freiheit, die der siebte Archetyp ins Bild setzt. Die Feierlaune ist die Laune des Befreiten. Das mit der Sieben hervortretende „Aufhören“ befreit von der alten Vorstellung von Religion und Gottheit und erzeugt die Feierlaune, die eine Ganzheitslaune ist. Erst durch eine derart umfängliche Befreiung entkommt das Individuum der scheinbaren Willkür der Sieben.
Fasst man die Botschaft der 7 Tage der Genesis und die 10 Gebote zusammen, so handelt es sich um den Wechsel des Blicks auf den Archetyp der Zwei und folgerichtig auf den rechten Umgang mit dem Andersartigen und Abgesonderten. Wie schon die Genesis auf Trennung basiert, so basiert auch das zentrale vierte Gebot auf der Zweizahl.
Noch heute wird im jüdischen Ritual der Sabbat am Freitagabend mit dem Hervorheben des fruchtbaren Zweiten , eingeleitet. Das Andere und Abgesonderte eröffnet die ganzheitliche Feier. Die „Frau über das Haus“ (Hausfrau, …nicht unbedingt Ehefrau!) leitet ihn ein. Indem sie zwei Kerzen anzündet und das Gebet über den Tag und über den Wein spricht. Diese Lobsprüche nennen sich „Heiligung“, jüdisch „Kiddusch“ und entstammen dem Wort „kadosch“, was ursprünglich „Abgesondertsein“ bedeutet. Gleichzeitig ist es eine „Heiligung“ (heil-und ganz machen) und bezieht sich auf Gen 2,3:
„Und-es-segnete Gott **-d.-Tag, den-siebten. Und-er-heiligte ihn ….“
[heiligen / wajekadesch bedeutet zugleich auch „einzig machen“]
Das Unterscheiden ist zugleich ein Herausheben und damit „einzig machen“. Das Einzigsein hat zwei Seiten. Zum einen das eigene Herausgehobensein aufgrund des Bezuges auf JHVH und der Befreiung aus Ägypten und zum anderen das Herausgehobensein des Anderen zu uns, den Fremden, die uns unterstellt sind sowie Ochs und Esel als Geringste in der Kette.
Der Sabbat basiert auf der Anerkennung der Zwei, dem Abgetrennten und Gesonderten und dem richtigen Umgang mit ihr. Er setzt Grenzen (s. Septum). Diese Grenzen machen das Leben möglich und bestimmen unser eigenes Dasein. Zugleich sind auch sie der Einheit und Ganzheit unterstellt und werden von ihr geschützt.