Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

DAS ZEICHEN

von Michael Stelzner

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

(Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 1832.
5. Akt, Bergschluchten, Chorus Mysticus)

Inhaltsverzeichnis

1. Die Suche nach dem Ur-Zeichen

Die Welt ist voller Zeichen. Zu ihnen zählen auch die Zahlzeichen. Aber kein Zeichen ist von so grundsätzlicher Art wie die Zahl als solche. Zahlen sind universell. Sie sind zunächst etwas Geistiges uns als Zeichen erscheinen sie erst, wenn ihnen eine Form zukommt. Die Suche nach einem ersten und grundsätzlichen Zeichen findet deshalb in der Zahl als solche noch keine letzte und befriedigende Antwort. Die Frage nach dem Urzeichen erweitert sich zu der Frage, welche der Zahlen das «Prinzip Form» verkörpert. Mit anderen Worten: Welche Zahl erzählt vom Prinzip der Form alias vom «Prinzip des Erscheinens», in dem ein Geistiges zur Form wird und so Substanz erhält und sei sie auch noch so subtil. Die Wesenheit von Substanz ist notwendig, damit ein Zeichen greifbar oder begreifbar wird.

Die Religionen geben darauf eine Antwort und die ist erstaunlicherweise immer die gleiche: Es ist die Zahl Vier. Anhand der jüdisch-christlichen Schriftreligion, die uns in Form der Bibel vorliegt, lässt sich die Vier als das Zeichen aller Zeichen nachvollziehen.

2. Die Zahl Vier – ein erstes, manifestiertes Zeichen

Das Hebräische ist die Bibelsprache des Alte Testaments. Die sogenannte heilige Schrift besteht aus 22 Buchstaben. Jeder Buchstabe verkörpert jeweils einen Archetyp. Jedem der Buchstaben sind jeweils ein Sinnbild und ein Zahlenwert zugeordnet, sodass der Archetyp durch drei Eigenschaften begriffen werden kann. Die so 22 strukturierten Dreiheiten von Buchstabe, Zahl und Sinnbild beschreiben die geordnete Abfolge der Archetypen, deren letzter und höchster das Tau ( ת ) ist. Seine Bedeutung ist die von «Kreuz» oder «Zeichen» und sein Zahlenwert ist 400.

Die im hebräischen Alphabet erzählte Abfolge von Sinnwerten gipfelt im Begriff «Zeichen». Sie erzählt wörtlichen Sinn von den vorausliegenden Buchstaben und Zahlen, die die geistigen Inhalte jenes letzten «Zeichen» konstituieren. In der 400 ist das klar und deutlich die Zahl Vier einerseits und die mit ihr einhergehende Existenz von Dimensionen andererseits, denn die 400 verkörpert die Vier durch ihre zweimalige Erhebung (4à 40à 400) in eine jeweils neue und höhere Dimension.

Die hebräische Bibelsprache bringt den Begriff des Zeichens ( ת ) unmittelbar in Verbindung mit der Zahl 4. Der 4. Buchstabe des hebräischen Schriftsystem ist das Daleth ( ד ). Es hat den Zahlenwert 4 und sein Sinnbild ist die «Tür». Die Tür verschafft einen Zugang zu einem Raum. Da wir in Raum und Zeit leben, denken wir in Räumen. In den Wissenschaften nennen wir die Räume des Denkens auch Dimensionen. Türen sind Pforten und sie sind die Voraussetzungen zum Betreten neuer Dimensionen. Da es eine Vielzahl von Dimensionen gibt, die zueinander in Beziehungen stehen, gibt es auch eine Vielzahl von Pforten. Doch alle verkörpern das Wesen der Vier. Wer eine neue Dimension betritt, der betritt sie in der Umsetzung ihres Wesens alias in Verwirklichung des «Gesetzes der Vier».

