Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

Das «Sterben» von Jesus am Kreuz im «rechten Geist»
Die Bedeutungen von Wein, Galle, Myrrhe, Essig, Schwamm, Rohr und Vorhang

von Michael Stelzner

Inhaltsverzeichnis

1. Das Angebot der Zweizahl als falsche Alternative

Sowohl Matthäus als auch Markus berichten davon, dass Jesus vor seiner Kreuzigung Wein angeboten wurde, der bei Matthäus mit Galle und bei Markus mit Myrrhe versetzt war. Jesus lehnte den Trunk in beiden Fällen ab.

(Mt 27,34)  „…gaben sie ihm mit Galle vermischten Wein zu trinken. Und als er davon gekostet hatte, wollte er nicht trinken.

 (Mk 15:23)  „Und sie gaben ihm mit Myrrhe vermischten Wein; er aber nahm ihn nicht.

Die talmudische Überlieferung berichtet davon, dass einem zum Tode Verurteilten von angesehenen Frauen Jerusalems ein Rauschtrank gegeben wurde, um ihn gegen die Schmerzen unempfindlicher zu machen. Mit Myrrhe gemischter Wein war ein solches Getränk, dessen betäubende Wirkung in der Antike wohl bekannt war. Jesus aber ging es auf dem Weg seiner Opferung um die Erhöhung des Bewusstseins. Betäubung oder auch nur Ablenkung wären eine Flucht vor der Wirklichkeit.

2. Das zweifelhafte Angebot in Form der Symbole «Wein», «Galle» und «Myrrhe»

In den Erzählungen der beiden sich zum Teil bewusst widersprechenden Zeugen Matthäus und Markus geht es um die Fähigkeit des rechten Differenzierens, die durch eine falsche Blickrichtung und ungeeignete Angebote aus dem Blick geraten kann. In beiden Erzählungen ringt Jesus noch um den rechten Geist. Der ist nicht der profane Weingeist, denn der würde ihn „nach unten ziehen“ (▽) und ihn in der Substanz verfangen. Würde er ihn aufnehmen, würde seine Suche zur Suche durch und in der Substanz, mithin zur Sucht. Jesus aber sucht den Geist, der erhebt (△).

Die notwendige Differenzierung ist keine einfache, weil der ungeeignete Geist den nach Orientierung Suchenden in zwiespältigen Alternativen anspricht. Matthäus und Markus, machen das deutlich, indem sie erzählen, dass Jesus auf seinem Kreuzesweg Wein mit Galle (Mt 27,34) bzw. mit Myrrhe (Mk 15, 23) gemischt angeboten bekommt. Jesus hat Wissens- und Orientierungs-Durst und doch lehnt er ab, denn er durchschaut den Dreh mit der zweifelhaften und falschen Alternative.

Die beiden Evangelisten zeichnen ein Bild der Symmetrie. Die Angebote Galle und Myrrhe stehen sich spiegelgleich gegenüber. Keine der beiden Seiten kann allein das Wesentliche zur Anschauung bringen, denn das besteht im Ideal hinter den zwei Formen. Die zwei Bilder bilden das Eine und Gemeinsame nur nach- und ab. Hier handelt es sich zudem um verführende Substanzen. Substanz und ihre Formen verführen. Das Angebot, zwischen beiden wählen zu können, ist kein wahrhaftiges Angebot, denn es hat nicht das Potential der Erhebung.¹

Das profane Volk denkt linearlogisch und hat nicht die Fähigkeit, in höherer Weise zu differenzieren. Es bietet Jesus auf seinem Kreuzesweg in bester Absicht den Weingeist an, um ihn von der allzu harten Konfrontation mit der Wirklichkeit ein Stückweit entkommen zu lassen. Doch weder der Weingeist noch seine zwei durch Beimischung von Galle und Myrrhe entstehenden Differenzierungen sind für den suchenden Geist hilfreich.

Die Wahl der Substanzen Galle versus Myrrhe ist keine zufällige. Sie dienen in unterschiedlichen Erscheinungen der Flucht und Betäubung, was ihre verschiedenen Aggregatzustände zum Ausdruck bringen. Sie unterscheiden sich durch gegensätzliche Wirkungen, wie auch der Mensch gegensätzlichen Orientierungen folgt. Während die Galle die Erdgebundenheit eines Geistes symbolisiert, ist die Myrrhe ein Symbol für die Vorherrschaft des Geistes. Ein der Galle zugeneigter Geist wird vom Konkreten beherrscht. Sein Verhalten ist das des Durchsetzens. Er gleicht dem Feuer, ist aktiv und steht deshalb in der Gefahr in Aggression, Zorn oder Bitterkeit zu versinken. Ein der Myrrhe zugeneigter Geist wird vom Spirituellen und von der mit ihr einhergehenden Utopie beherrscht. Sein Verhalten ist das des Empfangens, das in der Gefahr steht, einem Obrigkeitsdenken zu verfallen, zu dem auch die unreflektierte Gotteshörigkeit zählt. Sowohl die bei Matthäus dem Wein zugemischte Galle als auch die bei Markus an deren Stelle tretende Myrrhe verfehlen den notwendigen, triadischen Geist, der Jesus zum Erlöser werden lässt.

