Folgt man dem griechischen Geschichtsschreiber Diodor (1tes Jh. v.Chr.), so gab es zwei Könige von Kreta mit dem Namen Minos, Großvater und Enkel. Aber erst der Enkel, «der zweite» Minos hatte die Pasiphae zur Gemahlin genommen mit der das Schicksal seinen offensichtlichen Lauf nahm. (s.u.). Das ist insofern von Bedeutung, da Diodor damit das Wesen der Zwei zum Ausgangspunkt seiner Erzählung macht und so den stets vorhandenen aber meist verborgenen «Zwist» zur Anschauung bringt. Von ihm erzählt die Metapher vom «Labyrinth des Lebens». In ihm verfängt sich ein jeder immer aufs Neue, auch Könige, Halbgötter und sogar die Götter selbst.
Der Mythos erzählt aber vor allem auch vom «Faden der Ariadne», der aus dem totbringenden Labyrinth wieder heraus ins Leben führt. Das Geheimnis liegt vorwegnehmend in der «Rückbindung» allen Geschehens an den Ursprung allen Seins, an die Einheit und Ganzheit. Um das Lüften dieses Geheimnisses bemüht sich jede Religion.
Minos war ein weiser König. Doch auch er war an die Zweiheit und Polarität gebunden, aus der jede Existenz ihr Dasein bezieht. Seine Weisheit bestand darin, zu wissen, dass die Zweiheit, das Kleine und scheinbar Nachrangige im Dienst der Einheit steht und dass das mit dem sogenannten Anderen und dem Zweigeteilten verbundene Opfern ein göttliches Prinzip ist. Dieses einfachste Wissen ist zugleich das höchste Wissen. Es ist ein göttliches Wissen und so war Minos von göttlichem Blut, denn er war der Sohn des Göttervaters Zeus und Europa, einer phönizischen Prinzessin. In ihm wirkte sowohl das Göttliche als auch der «Adel der Substanz». Der Mythos erzählt deshalb, dass Zeus die edle Europa in Gestalt eines Stieres entführt hatte, denn der Stier repräsentiert die Substanz in Form seiner mächtigen Erdenkraft.
Ein wahrer König wie Minos einer war, kennt die höchste aller Weisheiten und betrachtet das Eine und Erste mit dem Zweiten und Anderen als eine fruchtbringende Einheit. Das geläufigste Symbol für diese erste aller möglichen archetypischen Beziehungen ist der Stier, der in seinem Haupt die zwei ihn tragenden Hörner als ein Ganzes vereint. Zudem fiel zur minoischen Zeit der Frühlingspunkt in das Tierkreiszeichen des Stiers. Der Frühlingspunkt steht für den Anfang und doch ist das Tier, das ihn abbildet seinem Wesen nach zugleich ein Zweihufer und Wiederkäuer. Die zwei Merkmale symbolisieren im Verhältnis zum Anfang des Ganzen eine Urspannung, die das Bewusstsein des Menschen ständig herausfordert.
Die zentralen Symbole der Minoer stellen die zu einer Einheit zusammengefasste Polarität in drei Daseinsdimensionen dar. Die Doppelaxt erfasst als Werkzeug das Prinzip auf der Ebene von Funktion und Substanz. Der Stier erweitert das Symbol in die Dimension des Lebendigen hinein und die (Schlangen)Göttin erhebt es sodann in die Dimension des menschlichen Bewusstseins.
Der so veränderte und fruchtbringende Blick auf das Wesen des «Anderen» alias der «Zwei» deckt das weibliche Prinzip und sein Botschaft als Heilsbringerin auf. So war es nur eine Frage der Konsequenz, dass die Minoer Priesterinnen hatten. Sie besitzen das Wissen um das Labyrinth des Lebens und sie wissen, wie man durch rechtes Verhalten dem drohenden Tod entkommt. Das «Labyrinth» bedeutet wörtlich das «Haus der Doppeläxte». Will man den vom Labyrinth erzählenden minoischen Mythos auf den Punkt bringen, so erzählt er vom «Wirken der Doppelaxt».