Die Religion versucht das Bewusstsein des Menschen in eine neue und höhere Dimension zu führen. Dazu muss sie zunächst das Gesetz der Pforte erkennen, um es dann wirkmächtig umzusetzen. Die auseinander hervorgehenden Dimensionen können nur durch die «Pforten der Vier» erschlossen werden. Die hinzukommende Unterscheidung bezüglich der jeweils herrschenden Dimension ist dabei nur ein zusätzliches Merkmal. Um welche Dimension es sich dabei handelt, erkennen wir im uns geläufigen Stellewertsystem an der Zahl der Nullen. So verkörpert die 4 sowohl in der 40 als auch in der 400 das «Gesetz der Manifestation» alias das «Gesetz der Vier», das ich an anderer Stelle schon ausführlicher beschrieben habe. Hier soll der wichtige Hinweis genügen, dass die Vier die Einheit, Ganzheit und Göttlichkeit (1) in der Dimension von Raum und Zeit manifestiert. Den untrennbaren Zusammenhang der manifesten Substanz (4) mit ihrem göttlichen Ursprung (1) habe ich dort mit der Zahlen-Beziehung «1-4» beschrieben.

3. Das «Gesetz 1-4» im Prolog der Bibel

Die Bibel und ihre Buchstaben sind von greifbarer Substanz. Wie jede heilige Schrift versucht auch sie über die Form Geistiges zu vermitteln. Durch die Bindung an die Substanz ist auch sie als Ganzes ein Ausdruck der Zahl Vier. Idee und Zweck ihrer Bücher ist es, dem Leser immer höhere Bewusstseinsräume zu eröffnen. In der Sprache der Zahlenarchetypen geht es darum, den Dimensionssprung von der Vier zur Fünf, d.h. von der Substanz (4) zum Bewusstsein (5) vor Augen zu führen.

Auch wenn der eigentliche Gegenstand der Bibel die Entfaltung des Bewusstseins ist, so kann das in Anbetracht des Vorhergesagten nur über die Pforte der Vier gelingen. Aus diesem Grund haben die Verfasser des Bibelkanons dem eigentlichen Text einen Prolog vorangestellt, der für seine Exegese im vollumfänglichen Sinn maßgeblich ist. Der Prolog besteht aus vier Sätzen. Das vierte «Wort» des ersten Satzes ist ein nicht unmittelbar übersetzbares Zeichen. Es besteht aus den zwei Buchstaben alias Zahlen «1-400». Das Doppel-Zeichen zeigt den Akkusativ, den grammatikalisch 4. Fall an. Die Eins ( א ) hat die Bedeutung von «Anfang», «Kopf» oder «Haupt». Die durch die zwei Nullen zur 400 zweimal erhöhte Vier steht, wie voran beschrieben, für den letzten und höchsten, der 22. Buchstaben des hebräischen Alphabets, das Tau ( ת ). In seiner Bedeutung von «Kreuz» oder «Zeichen» wird es in der Verbindung mit der Eins, dem Alef ( א ) zum «Kopf-Zeichen», «Kopf-Kreuz» oder einfach zum «Haupt-Zeichen».

Das vierte Wort bildet das Zentrum des ersten Bibelsatzes. Es hat etwas Verbindliches, denn es verbindet die zwei Hälften eines Ganzen. Es verbindet den «Anfang» mit dem «Ende», das «Alef» mit dem «Tau». Das im ersten Satz an vierter Stelle stehende Zeichen verbindet darüber hinaus die drei Wörtern «Im-Anfang  schuf(en)  Götter» mit den ihnen folgenden drei Wörtern «die-Himmel  und  die-Erde». Das Zeichen verbindet und ist im wörtlichen Sinn verbindlich für das Verstehen aller nachfolgenden Texte!

Abb 1.  Der erste Satz des biblischen Prologs und seine Mitte – die Zahl 4.