Die Differenzierung bezüglich der Beimischung des Weins scheint von sekundärer Art zu sein. Doch ist sie im Bezug zur Religion von großer Bedeutung. Markus (der Zweite) spricht in seiner Erzählung mit dem Griff zur Myrrhe ausdrücklich auch die Flucht durch falsche Spiritualität an! Auch sie würde dem hohen Ziel der Erhebung des Bewusstseins abträglich sein. Jesus lehnt auch diese ausdrücklich ab! Auch die Spiritualität hat das Potential zur (Welt-) Flucht. Auch sie bindet den Suchenden in der Linearität, an die horizontale Dimension des Seins.

3. Das neuzeitliche und verzweifelte Fragen nach «Galle» oder «Myrrhe»

Die trügerische Wahl zwischen Galle und Myrrhe ist mehr als eine Nebenbemerkung der beiden Evangelisten. Sie zeigt das tiefe Problem nach der Grundorientierung der Menschen auf, das in jeder Gesellschaft immer wieder aufs Neue gestellt wird und stets aktuell ist. In der heutigen Zeit finden die anthroposophischen Wissenschaften in dem Problem ihre Legitimierungen.

Der Mensch ist ausgespannt zwischen Himmel und Erde. Von einer linearen Logik geleitet, definiert er auf einer Art Skala zwischen beiden seinen eigenen Standpunkt, der seinerseits wiederum seine Denk- und Verhaltensmuster prägt. Lebendiges kann nicht vollends neutral sein. Seine Mitte ist mehr oder weniger zu einem der beiden Pole hin gewichtet, dem Erd- oder dem Himmelspol. Die moderne Psychologie spricht heute im Blick auf die Natur des Menschen von den zwei grundsätzlichen Visionen, denen ein Mensch notwendig anhängt. Nach Thomas Sowell handelt es sich dabei entweder um die „eingeschränkte Vision“ oder die „uneingeschränkte Vision“. In Wirklichkeit aber handelt es sich dabei um die Unterscheidung zweier archetypischer Kategorien, nämlich um die Spannung zwischen Geist (3) und Substanz (4). Die einfache linearlogische Sicht kann die ihnen zugehörigen, unterschiedlichen Seins-Dimensionen nicht abbilden und belegt ihre Erscheinungsformen hilfsweise deshalb mit erlebbaren Begriffen, wie das die „eingeschränkte Vision“ oder die „uneingeschränkte Vision“ sind. Die Evangelien nach Matthäus und nach Markus gebrauchen dafür die Metaphern Galle und Myrrhe, die sie dem Dritten, dem Wein (Geist) beimischen. Die Beimischungen gehen von einem profanen, linearlogischen Denken aus. Die zwei unterschiedlichen Visionen können deshalb einander nicht finden! Ihnen fehlt der triadische Ansatz. Ihnen fehlt das, was Lukas in seiner Erzählung über Jesus thematisiert (s.a. Aufsatz „Die Zahl Sechs und das «Sterben» von Jesus“).

4. Das Symbol des scheinbar sauren Essigs

Nachdem Jesus das Flucht- und Rauschmittel Galle versus Myrrhe abgelehnt hat und der Versuchung sowohl durch die erdhafte als auch die spirituelle Natur widerstanden hat, lässt er sich kreuzigen. Mit dem Aufrichten des Kreuzes tritt die vertikale Dimension in den Vordergrund. In diesem Bild geht es sodann um die Unterscheidung im Geist. Dazu unterscheiden die Evangelisten die zwei Arten des Geistes, den normalen Weingeist (+3) und den Essig (-3). Alle vier Evangelien berichten, dass Jesus nach der Kreuzigung vom Volk bzw. von den Söldnern «Essig» als Trunk entgegengenommen hat (Mt 27,48; Mk 15,36; Lk 23,36; Joh 19,28). Das ist konsequent, denn mit dem Essig bekommt er das, was ihm noch fehlt. Der Erhobene lebt nicht vom Ausschließen des sauren Anteils, sondern von dessen Integration. Er lebt vom „vergehenden Geist“. Was zuvor der Weingeist des Lebens war, das ist in dieser Situation nun der vergehende Wein, der Essig.

