Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

Das «Sich-auf-die-Brust-schlagen» und seine biblische Bedeutung

von Michael Stelzner

Das rituelle «Sich-an-die-Brust-Schlagen» kennen wir in zwei sich scheinbar völlig widersprechenden Bedeutungen. Die eine ist das Auf-Sich-Stolz-Sein. Wer auf sich stolz ist, der «brüstet» sich. Die andere und gegenteilige Bedeutung der Geste symbolisiert Trauer und Verzweiflung, zumindest aber eine Selbstanklage. Um die gegensätzlichen Bedeutungen auf ihren verborgenen Ursprung zurückführen und sie inhaltlich zusammendenken zu können, bedarf es des zweifachen Blicks, des naturwissenschaftlichen und des geisteswissenschaftlichen Blicks.

Die erste Bedeutung, die des Sich-Brüstens kennen wir vielfach aus der Tierwelt im sogenannten Balzgehabe. Wer mehr Nüsse im Bau oder buntere Federn hat, hat möglicherweise auch größere Chancen, einen geeigneten Partner zu finden. Schon hier erkennt man, dass hinter dem Verhalten ein größeres Ganzes wirkt, das sich hier kundtut und nach Manifestation strebt.

Besonders beeindruckend ist das Imponiergehabe von bestimmten, erwachsenen, männlichen Primaten. Der Anführer demonstriert so seine Präsenz. Er richtet sich in seiner vollen Größe auf, schlägt sich lautstark auf die Brust und heult auf. Doch wer glaubt, der Anführer wolle einfach nur Eindruck schinden, dem entgeht, dass er das immer nur gegenüber einer anderen Gruppe tut. Es geht hier zum einen um die Unterscheidung der Gruppen und zum anderen vor allem um das Erstellen einer Einheit. Die aber ist nie vollends neutral, sondern folgt stets einer Orientierung, die immer von einem Individuum gesetzt werden muss, welches mehr oder weniger bewusst handelt.

Jede so zu einer Einheit zusammengefundene, neue Gruppe ist neu orientiert und folgt einem Ideal. Ideale wachsen und wechseln sich einander ab. Ein vorher angemessenes Verhalten, kann in der nun nächsthöheren Dimension mängelbehaftet sein. In dieser Differenz finden wir auch den Grund der zwei Deutungen der gleichen Geste.

Was schon in der Tierwelt – wie hier kurz beleuchtet – in einer einfachen und weitgehend verborgenen Weise existiert, das artikulieren die Religionen bewusst in ihren Texten. Ihr Denken ist ein bewusst triadisches Denken. Wir finden es in allen biblischen Texten. In der christlichen Lehre stoßen wir in besonderer Weise auf das Triadische in den Erzählungen des dritten Evangelisten Lukas. Lukas erwähnt das „Sich-an-die-Brust-Schlagen“ zweimal. Einmal schlägt sich ein Einzelner, ein Söldner auf die Brust (Lk 18,13) und das andere Mal schlägt sich die Vielzahl der Menschen, das unbewusste „Volk“ auf die Brust, während sie der Kreuzigung Jesu aus der Ferne beiwohnen (Lk 23:48).

Die Parabel vom Zöllner

Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort   … … … Der Zöllner aber stand ferne, war aber nicht willens die Augen zum Himmel zu heben, sondern schlug auf seine Brust und sagte: „Werde dem Verfehler ausgesühnt (dem Sünder verziehen).“ (Lk 18,10ff)

Der Text erzählt von zwei Arten des Verfehlens. Der Pharisäer verfehlt, weil er den Anderen ins Unrecht setzt und damit den Gegenpol verachtet, den er zum Erstellen eines größeren Ganzen benötigt. Der Zöllner kennt seine Fehlerhaftigkeit, verfehlt das Ganze aber ebenso, weil er nicht willens ist, seine Augen zum Himmel zu erheben. Nur das aber würde die neue und höhere Dimension eröffnen, aus der heraus die Gegenpole der niederen Dimension zu einem Ganzen verbunden werden können. Die Parabel stellt eine Beziehung zwischen dem Fehler des Pharisäers und dem des Zöllners her und es stellt zugleich ihr hierarchisches Verhältnis fest. Im Urteil Jesu wirkt es zugunsten des Zöllners, weil der den Gegenpol zu ihm nicht herabwürdigt und so das Gesetz der Polarität würdigt:

Ich (Jesus) sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus im Gegensatz zu jenem; denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 18:14).

Wer dem Text nur die durch Jesus in Szene gesetzt Hierarchie entnimmt, der verkennt die Intension des Lukas, der in seinen Erzählungen das Wesen der Drei thematisiert. Die Drei alias der Dritte ergreifen Partei, wie auch Jesus in der Parabel Partei ergreift. Doch ist die (einfache) Richtungsweisung nur die halbe Wahrheit. Die andere Wahrheit der Drei besteht in ihrer Eigenschaft, das wahre Wesen der Zwei, der Polarität und Fehlerhaftigkeit zu entfalten. Die Drei entfaltet die Fruchtbarkeit der Zwei. Um die zu erkennen, schließt Jesus die Parabel vom Zöllner (dem Hüter der Grenze) mit dem Bild der zweifachen Dynamik ab, dem Erheben und dem Erniedrigen alias der Auf- und der Abwertung.

Die Parabel vom Zöllner erzählt von zwei Gesetzen, dem Gesetz der Polarität UND dem Gesetz der Hierarchie. Wer in der Parabel allein die schuldbewusste Demut des Zöllners wahrnimmt, der verfehlt ihren tiefen Sinn.