Das im Prolog hervortretende «Zeichen des Anfangs» wird zur Grundlage der erkennbaren Ordnung. Die dem Prolog folgende Sieben-Tage-Erzählung beschreibt, wie explizit am vierten Tag in dem Zusammenwirken des kleinen mit dem großen Licht, Sonne und Mond die erkennbare Ordnung entsteht. Auf Grundlage der Ordnung erschafft die Gottheit am darauffolgenden 5. Tag sodann alle lebendigen Wesen (5).

4. Das KAINs-Zeichen und die Gottheit JHWH

Nach der Beschreibung der archetypischen Ordnung und der Konstitution des Menschen gliedert das Buch Genesis dessen Bewusstseinsentfaltung sukzessiv in sogenannte «Toledot». Übersetzt sind das «Geschlechterlisten». Die erste Toledot klärt vorab das Verhältnis des Menschen zu seiner Gottheit und sie klärt es auf der Basis des Gesetzes der Vier. Das macht sie in eindeutiger Weise u.a. in der allbekannten Paradieserzählung mit ihren zwei scheinbar widersprüchlich erscheinenden Bäumen. Der Garten Eden wird von vier Flüssen gespeist und die zwei legendären Bäume, der «Baum des Lebens» ( ∑ 233) und der «Baum des Erkennens Gutes und Böses» ( ∑ 932) stehen in einem Zahlenverhältnis von 1:4. Der an ihnen entbrannte Zwist wird von einer Schlange artikuliert, von einem Wesen, das linear erscheint und sich doch in besonderer Weise in Kurven bewegt. Der Schlange fehlen einfach die (vier) Beine. Nach dem Sündenfall gebietet ihr die Gottheit, für immer auf ihren Bauch zu kriechen. Ab da an ist sie für jeden sichtbar für immer an den Boden gebunden. Ein Erheben von ihm bleibt ihr verschlossen. Der aus dem «Garten der Wonne» vertriebene Mensch hat so ihre Anlage, ihr Wesen und Wirken deutlich vor Augen.

Der Hinauswurf aus dem «Garten der Wonne» hingegen erweist sich für den Menschen als fruchtbar. Die von der Gottheit erschaffenen zwei Menschen entdecken ihre Geschlechtlichkeit und zeugen das Brüderpaar KAIN und ABEL. Mit der Geburt von KAIN, dem ersten von Menschen gezeugten Menschen tritt nun auch erstmals die so entscheidende Gottheit JHWH hervor (Gen 4,1)! In Fortentwicklung des Schöpfergottes ELOHIM zu JHWH ELOHIM und schließlich zu JHWH ist letzterer nun der «Gott der Subjekte». Er selbst ist ein Subjekt, ein höheres und handelndes Subjekt, das für die an ihn gebundenen niederen Bewusstseinsgrade verbindlich wird.

Wie zu allem Anfang das «Gesetz der Vier» die Regie für die Entwicklung geführt hat, so führt nun die Gottheit JHWH die Regie. Sie baut auf dem Wesen der ersten Regie auf. Das besagt ihr Name, der aus vier Buchstaben besteht und deshalb auch das Tetragrammaton genannt wird. Die Entfaltung der Dinge und Erscheinungen setzt sich im Wirken JHWHs fort. Wie einst das «Zeichen der Vier» maßgebend war, so ist nun JHWH maßgebend. Die Gottheit ist wie die Vier nicht neutral. Sie duldet nicht, dass etwas verlorengeht und verbindet die sich scheinbar widersprechenden Gegensätze zu einer neuen Dimension.

Das einstige «Zeichen des Anfangs» alias das «Haupt-Zeichen» wird in der Erzählung vom ersten Menschengeschlecht durch das Wirken der Gottheit JHWH zum «Kopf-Zeichen» alias zum «Kopf-Kreuz» des KAIN. Ein erster Deutungsversuch der Erzählung vom Brüderpaar KAIN und ABEL scheitert zumeist daran, weil die Exegeten primär auf das Verhalten des KAIN schauen und nicht auf das der Gottheit JHWH. Das verzerrt die so wichtige Botschaft der Erzählung. Sie markiert einen Scheideweg für das ganzheitliche Verstehen aller nachfolgenden Erzählungen.