(Mt 27,48)  „Und sogleich lief einer von ihnen und nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken“.

(Mk 15,36)  „Einer aber lief, füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, gab ihm zu trinken und sprach: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, ihn herab zunehmen“!

(Lk 23,36)  Aber auch die Soldaten verspotteten ihn, indem sie hinzutraten, ihm Essig brachten.

(Joh 19,28ff)  „Mich dürstet. Es stand da ein Gefäß voll Essig. Sie legten nun einen Schwamm voller Essig um einen Ysop und brachten ihn an seinen Mund.   Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht …“!

Das Reichen des Essigs durch das Volk bzw. die Söldner erfolgt aus profanen oder gar niederträchtigen Gründen. Das aber ist nicht maßgebend. Der Essig erreicht für den sich am Kreuz inzwischen erhobenen Jesus seine Bestimmung. In der gewonnenen, vertikalen Unterscheidung erhalten auch die horizontalen Spannungen und ihre „sauren Inhalte“ einen Platz im Ganzen.

Die Erzählungen von Lukas und Johannes, des dritten und vierten Evangelisten wenden sich ihnen zu. Lukas thematisiert zunächst das Erheben selbst und Johannes manifestiert es sodann sowohl im Geist als auch in der Substanz.

5. Die Symbole «Schale», «Rohr», «Schwamm» und «Vorhang»

Von besonderer Bedeutung ist die Art der Verabreichung des Essigs. Sie gibt weiteren Aufschluss über die jeweilig archetypische Erzählart der Evangelisten. Bei Matthäus und bei Markus wird JESUS der Essig in einem «Schwamm» über ein «Rohr» gereicht. Die Symbole verbinden den 1ten und den 2ten Evangelisten. Der vierte, Johannes greift sie wieder auf und stellt sie in einen nun umfassenden Kontext. Zunächst zu den Symbolen selbst:

«Schwamm» und «Rohr» täuschen durch ihre Form etwas Manifestes vor. Im Rohr entdeckt man sogar die Eigenschaft der Linearität. In Wirklichkeit aber transportieren beide eine Botschaft, die über ihre manifesten und linearen Erscheinungsformen hinausreicht. Auch der Schwamm ist nur in seinem Äußeren ein manifester Gegenstand. Seine Wirklichkeit besteht darin, einen Inhalt zu transportieren. Das Rohr täuscht die Linearität nur vor und verleitet in seinem äußeren Erscheinen zum falschen Gebrauch, zum Irrtum und zum Übergriff im Denken. Markus verbindet es deshalb direkt mit der Verspottung Jesu (Mk 15;19). Die wahren Wirklichkeiten von Rohr und Schwamm bestehen in der Verbindung zweier Dimensionen, dem Äußeren und dem Inneren. Durch sie erst entsteht der eigentliche Fluss der Dinge (siehe Aufsatz Das Rohr).

Lukas geht es nicht mehr um die profane Sicht. Er erwähnt Schwamm und Rohr, die Hilfen zur Darreichung des Essigs nicht mehr. Sie treten zunächst in den Hintergrund. Ihm geht es primär um den höheren Geist hinter den Dingen und der wird über den auch bei ihm angesprochenen Essig ausreichend benannt. Dass es der Geist ist, der die Einsicht und den ihr folgenden Aufstieg bewirkt, verrät das frühzeitige Zerreißen des Vorhangs. Während bei Matthäus der Vorhang schon durch den Schrei Jesu und bei Markus durch die Artikulation der Sinnfrage zerreißt, ist der Grund bei Lukas die bewusste und rechte Sichtweise auf die Zwei. Der Vorhang zerreißt nachdem er das zweite seiner drei Kreuzesworte gesprochen hatte. In ihm wendet er sich einem der zwei mit ihm gekreuzigten Übeltäter zu und eröffnet dem Todgeweihten Zukunft. Das hält Jesus für geboten, denn dieser hatte sich zuvor von dem anderen im Geiste zu unterscheiden. Der mit dem Leben Bedachte vermochte Recht von Unrecht zu trennen. Der von Jesus im zweiten Kreuzeswort artikulierte, rechte Geist lässt unmittelbar den Vorhang zerreißen, der den Blick auf das Allerheiligste zuvor verdeckt hatte. Mit der Schau auf das Ganze kann Jesus seinen eigenen Geist weiter aufsteigen lassen und ihn in die „Hände des Vaters“ befehligen.

