Von besonderer Bedeutung ist die Art der Verabreichung des Essigs. Sie gibt weiteren Aufschluss über die jeweilig archetypische Erzählart der Evangelisten. Bei Matthäus und bei Markus wird JESUS der Essig in einem «Schwamm» über ein «Rohr» gereicht. Die Symbole verbinden den 1ten und den 2ten Evangelisten. Der vierte, Johannes greift sie wieder auf und stellt sie in einen nun umfassenden Kontext. Zunächst zu den Symbolen selbst:
«Schwamm» und «Rohr» täuschen durch ihre Form etwas Manifestes vor. Im Rohr entdeckt man sogar die Eigenschaft der Linearität. In Wirklichkeit aber transportieren beide eine Botschaft, die über ihre manifesten und linearen Erscheinungsformen hinausreicht. Auch der Schwamm ist nur in seinem Äußeren ein manifester Gegenstand. Seine Wirklichkeit besteht darin, einen Inhalt zu transportieren. Das Rohr täuscht die Linearität nur vor und verleitet in seinem äußeren Erscheinen zum falschen Gebrauch, zum Irrtum und zum Übergriff im Denken. Markus verbindet es deshalb direkt mit der Verspottung Jesu (Mk 15;19). Die wahren Wirklichkeiten von Rohr und Schwamm bestehen in der Verbindung zweier Dimensionen, dem Äußeren und dem Inneren. Durch sie erst entsteht der eigentliche Fluss der Dinge (siehe Aufsatz Das Rohr).
Lukas geht es nicht mehr um die profane Sicht. Er erwähnt Schwamm und Rohr, die Hilfen zur Darreichung des Essigs nicht mehr. Sie treten zunächst in den Hintergrund. Ihm geht es primär um den höheren Geist hinter den Dingen und der wird über den auch bei ihm angesprochenen Essig ausreichend benannt. Dass es der Geist ist, der die Einsicht und den ihr folgenden Aufstieg bewirkt, verrät das frühzeitige Zerreißen des Vorhangs. Während bei Matthäus der Vorhang schon durch den Schrei Jesu und bei Markus durch die Artikulation der Sinnfrage zerreißt, ist der Grund bei Lukas die bewusste und rechte Sichtweise auf die Zwei. Der Vorhang zerreißt nachdem er das zweite seiner drei Kreuzesworte gesprochen hatte. In ihm wendet er sich einem der zwei mit ihm gekreuzigten Übeltäter zu und eröffnet dem Todgeweihten Zukunft. Das hält Jesus für geboten, denn dieser hatte sich zuvor von dem anderen im Geiste zu unterscheiden. Der mit dem Leben Bedachte vermochte Recht von Unrecht zu trennen. Der von Jesus im zweiten Kreuzeswort artikulierte, rechte Geist lässt unmittelbar den Vorhang zerreißen, der den Blick auf das Allerheiligste zuvor verdeckt hatte. Mit der Schau auf das Ganze kann Jesus seinen eigenen Geist weiter aufsteigen lassen und ihn in die „Hände des Vaters“ befehligen.
Mit dem vierten der Evangelisten, dem Johannes manifestiert sich eine neue Ebene der Existenz. In ihr entfallen viele der Symbole, die vorher die Wirklichkeit begleitend beschrieben haben, nun aber in einer Welt, in der die Archetypen verstanden werden, überflüssig werden. Johannes nennt keine genaue Todesstunde mehr und erwähnt auch nicht mehr den Wein oder den Vorhang, wohl aber den Essig, das Rohr und den Schwamm. Ihre Symbolik greift er wieder auf und bewertet sie umfassender. Zu den drei Dingen tritt das die Vierzahl symbolisierende Gefäß hinzu. Der Essig wird mit Hilfe der Drei seiner Bestimmung zugeführt. In der Vierzahl von Essig, Gefäß, Rohr und Schwamm wird deren wahre, weil ganzheitliche Bedeutung offensichtlich (Joh 19:29).
Johannes selbst ist ein Vierter. Als solcher steht er für das Konkrete schlechthin. Die von ihm neu eröffnete Dimension wirkt aus der Sicht der profanen Welt sehr abstrakt. Analog dem «Gesetz der Vier» (1+2→4) setzt sein Verstehen vieles voraus. So spricht Jesus bei Johannes ganz konkret von Durst und der ihm gereichte Essig kommt aus einem Gefäß (4), also einer konkret vorhandenen Schale (2). Diesmal wird ihm der mit Essig getränkte Schwamm nicht wie noch bei Matthäus und Markus über ein profanes Rohr und somit über ein vermeintlich Lineares gereicht, sondern über ein «Ysop». Das ist ein kleiner Busch mit stark riechenden Blättern, der auch beim sogenannten Reinigungsopfer zum Besprengen verwendet wurde. Seine tiefere Bedeutung liegt hier in der Vielheit der Blätter, die er als ein Ganzes verbindet, analog dem «Gesetz der Vier». Die schon beim 1ten und 2ten Evangelisten erwähnten aber noch nicht durchschauten Hilfen der Darreichung finden wir auch beim 4ten Evangelisten wieder. Nur erkennt man sie nun als Hilfen zur Vollstreckung und Vollendung des Gesetzes. Eine besondere Bedeutung erlangt in den späteren Rezensionen das auffangende und schützende, konkreten Gefäß.
Zusammenfassend ist das durch Jesus explizierte Sterben am Kreuz die Demonstration eines rechten Geistes. Der Erlöser demonstriert den rechten Umgang mit der Polarität der Welt. Er demonstriert mit seinem Bewusstsein (5) den Vollzug von Sechs. Der basiert vor dem Hintergrund des Gesetzes der Vier – dem Kreuz. Der so gelebte rechte Geist (3) stellt sich nicht über den Wein und auch nicht über die Beimischung von Galle oder Myrrhe ein. Er ist eine Leistung des Bewusstseins (5), das der Vier (Kreuz) und Linearität (Rohr) nicht ausweicht, sondern sie bewusst durchlebt und sie auf rechte Weise gebraucht.