In Wirklichkeit ist die Erzählung vom Brüderpaar KAIN und ABEL eine Erzählung von der unerbittlichen, wörtlichen Eindeutigkeit göttlichen Handelns. Die in der Natur der Dinge wirkende Generalität der Vier wirkt in Form der Gottheit JHWH im Bewusstsein der Subjekte fort. Die Gottheit bewirkt Entfaltung und gibt dem Neuen, das dem größeren Ganzen dient, den Vorzug vor dem Anderen.

Bekanntlich haben die zwei Brüder der Gottheit JHWH je ein Brandopfer dargebracht. Der erstgeborene KAIN war Ackerbauer und hat die Früchte seines Feldes geopfert. Der nachgeborene ABEL war Viehzüchter und opferte entsprechend seines Standes der Gottheit Fleisch. JHWH hat auf den Wohlgeruch des Fleischgeruchs reagiert, nicht aber auf das Opfer KAINs. Der Geist JHWHs war «nach oben» auf das Erheben und das Erhabene und somit auf das Zukünftige gerichtet. Obwohl er sich nicht verächtlich gegenüber KAIN und seinem Ackerbau geäußert hat, fühlte der sich gedemütigt und erschlug daraufhin im Affekt, also ohne das notwendige Bewusstsein seinen Bruder ABEL.

Die Reaktion des KAIN erregt in der Regel die Gemüter der Leser mehr als die das Schicksal bestimmende Eindeutigkeit JHWHs. Die wahre und primäre Botschaft der Erzählung ist aber die, dass die Gottheit im Sinne des Höheren und Weiterentwickelten wertet! Sie will Fortschritt. KAIN ist hier der notwendig entstehende Schatten der Gottheit, der sich in fraktaler Weise in Form des getöteten ABEL fortsetzt. ABEL wird zum Schatten KAINs. Was hier so ungerecht und von Grund auf böse erscheint, beschreibt das Entstehen einer Spannung, die neues Leben erschafft. JHWH ist nicht ungerecht. Er setzt das «Gesetz der Vier» auf der Ebene der Subjekte um und fängt die durch die Handlung KAINs entstandene und schreiend empfundene Asymmetrie in einem größeren Bild wieder ein. Das Bild ist das KAINs-Zeichen, das der Überlebende nun für alle sichtbar auf seiner Stirn tragen muss.

KAIN war mangels Bewusstseins unschuldig. Das erfordert einen Blickwechsel. Das der gerechtfertigt und notwendig ist, das verbirgt sich in seinem Namen. Die Zahlenfolge des Namen KAIN ist 100-10-50. Wir finden sie u.a. auch im Begriff «tränken» (Gen 19,33) und im Begriff der «Unschuld» (Gen 20,5).¹

Der Ackerbauer KAIN hat die Fruchtbarkeit des Erdbodens (1-4-40) genutzt und darin die im Wesen seines Vaters «ADAM», dem «Erdling» angelegte Aufforderung erfüllt.² Die Erfüllung früherer Aufgaben wird den neuen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Das erlebt KAIN. Mit seiner Geburt erscheint auch die Gottheit JHWH, die nun die neue Dimension, die Dimension des Bewusstseins und seiner Gegensätze sichtbar macht. In ihr tritt das «Fleisch» in Erscheinung, das inhaltlich den Erdboden in seiner Fruchtbarkeit übersteigt. Im Hebräischen hat das «Fleisch» zugleich die Bedeutung von «Botschaft». Die neue Dimension verlangt, das unwidersprochene «Gesetz der Vier» (1+2 ➜ 4) auf das Verhalten der Subjekte (5+5 ➜ 10) zu übertragen. Beide Gesetze sind Gesetze der Addition. Das Grundwesen beider ist das Erheben des Blickes. Vom Übergang vom «Gesetz der Substanz» zum «Gesetz des Bewusstseins» informiert in larvierter Form schon die Sieben-Tage-Erzählung. Am 6. Tag werden vier Arten von Wesen erschaffen, das Kriechtier, das Herdentier, das Wildtier und der Mensch als ein Viertes.