Dem Mythos nach adoptierte, der einstige «Sternen-König» von Kreta Asterios den (zweiten) Minos und seine zwei Brüder (s.o.). Nach der gleichen Erzählung soll er auch der Gemahl von Europa gewesen sein. Das setzt ihn wiederum mit dem zweiten König Minos, dem Enkel des ersten Minos gleich. Dass der König darüber hinaus auch noch den Namen Asterios trägt, der zugleich der eigentliche Geburtsname des späteren Minotaurus ist, eröffnet einen anderen und zweiten Blick auf den König im Allgemeinen und auf das Wesen des Minotaurus im Speziellen. Es geht hier um nicht weniger, als darum, zu thematisieren, dass auch im weisesten König das Zweite und Zwiespältige existiert und wirkt. Der Mythos vom Labyrinth baut auf den Gegensatz auf, ergreift aber Partei und lässt ihn darin gleich wieder ein Stückweit zurücktreten. Das ist notwendig, denn der Mythos beschreibt einerseits die Allgegenwart der Zwei und des Zwists und andererseits ein Verhalten, dass es dem Betrachter möglich macht, den rechten Platz der Zwei im Gefüge der Ordnung zu erkennen. In ihr aber führt die Einheit und Ganzheit die Regie.
Die so am Anfang aller Existenz stehende Spannung (2) schlägt sich auf vielen Ebenen des Mythos nieder. Die Namensdifferenz des ersten Königs, die Zweizahl der Könige Minos und der Zwist der Königsanwärter erzählen davon. Letzterer eröffnet den Mythos, denn die eigentliche Erzählung vom Labyrinth beginnt mit der Frage, wer denn die Nachfolge des Königs antreten werde. Sie entzweit die Brüder, die ihrer Geburt nach dennoch eine Einheit sind.
Welcher von den drei Brüder Minos war, wird nicht gesagt. Jedenfalls bat Minos den mächtigen Meeresgott Poseidon um Hilfe. Der stand ihm zur Seite und schickte ihm einen prächtigen, weißen Stier, dessen Opferung die Frage entscheiden sollte. Doch Minos verfehlte die rechte Antwort. Ihm gefiel das Tier so sehr, dass er ein anderes Tier opferte. Götter aber sind Prinzipien, denen man sich nicht – ohne die angemessenen Konsequenzen in Kauf zu nehmen – entziehen kann. Versucht man es trotzdem, manifestiert sich der göttliche Wille auf andere und nun verdeckte Weise in einer niederen Dimension. Weil Minos den weißen Stier nicht geopfert hatte, belegte Poseidon seine Gemahlin Pasiphae mit dem unwiderstehlichen, tierischen Verlangen, sich mit dem Stier zu vereinen.
Es kam, wie es kommen musste. Pasiphae wurde durch die oben beschriebenen Umstände in das schreckliche Abenteuer mit dem Stier regelrecht hineingerissen. Sie schreibt einerseits das durch König Minos herbeigeführte Schicksal fort, hat andererseits aber eine eigene Biographie mit der sie es erfüllt. Auf diese Weise sind die zahlreichen Mythen miteinander verwobenen und machen Strukturen sichtbar, die den von Fraktalen ähneln.
Pasiphae bedeutet «die allen Leuchtende». Sie ist eine Tochter des Sonnengottes Helios und der Perse, einer der vielen Okeaniden, die vom ersten und stärksten Titanen (Riese), dem Okeanos abstammen. Als Tochter des Sonnengottes und des Riesen in Menschengestalt ist sie unsterblich und der Magie mächtig. Das machte es ihr möglich, dem Tun ihres Gatten Minos wirkungsvoll entgegenzuwirken. Das erschien ihr notwendig, denn Minos hatte ungezählte Liebschaften, die sie immer wieder mit dem Hervorbringen abstoßender tierischer Wesen in seinem Samen vereitelte. Trotz ihrer tiefen Herkunft aus der Welt der Titanen hat Pasiphae auch starke göttliche Wurzeln. Mütterlicherseits ist sie die Enkelin des Sonnengottes Helios und väterlicherseits die Enkelin des Göttervaters Zeus. Sie hatte mit Minos acht Kinder. Gleichwohl führte sie mit dem viele Liebschaften unterhaltenen Minos eine unglückliche Beziehung und lebte folgerichtig im Dauerstreit mit der Liebesgöttin Aphrodite.²
Die Spannung zwischen Pasiphae zu Aphrodite bekommt im Mythos vom Minotaurus Nahrung. Pasiphae gibt ihrem Verlangen Raum. Das aber ist ein reduziertes, d.h. ein linearlogisches Verlangen, das nicht dem anspruchsvollen Wesen einer Aphrodite gleichkommt. An der Verwirklichung der ungebührlichen Vereinigung war Dädalus, ein Genie und Erfinder maßgeblich beteiligt. Das Genie vermochte durch das Beherrschen ausgefeilter Techniken scheinbar jede irdische Aufgabe zu lösen. Sein Gelingen macht Eindruck, wird aber durch die Anwendung einer linearlogischen Kunst getragen. Die macht immer zugleich auch die irdischen Grenzen sichtbar. Und doch macht es die Kunst des Dädalus ein Stückweit möglich, vertikale Grenzen zu überwinden, wie es die legendäre Verbindung von Pasiphae und dem schönen Stier zeigt. Die erzwungene Verbindung von Tier und Mensch bringt die herrschende Sitte und Ordnung durcheinander. Die mechanische Verbindung von Rind und Frau, von Ackerkraft und Geist bringt kein Glück. Und doch bewerkstelligte sie Dädalus im wörtlichen Sinn, denn er baute eigens zu diesem Zweck ein hölzernes Gestell und überzog es zur Täuschung des Tieres mit der Haut einer Kuh. Die aus der unangemessenen Begegnung hervorgegangene Leibesfrucht war Minotaurus, ein menschenfressendes Ungeheuer dessen menschlicher Körper das Haupt eines Stiers trug. Seine Symbolik verrät sein Wesen und sein Wirken. Nicht der Geist des Menschen beherrscht das Tier, sondern der Geist des Tieres steuert den menschlichen Körper. Die Gestalt kehrt die bekannte göttliche Ordnung für alle sichtbar um.