Tatsächlich ist das Verhalten des Zöllners im Hinblick auf die nach Vollendung strebende Ganzheit vorteilhafter. Sie ist aber nicht der Weisheit letzter Schluss, weil auch dem Zöllner etwas fehlt, dem er sich sodann tätig zuwenden muss. In der von Jesus erzählten Parabel gelingt ihm das noch nicht, weil er seinen Blick nicht gen Himmel richtet und die «Ferne» als eine Art Versteck begreift. Um diesen Fehler durch das Einfügen seines Gegenteils fruchtbringend zu ergänzen, erzählt Lukas noch von den Vielen (Volk), die der Kreuzigung Jesu ebenso von Ferne beiwohnen und sich dabei ebenso wie er auf die Brust schlagen.

Das Volk, das sich beim Anblick der Kreuzigung Jesu auf die Brust schlägt

Lukas erliegt nicht der binären Falle. Vielmehr eröffnet er einen zweiten Blick, der eine neue Dimension sichtbar macht. So belässt es Lukas auch nicht bei der einmaligen Erzählung von der Geste. Er erzählt, dass sich auch das Volk auf die Brust schlägt, als es der Kreuzigung Jesu aus der Ferne beiwohnt:

Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles (Lk 23:48).

Auch hier begegnen wir dem Begriff der Ferne und dem Offenbarwerden eines menschlichen Mangels. Das Volk schlägt sich beim Anblick des sterbenden Jesus auf die Brust und kehrt zurück in sein gewohntes Zuhause. Vergleicht man das Verhalten des Volkes mit dem des Zöllners, so nimmt die Spannung ob ihrer Ungerechtigkeit und Grausamkeit ein unerträgliches Ausmaß an. Wird die Parabel vom Zöllner in den Worten Jesus noch von Hoffnung getragen, so stirbt nun selbst der Hoffnungsträger und das Volk quittiert es lediglich mit einer Geste. Die Situation erscheint hoffnungslos, sofern man nicht die kleine und beiläufige Bemerkung des Lukas wahrnimmt, dass sich auch die Frauen unter dem Volk befinden. Die Frauen bilden seinen inneren Kern und Gegenpol. Sie gebären nicht nur das Volk. Sie sind auch die eigentlichen Repräsentanten des Gesetzes der Vier, des Gesetzes der Vollkommenheit und somit geradezu das Gegenteil dessen, was man im Augenblick erlebt. Von diesem Widerspruch innerhalb eines vollkommenen Ganzen erzählen die Evangelisten Matthäus und Markus (Mt 27:55f; Mk 15:40f) noch vor Lukas. Lukas greift die Botschaft auf und abstrahiert und generalisiert sie.

Um das von Lukas gezeichnete Bild der Kreuzigung in seinem Bedeutungsumfang zu verstehen, wäre es notwendig, die Rolle der Frauen in der Religion zu beleuchten. Das kann der Aufsatz nicht leisten, weshalb hier ein Link auf einen dafür gesondert verfassten Aufsatz angefügt wird (Die  «Frauen unterm Kreuz»  im Licht der vier Evangelien). Hier geht es nur um die Geste des «Sich-an-die-Brust-Schlagens», die in Rezession auf die zwei genannten, lukanischen Texte Eingang in die Liturgie gefunden haben. Der Gläubige schlägt sich darin während seines Schuldbekenntnisses auf die Brust. Wie in beiden Texten erzählt, geht mit ihrer Deutung die Gefahr eines verhängnisvollen Irrtums einher. Der entsteht, wenn der Gläubige sein Selbstgefühl verletzt und sich vor sich selbst erniedrigt. Ein so verstandenes «Zeichen der Reue» verkennt die dem Zeichen innewohnende Hierarchie und die Aufforderung zum Erheben seiner Augen, denn erst die eröffnet den Weg der Umkehr und Wandlung.

Eine medizinische Ergänzung

Ein heftiger Schlag auf die Brust hat paradoxe Konsequenzen. Zum einen kann er zum augenblicklichen Herztod führen, wie im Kampfsport oder beim Aufprall des Balls auf der Brust im Baseballspiel. Umgekehrt bringt ein zum richtigen Zeitpunkt verabreichter Faustschlag ein Herz, das flimmert und deshalb kein Blut mehr pumpt, wieder in den normalen Rhythmus zurück. Die Forschung vermutet, dass beide Effekte auf eine durch den Schlag verursachte Dehnung des Herzmuskels zurückzuführen ist, welche die elektrischen Eigenschaften der Herzmuskelzellen verändert.

Die paradoxe Konsequenz die ein Schlag auf die Brust hervorrufen kann, ist nicht die einzige naturwissenschaftliche Parallele zu den Überlieferungen im religiösen Kontext. Auch das in ihm aufscheinende Prinzip von «Dehnung» und «Ferne» ist offenbar von übergeordneter Bedeutung. Es ist das Prinzip durch das aus dem Numinosen das Dasein, die Zeit und der Raum entstehen. «Ferne» ist die Bedingung für Leben.

Zusammenfassung

«Sich auf die Brust klopfen» bedeutet, zu sich zufinden, nicht zu fliehen und Schuld nicht mehr zu projizieren, sondern die Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen. Das aber bedarf zweier Dinge. Zuerst muss man die Polarität des Daseins und die Notwendigkeit eines Widerstandes und Widersachers anerkennen. Die neue Sicht auf die Zwei führt zu einer Dynamik im Sinne eines verantwortlichen Handelns. Wer sich auf die Brust klopft, ist bereit, die rechte Antwort auf die Ansprache des Lebens zu geben. Der Übergang vom Schauen zum Handeln ist der Punkt der Umkehr. Die Physik bezeichnet ihn als den Punkt des «labilen Gleichgewichts». Als solcher kann er zu einer noch tieferen Flucht oder zur wirklichen Übernahme der Verantwortung führen.

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