Die Tiere richten ihren Blick auf den Erdboden und ernähren sich vom profanen Grün. Der Mensch hingegen ist ein Bewusstseinswesen und richtet sein Blick nach oben hin zum Ganzen. Er ernährt sich von «dem Grün, das Samen in sich trägt» und seiner Anlage nach sichtbar dem Licht entgegenstrebt.

Die Trennung von Tier und Mensch pflanzt sich in der nachfolgenden Geschlechtertrennung von Mann und Frau fort. Über sie fordert das Körperhafte (4) erstmals das Bewusstsein (5) heraus. Die Zweigeteilten werden sich schnell über die Spaltung erheben und sie auf fruchtbare Weise überwinden. Mit ihr beginnt die Entfaltung des Bewusstseins. Die KAIN-ABEL-Erzählung in der 1. Toledot geht wiederum einen Schritt weiter und gibt dem aufstrebenden Bewusstsein eine handfeste und sichtbare Gestalt.

KAIN versagt zunächst an seiner Herausforderung. Seine Tat bewegt ihn, seinen Blick «nach unten» zu führen. Hier schreitet JHWH ein und entgegnet ihm «So nicht!» (Gen 4,7). JHWH hat nicht nur den Zwist provoziert, er garantiert nach ihm auch den Bestand des Ganzen. Der Einspruch soll sagen, dass das nicht geht! Es ist ein «No-Go», denn es ist eines Menschen und seiner göttlichen Anlage gegenüber unwürdig.

Die Würde entsteht, wenn der Mensch (5) das «Gesetz der Vier» reflektiert und seine Herkunft – die auch die Herkunft der Gottheit JHWH ist – aus der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (1) begreift, verinnerlicht und in seinem Verhalten gegenüber dem Anderen umsetzt. Damit das dem immer auch mit einem Mangel behafteten, von Menschen gezeugten Menschen im Laufe seines Daseins möglich wird, muss ihm die Gottheit in einem ersten Schritt das Gesetz in Form eines stets sichtbaren Zeichens auf die Stirn schreiben.

Wenn KAIN auf die Frage JHWHs, «Wo ist ABEL, dein Bruder» (Gen 4,9) antwortet «Ich weiß es nicht. Bin ich der Bewahrer meines Bruders?», dann sind das keine zynischen Worte. KAIN weiß tatsächlich nicht, wo sein toter Bruder nun ist. Er kann es nicht wissen, weil er dem Tod noch nicht begegnet ist. Die Erfahrung steht ihm gerade bevor. So fragt er in naiv nach der Beziehung zu ihm und JHWH antwortet darauf, in dem er ihm das Zeichen der Zeichen, die Vier oder das Kreuz auf seine Stirn setzt.

Wie die Vier in genereller Weis die Zwei erhebt, so hatte auch KAIN sich erhoben. Doch hatte er sich nicht in der Weise über die Natur erhoben, wie es die Gottheit der Subjekte im Sinne des Zusammenwachsens gegensätzlicher Bewusstseinsaspekte verlangt. Die Reaktion KAINs war kein wirkliches Erheben. Sie war überheblich, denn sie war respektlos gegenüber dem Ganzen. Als Folge steht für KAIN nun das Getrenntsein schicksalhaft im Fokus seines Daseins. Das Kreuz auf der Stirn des ersten Menschensohns ist ein Zeichen des Widerspruchs und es ist ein Zeichen der Notwendigkeit, Einheit zu bewirken.

