Nach der Beschreibung der archetypischen Ordnung und der Konstitution des Menschen gliedert das Buch Genesis dessen Bewusstseinsentfaltung sukzessiv in sogenannte «Toledot». Übersetzt sind das «Geschlechterlisten». Die erste Toledot klärt vorab das Verhältnis des Menschen zu seiner Gottheit und sie klärt es auf der Basis des Gesetzes der Vier. Das macht sie in eindeutiger Weise u.a. in der allbekannten Paradieserzählung mit ihren zwei scheinbar widersprüchlich erscheinenden Bäumen. Der Garten Eden wird von vier Flüssen gespeist und die zwei legendären Bäume, der «Baum des Lebens» ( ∑ 233) und der «Baum des Erkennens Gutes und Böses» ( ∑ 932) stehen in einem Zahlenverhältnis von 1:4. Der an ihnen entbrannte Zwist wird von einer Schlange artikuliert, von einem Wesen, das linear erscheint und sich doch in besonderer Weise in Kurven bewegt. Der Schlange fehlen einfach die (vier) Beine. Nach dem Sündenfall gebietet ihr die Gottheit, für immer auf ihren Bauch zu kriechen. Ab da an ist sie für jeden sichtbar für immer an den Boden gebunden. Ein Erheben von ihm bleibt ihr verschlossen. Der aus dem «Garten der Wonne» vertriebene Mensch hat so ihre Anlage, ihr Wesen und Wirken deutlich vor Augen.
Der Hinauswurf aus dem «Garten der Wonne» hingegen erweist sich für den Menschen als fruchtbar. Die von der Gottheit erschaffenen zwei Menschen entdecken ihre Geschlechtlichkeit und zeugen das Brüderpaar KAIN und ABEL. Mit der Geburt von KAIN, dem ersten von Menschen gezeugten Menschen tritt nun auch erstmals die so entscheidende Gottheit JHWH hervor (Gen 4,1)! In Fortentwicklung des Schöpfergottes ELOHIM zu JHWH ELOHIM und schließlich zu JHWH ist letzterer nun der «Gott der Subjekte». Er selbst ist ein Subjekt, ein höheres und handelndes Subjekt, das für die an ihn gebundenen niederen Bewusstseinsgrade verbindlich wird.
Wie zu allem Anfang das «Gesetz der Vier» die Regie für die Entwicklung geführt hat, so führt nun die Gottheit JHWH die Regie. Sie baut auf dem Wesen der ersten Regie auf. Das besagt ihr Name, der aus vier Buchstaben besteht und deshalb auch das Tetragrammaton genannt wird. Die Entfaltung der Dinge und Erscheinungen setzt sich im Wirken JHWHs fort. Wie einst das «Zeichen der Vier» maßgebend war, so ist nun JHWH maßgebend. Die Gottheit ist wie die Vier nicht neutral. Sie duldet nicht, dass etwas verlorengeht und verbindet die sich scheinbar widersprechenden Gegensätze zu einer neuen Dimension.
Das einstige «Zeichen des Anfangs» alias das «Haupt-Zeichen» wird in der Erzählung vom ersten Menschengeschlecht durch das Wirken der Gottheit JHWH zum «Kopf-Zeichen» alias zum «Kopf-Kreuz» des KAIN. Ein erster Deutungsversuch der Erzählung vom Brüderpaar KAIN und ABEL scheitert zumeist daran, weil die Exegeten primär auf das Verhalten des KAIN schauen und nicht auf das der Gottheit JHWH. Das verzerrt die so wichtige Botschaft der Erzählung. Sie markiert einen Scheideweg für das ganzheitliche Verstehen aller nachfolgenden Erzählungen.