Für die Öffentlichkeit war dieses Wesen eine Schande. Pasiphae wollte im Gegensatz zu Minos das Ungeheuer nicht am Leben erhalten. Einige Erzählungen berichten, dass seine Tochter Ariadne ihn darum gebeten hat. Jedenfalls baute Minos eigens für den Minotaurus – wiederum mit dem Können des Dädalus – das Labyrinth. In ihm konnte er das Ungeheuer vor der Öffentlichkeit verstecken. Obwohl Dädalus das Labyrinth auf sehr einfache Weise konstruiert hatte, fand das von einem Stierkopf regierte, menschenfressende Wesen aus ihm nicht mehr heraus. Das Labyrinth des Dädalus bestand, wie es die Abbildungen zeigen, aus einem einzigen, nicht verzweigten aber in wechselnden Richtungen gewundenen Gang. Schon die wechselnden Richtungen überforderten das Tier.
Der im Labyrinth versteckte Minotaurus musste zum Schrecken der Beteiligten nun aber mit immer neuen Menschenopfern versorgt werden. Die neue Situation veränderte auch das Wesen des ersten und einstig weißglänzenden Stiers, den Minos zum Opfer von und für die Gottheit empfangen hatte. Der göttliche Stier entwickelte sich zu einem wilden, Zwiespalt verursachenden Wesen und richtete im Lande großen Schaden an. Der Held Herakles war es, der half. Er verbrachte das Tier von Kreta auf das Festland nach Argos und ließ es dort laufen. Durch die Hilfe des Helden waren das Problem und die Schäden vorerst in die Ferne verlagert.
In anderen Versionen wird erzählt, dass dem Herrscher und König die Macht entklitt und dass er seinem starken, mykenischen Nachbarn im Norden zu Hilfe gerufen habe. So unterschiedlich die Erzählungen auch erscheinen mögen, sie berichten alle vom Zusammenfinden der scheinbaren Gegenpole. Jene Wirkmacht erfasst den eigentlichen Kern der minoischen Kultur.
Der sich in ein wildes Tier verwandelte, einstige weiße Stier wütete auch an seinem neuen Ort weiter und verwüstete in vier attischen Gemeinden in der Ebene von Marathon das Land. Um sich von dem Tier zu befreien, schickte Aigeus, der König von Athen einen Prinzen in den Kampf, der darin seine Geschicklichkeit zu erproben suchte. Der marathonische Stier tötete den fremden Prinzen. Da es sich hierbei um Androgeos, einen Sohn des Minos handelte, wurde Athen schicksalhaft an dessen Tod schuldig.
Minos war erzürnt und zog aus Rache gegen Athen. Auch diesmal konnte er den Kampf nur wieder durch die Anrufung eines Gottes, diesmal des Zeus, gewinnen. Die Kreter unterwarfen Athen und auferlegten ihm einen hohen Tribut. Neben der Last wurde das Land wegen des Frevels an Androgeos auch noch von Krankheiten und Hungersnöten heimgesucht. Um das zu beenden, schickte Athen Abgeordnete nach Kreta. Sie sollten Minos um Vergebung für ihr Fehlverhalten bitten. Die Minoer nahmen die Abbitte unter der grausamen Bedingung an, dass alle 9 Jahre 7 Jünglinge und 7 Jungfrauen von Athen ins Labyrinth von Knossos zum menschenfressenden Minotaurus gebracht werden mussten. Deren Auswahl war dem Los in Athen anheimgestellt.