JHWH vertreibt KAIN vom substantiellen Ackerboden, der bis dahin die Existenz seines Vaters ADAM, dem «Erdling» und auch seine bestimmt hat. Das ist für ihn furchtbar.³ Das Zeichen auf seiner Stirn erscheint ihm als ein Zeichen des Todes. Für die Gottheit hingegen ist es ein Zeichen ihrer Herkunft und der Herkunft des Menschen aus der Ganzheit und Vollkommenheit und somit nichts Geringeres als ein Schutzzeichen, das seinen Träger für jeden sichtbar vor dessen Vernichtung, also vor dem Tod bewahrt.

KAIN muss sich mit diesem Widerspruch im Laufe seines Daseins auseinandersetzen. Konkret zieht er gen Osten, «dem Licht entgegen» ins Land Nod.⁴ Im abnehmenden Schatten des zunehmenden Lichts kann ihm bewusst werden, dass sein Mangel aus seinem beschränkten Blick auf den Widerspruch zwischen der Eins und der Zwei erwächst. Der Gezeichnete kann das Zeichen nicht unmittelbar unter dem größeren Blickwinkel begreifen, der den Widerspruch in der Zahl Vier auflöst.

Sich mehr und mehr seiner Verfehlung bewusstwerdend errichtet der Erwachende auf neuem Grund eine Stadt. Als Städtebauer legt er Hand an und manifestiert (4) ein größeres Ganzes (1). Eine Stadt führt die unterschiedlichen Subjekte zusammen. KAIN entfaltet das «Gesetz der Vier» (1+2➜4) zum «Gesetz der Subjekte» (5+5➜10). Er führt aber nicht nur die Subjekte seiner Dimension und Lebenssituation zusammen, sondern auch die Dimensionen selbst. Die von ihm erbaute Stadt erhält den Namen HENOCH. Das ist der Name seines Sohnes. So finden Vater und Sohn im dimensionsübergreifenden, neuen Ganzen zusammen. KAIN macht in seinem neuen Verhalten die Spannung fruchtbar, die er zwischen sich und seiner Gottheit JHWH einst wahrgenommen hatte und die einst der Grund dafür war, auf seinen Bruder mit Neid zu reagieren.

Die Erzählung von der Brüdergeschichte ist in Wirklichkeit eine Erzählung von drei Subjekten, von KAIN (5) und ABEL (5), die vom größeren Subjekt (10), von der Gottheit JHWH zusammengehalten werden. Auch die angesprochenen Bewusstseinsdimensionen sind drei: der Ackerbau, die Tierzucht und der Städtebau.

Das erste vom Menschen gezeugte Geschlecht ist Gegenstand der 1. Toledot. Ihr folgt die 2. Toledot, die wiederum von einer Neumanifestation erzählt. Mit ihr beginnt die Erzählung von der Erschaffung des Menschen noch einmal neu, was wiederum den Leser zunächst verwirrt (Gen 5).⁵ Die zweite Toledot manifestiert nach den vorangehenden drei Dimensionen eine vierte. Die erzählt vom göttlichen Sein des Menschen und beginnt mit dem 5. Kapitel der Genesis.

Wieder berichtet der Text – mit einem neuen Anfang von vorn beginnend – von der Erschaffung des Menschen ADAM, der im Bilde der Gottheit erschaffen wird. Der Blick auf diesen ADAM und seine Nachkommen ist aber nun ein anderer, ein ganzheitlicher. Jetzt erst hat der Leser das Rüstzeug, die Entwicklung unter dem Blickwinkel eines unerschütterlichen Ganzen zu lesen und die Auseinandersetzung der Subjekte als einen Schritt zu einem höheren Bewusstsein wahrzunehmen.