Mit dem vierten der Evangelisten, dem Johannes manifestiert sich eine neue Ebene der Existenz. In ihr entfallen viele der Symbole, die vorher die Wirklichkeit begleitend beschrieben haben, nun aber in einer Welt, in der die Archetypen verstanden werden, überflüssig werden. Johannes nennt keine genaue Todesstunde mehr und erwähnt auch nicht mehr den Wein oder den Vorhang, wohl aber den Essig, das Rohr und den Schwamm. Ihre Symbolik greift er wieder auf und bewertet sie umfassender. Zu den drei Dingen tritt das die Vierzahl symbolisierende Gefäß hinzu. Der Essig wird mit Hilfe der Drei seiner Bestimmung zugeführt. In der Vierzahl von Essig, Gefäß, Rohr und Schwamm wird deren wahre, weil ganzheitliche Bedeutung offensichtlich (Joh 19:29).

Johannes selbst ist ein Vierter. Als solcher steht er für das Konkrete schlechthin. Die von ihm neu eröffnete Dimension wirkt aus der Sicht der profanen Welt sehr abstrakt. Analog dem «Gesetz der Vier» (1+2→4) setzt sein Verstehen vieles voraus. So spricht Jesus bei Johannes ganz konkret von Durst und der ihm gereichte Essig kommt aus einem Gefäß (4), also einer konkret vorhandenen Schale (2). Diesmal wird ihm der mit Essig getränkte Schwamm nicht wie noch bei Matthäus und Markus über ein profanes Rohr und somit über ein vermeintlich Lineares gereicht, sondern über ein «Ysop». Das ist ein kleiner Busch mit stark riechenden Blättern, der auch beim sogenannten Reinigungsopfer zum Besprengen verwendet wurde. Seine tiefere Bedeutung liegt hier in der Vielheit der Blätter, die er als ein Ganzes verbindet, analog dem «Gesetz der Vier». Die schon beim 1ten und 2ten Evangelisten erwähnten aber noch nicht durchschauten Hilfen der Darreichung finden wir auch beim 4ten Evangelisten wieder. Nur erkennt man sie nun als Hilfen zur Vollstreckung und Vollendung des Gesetzes. Eine besondere Bedeutung erlangt in den späteren Rezensionen das auffangende und schützende, konkreten Gefäß.

Zusammenfassend ist das durch Jesus explizierte Sterben am Kreuz die Demonstration eines rechten Geistes. Der Erlöser demonstriert den rechten Umgang mit der Polarität der Welt. Er demonstriert mit seinem Bewusstsein (5) den Vollzug von Sechs. Der basiert vor dem Hintergrund des Gesetzes der Vier – dem Kreuz. Der so gelebte rechte Geist (3) stellt sich nicht über den Wein und auch nicht über die Beimischung von Galle oder Myrrhe ein. Er ist eine Leistung des Bewusstseins (5), das der Vier (Kreuz) und Linearität (Rohr) nicht ausweicht, sondern sie bewusst durchlebt und sie auf rechte Weise gebraucht.

Fußnoten

¹ Die Zahl der Symmetrie ist die Zahl 11. Ihre Symmetrie fällt durch ihr beiden Einsen ins Auge. Und doch sind beide „Einzelheiten“ nur das Abbild einer der Hintergrund wirkenden, wahren Eins, welche die zwei Formen nur auf zwei Ebenen abbilden. Die jüdische Zahl- und Buchstabensymbolik, in der jedem der 22 hebräischen Buchstaben sowohl ein Zahlenwert als auch ein Sinnbild zugeordnet ist, lässt ihren wahren Gehalt ganzheitlich erfassen. Das gilt auch für den 11. Buchstaben, das Kaph (ך כ). Er hat den Zahlenwert 20. Ihm entspricht das Sinnbild der offenen, empfangenden Hand. Die Verbindung der zwei Qualitäten erhellt den eigentlichen Zusammenhang der Symmetrie.

Das Symmetrieprinzip 11 ordnet jedem Teil ein ihm fehlendes Gegenteil zu. Nur wenn man dieses empfängt (offene Hand), kann eine höhere Ganzheit entstehen. Diese Erkenntnis stellt den vorübergehend in Misskredit geratene Ruf der Zweiheit (Polarität) wieder her und erweckt ihn auf höherer Ebene neu (20). Das gleiche, empfangende und befruchtende Prinzip finden wir auch im Wesen des 11. astrologische Zeichen, dem Wassermann, der deshalb das Zeichen des „Klapperstorchs“ ist.

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