Hier kommt nun ein fremder und zweiter Prinz ins Spiel, nämlich der einzige Sohn des Königs Aigeus, der Prinz Theseus. Als Sohn des Königs sah er im Schicksal seines Landes sein eigenes Schicksal und in ihm seine Aufgabe. Zunächst zog er aus und brachte den einst weißen und nun schlimm wütenden Stier zur Strecke. Er überwältigte das Tier, stellte es in Athen für alle Beteiligten sichtbar zur Schau und opferte es schließlich dem Sonnengott Apollon. Über diesen Umweg wurde der kretische und nun marathonische Stier, wie es sein Schicksal einst vorsah bewusst ein Opfer für die Gottheit.
Das überfällige Opfer war aber nur ein Anfang, eine Vorbereitung auf das Töten eines viel gefährlichen Stiers, nämlich dem aus zwei Wesen bestehenden Minotaurus. Der symbolisierte die zweite Generation des von Anfang an herrschenden Zwiespalts. Jetzt war es an der Zeit auch einen Ebenenwechsel im Hinblick auf die Befreiung der Athener von den hohen Tributzahlungen an die Kreter zu vollziehen.
Als zum dritten Male wieder Abgeordnete des Königs Minos kamen, um die 7 Jünglinge und 7 Jungfrauen abzuholen, die der menschenfressende Minotauros alle 9 Jahre bekommen sollte, um sein Überleben zu sichern, nahm Theseus das Schicksal in seine Hand. Mit jenem «dritten Mal» fand ein Wechsel der Ebenen statt.³ Theseus eröffnete eine neue Dimension des Zwiespalts bei dem das verbindende Dritte, die Liebe die Regie übernimmt. Dafür sorgte niemand anderes als Aphrodite, die Göttin der Liebe. Sie gab dem Königssohn einen Orakelspruch mit auf dem Weg. Theseus zog sogleich freiwillig mit den potentiell zweimal 7 Opfern nach Kreta. Sein Vater, König Aegeus konnte nichts gegen solchen Willen einwenden. Seine einzige Handlung bestand darin, das stets schwarze Segel tragende Trauerschiff mit zusätzlichen weißen Segeln auszustatten. Sie sollte Theseus bei seiner Rückkehr aufziehen lassen. So hätte der Vater frühzeitig das Überleben seines Sohnes erkennen können.
Auf Kreta angekommen begegnete Theseus der Sohn Aigeus der hübschen Ariadne, der Tochter des Minos. Hier begegnen sich die gegnerischen Reiche nunmehr in Form der zweiten Generation.⁴ Abbildungen auf Vasen zeigen, dass Ariadne gerade beim «Spinnen von Fäden» ist. Sie verliebt sich sogleich in den Jüngling und will dessen bevorstehendes Schicksal, vom Minotaurus getötet zu werden, nicht hinnehmen. Tatsächlich beenden die beiden Königskinder Ariadne und Theseus auch die Existenz der abartigen Geburt.
Ariadne gab Theseus dazu zwei scheinbar sehr unterschiedliche Dinge, ein Schwert und einen Faden. Beide Hilfsmittel haben eine Gemeinsamkeit. Sie sind Symbole für das wahre Wesen der Zwei. Sie symbolisieren in zwei unterschiedlichen Bildern, die aus ihm sich erhebende Verbindungsfunktion. Mit dem Schwert vermag Theseus den Minotaurus zu töten und mit dem «hoch am Eingang» des Labyrinths befestigten Faden findet er anschließend aus selbigen wieder heraus.
Nach gelungener Tat flohen Ariadne und Theseus auf die Insel Dias, die später den Namen Naxos erhält. Zuvor aber zerstört Theseus auf Rat der Ariadne die Böden aller anderen Schiffe, damit Minos die Zwei nicht verfolgen kann. Der König Minos bleibt machtlos, wie auch der König Aigeus machtlos blieb.
Auf Dias erscheint dem Theseus in der Nacht der Gott Dionysos und erhebt Anspruch auf die ihm offenbar zugehörige Gattin Ariadne. Dem Gott und dem Umstand nicht widersprechend zieht Theseus mit schwerem Herzen und in gleicher Nacht weiter gen Athen, während Ariadne noch schläft. In seiner Verwirrung verfehlt Theseus die ihm von seinem Vater übertragene Pflicht, denn er vergisst, die weißen Segel bei seiner Rückkehr zu setzen. König Aigeus wartet voller Bangen um seinen einzigen Sohn am anderen Ufer auf einem Felsen sitzend auf ein Zeichen des Lebens. Als er die schwarzen Segel erblickte erhob er sich und stürzte sich im Schmerz über das Geschehene ins Meer, das seit dem das Aigäische Meer genannt wird.