Die Überlieferungen der Kabbala erschaffen für den vor der 2. Toledot existierenden Menschen, dessen Bewusstsein sich noch nicht über die «Natur der Dinge» (4) erhoben hat, den Begriff des «Adam Kadmon». Erst die 2. Toledot erzählt vom sich seiner göttlichen Anlage bewusst gewordenen Menschen. Das wird durch das zugleich an ihrem Anfang gestellte Geschlechtsregister deutlich, das den Namen HENOCH als das 5. vom Menschen gezeugte Menschengeschlecht nennt. HENOCH wandelte mit Gott (siehe Symbolik 1—5). Seine Lebenszeit betrug 365 Jahre. Das ist die Zahl eines vollständigen Sonnenjahres. Wie das Ganze mit Ablauf eines Jahres nicht stirbt, so stirbt auch HENOCH nicht. Durch das von ihm erlangte göttliche Bewusstsein tritt an die Stelle des einst noch von KAIN gefürchteten Todes die Unsterblichkeit. Der Bibeltext berichtet: «Und weil er mit Gott wandelte, nahm ihn Gott hinweg, und er ward nicht mehr gesehen» (Gen 5,22ff).

5. Zusammenfassung: Die Zahl als Zeichen und ihre Bedeutung für den Menschen

Will man die in den Legenden der Religionen erzählten Beziehungen abstrakt als Archetypen erfassen, so bietet sich die Geometrie der Zahlen an, insbesondere die an anderer Stelle beschriebene «Flussform der Zahlen». Die Geometrie von Dreiecken stellt das Prinzip des Erhebens in der Dimension der Fläche dar. Das Pyramidensymbol erfasst das weitergehende Erheben über die Fläche sodann in der Zahl 5 in der Dimension des Raumes. Sowohl die Flussform der Zahlen, als auch das Pyramidensymbol setzen auf ihre Weise das Wesen der Fünf als Zahlsymbol für das Bewusstsein ins Bild. Beide zeigen die Schlüsselfunktion der Vier, über die das Bewusstsein (5) die Beziehung zur Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit erschauen kann.

Die menschliche Existenz (5) und das Zeichen (4) sind untrennbar miteinander verbunden. Wir sind gezeichnet. Das sind wir, weil wir denken, denn wir denken in Zeichen. Unsere Kultur, verstanden als ein spezifisches System kommunikativer Handlungen⁶, beruht auf Zeichensystemen. Jede Kultur lebt von ihren mythologischen Bildern und Zeichen, so unterschieden sie auch sein mögen. Das macht die Kulturen zu einander individuell. Warum eine Kultur ein spezifisches Zeichensystem benutzt, sagt Charakteristisches über diese Kultur aus. Endet das Verständnis der Menschen für diese Mythen und Zeichen, dann endet wie für den legendären KAIN auch diese spezifische Kultur und verlangt nach einem neuen Verstehen der alten Zeichen.

Der Verfall beginnt, wenn das allgemeine Zeichen- und Kulturbewusstsein verflacht und die Zeichen eine eigene Dynamik ausprägen, hinter der das Bewusstsein zunehmend zurücktritt. Der Rest wird zum «Hokuspokus» und «Abrakadabra». «Man folgt den Zeichen und den Regeln der Zeichen und erspart und ersetzt damit das Denken und die Regeln des Denkens».⁷ 

Stirbt eine Kultur und ihr Zeichensystem entsteht in der Regel eine neue mit neuen Mythen und einem neuen Zeichensystem. Man muss sich jedoch fragen, woher diese neuen Mythen und Zeichen kommen? Offenbar muss es einen Urtypus, einen «Ur-Mythos» mit «Urzeichen» geben, aus denen heraus sich diese kulturspezifischen Ausprägungen entwickeln.

Wie wäre Geist ohne Zahl denkbar, denn die Zahl macht das Erkennen erst möglich. Hinter der Zahl unseres Geistes steht etwas größeres – die göttliche Zahl (Augustinus) die das Urbild der Dinge und Begriffe ist.⁸

Leben ist Ordnung und die Zahl ist ihr erster Ausdruck. Sie ist das Ordnungsprinzip schlechthin. Damit ist selbst das Chaos strukturiert. Das wissen wir heute und nennen es deshalb das «determinierte Chaos». Das muss so sein, denn anderweitig wäre jede Ordnung willkürlich und wirklichkeitsfremd.

Fußnoten

¹ Siehe die Zahlenfolge 100-10-50 vorkommend in Gen 19,33:  «Und-sie-tränkten» (6-400-300-100-10-50) oder in Gen 20,5: «und-in-Unschuld» (6-2-50-100-10-50).

Suchen wir außerhalb der Genesis nach der Zahlenfolge, gibt uns der «Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament» in seiner 18. Auflage auf Seite 1165f Auskunft. Dort erfahren wir den großen Kontext, der davon berichtet, dass der Schatten das Leben und sein Schicksal formt. Die Zahlenfolge 100-10-50 findet sich in einer Reihe von begriffen, wie beispielsweise im Begriff «Sängerin, Zofe», Leichenklagelied, Rohr, Lanze». Auch finden wir ihn als die Bezeichnung eines «Sklaven einer Gottheit». Immer ist es der mitschwingende Schatten, der das Leben spüren lässt. Besonders deutlich wird das beim Begriff «musizieren» oder «komponieren».

² Der Text bezeichnet den erstgeborenen Sohn des Menschen KAIN als den «Diener des Erdbodens» und als den «Hüter der Herde» (Gen 4,2). Die Begriffe enthalten bereits die Archetypen, die vom «Gesetz der Vier» alias vom «Ur-Zeichen» erzählt werden. «Diener» und «Hüter» bewahren prinzipiell die Einheit (1). Doch begreift KAIN die Wirkung der Archetypen noch aus einer dinglichen Sicht heraus. Sein Blickfeld ist noch die Substanz (4) und noch nicht die Einheit als ein Geistiges (siehe 1—5).

³ Der Verlust des Erdbodens und des «Landes» wird sich in den nachfolgenden biblischen Büchern und im Schicksal des Gottesvolkes wiederholen. Wie einst dem Erdling ADAM das Wesen des Erdbodens eingeschrieben war und der dennoch von ihm vertrieben wird, so wird auch das Gottesvolk immer wieder «vertrieben» werden. Auch das Gottesvolk muss das einstige Verheißungsgut, das sogenannte «gelobte Land» verlassen und in ein Geistiges verwandeln. Das Festhalten an den Dingen der Welt verhindert das Entfalten ihres Bewusstseins.

⁴ Das Land «Nod» symbolisiert durch seine Zahlenfolge 50-6-4 die Verbindung (6) des 14. Buchstabens ( נ / Nun / Zahlenwert 50) mit dem 4. Buchstaben (ד / Daleth / Zahlenwert 4). Die 50 ist eine erhobene 5, mithin ein erhobenes Bewusstsein (5). Die Verbindung solchen Bewusstseins mit dem «Urzeichen Vier» manifestiert einen neuen Grund – das Land «Nod» – für das nun bewusste Dasein des Menschen.

⁵ «Dies ist das Buch der Geschlechterfolge Adams. An dem Tag, als Gott Adam schuf, machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau schuf er sie. Und er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch, an dem Tag, als sie geschaffen wurden»  Gen 5, 1-2 / ELB.

⁶ Kultur so definiert n. Brisson, Luc: Einführung in die Philosophie des Mythos. Band 1: Antike, Mittelalter und Renaissance, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996 (Sonderausgabe 2005; gedruckt von Books on Demand)

⁷ Edmund Husserl in: Sommer, Denkökonomie und Empfindungstheorie bei Mach und Husserl, Hrsg. Haller/Stadtler. Beispielsweise entstanden nach dem Autor der Ausdruck «Hokuspokus» aus dem einstigen «hoc est enim corpus meum» und das «Abrakadabra» aus dem (ägyptischen) Göttername «Abrasax».

⁸ Siehe Oscar Goldberg: «Die 5 Bücher Moses, ein Zahlengebäude», Berlin 1908, s. S. 37

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