In Wirklichkeit ist die Erzählung vom Brüderpaar KAIN und ABEL eine Erzählung von der unerbittlichen, wörtlichen Eindeutigkeit göttlichen Handelns. Die in der Natur der Dinge wirkende Generalität der Vier wirkt in Form der Gottheit JHWH im Bewusstsein der Subjekte fort. Die Gottheit bewirkt Entfaltung und gibt dem Neuen, das dem größeren Ganzen dient, den Vorzug vor dem Anderen.
Bekanntlich haben die zwei Brüder der Gottheit JHWH je ein Brandopfer dargebracht. Der erstgeborene KAIN war Ackerbauer und hat die Früchte seines Feldes geopfert. Der nachgeborene ABEL war Viehzüchter und opferte entsprechend seines Standes der Gottheit Fleisch. JHWH hat auf den Wohlgeruch des Fleischgeruchs reagiert, nicht aber auf das Opfer KAINs. Der Geist JHWHs war «nach oben» auf das Erheben und das Erhabene und somit auf das Zukünftige gerichtet. Obwohl er sich nicht verächtlich gegenüber KAIN und seinem Ackerbau geäußert hat, fühlte der sich gedemütigt und erschlug daraufhin im Affekt, also ohne das notwendige Bewusstsein seinen Bruder ABEL.
Die Reaktion des KAIN erregt in der Regel die Gemüter der Leser mehr als die das Schicksal bestimmende Eindeutigkeit JHWHs. Die wahre und primäre Botschaft der Erzählung ist aber die, dass die Gottheit im Sinne des Höheren und Weiterentwickelten wertet! Sie will Fortschritt. KAIN ist hier der notwendig entstehende Schatten der Gottheit, der sich in fraktaler Weise in Form des getöteten ABEL fortsetzt. ABEL wird zum Schatten KAINs. Was hier so ungerecht und von Grund auf böse erscheint, beschreibt das Entstehen einer Spannung, die neues Leben erschafft. JHWH ist nicht ungerecht. Er setzt das «Gesetz der Vier» auf der Ebene der Subjekte um und fängt die durch die Handlung KAINs entstandene und schreiend empfundene Asymmetrie in einem größeren Bild wieder ein. Das Bild ist das KAINs-Zeichen, das der Überlebende nun für alle sichtbar auf seiner Stirn tragen muss.
KAIN war mangels Bewusstseins unschuldig. Das erfordert einen Blickwechsel. Das der gerechtfertigt und notwendig ist, das verbirgt sich in seinem Namen. Die Zahlenfolge des Namen KAIN ist 100-10-50. Wir finden sie u.a. auch im Begriff «tränken» (Gen 19,33) und im Begriff der «Unschuld» (Gen 20,5).¹
Der Ackerbauer KAIN hat die Fruchtbarkeit des Erdbodens (1-4-40) genutzt und darin die im Wesen seines Vaters «ADAM», dem «Erdling» angelegte Aufforderung erfüllt.² Die Erfüllung früherer Aufgaben wird den neuen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Das erlebt KAIN. Mit seiner Geburt erscheint auch die Gottheit JHWH, die nun die neue Dimension, die Dimension des Bewusstseins und seiner Gegensätze sichtbar macht. In ihr tritt das «Fleisch» in Erscheinung, das inhaltlich den Erdboden in seiner Fruchtbarkeit übersteigt. Im Hebräischen hat das «Fleisch» zugleich die Bedeutung von «Botschaft». Die neue Dimension verlangt, das unwidersprochene «Gesetz der Vier» (1+2 ➜ 4) auf das Verhalten der Subjekte (5+5 ➜ 10) zu übertragen. Beide Gesetze sind Gesetze der Addition. Das Grundwesen beider ist das Erheben des Blickes. Vom Übergang vom «Gesetz der Substanz» zum «Gesetz des Bewusstseins» informiert in larvierter Form schon die Sieben-Tage-Erzählung. Am 6. Tag werden vier Arten von Wesen erschaffen, das Kriechtier, das Herdentier, das Wildtier und der Mensch als ein Viertes.
Die Tiere richten ihren Blick auf den Erdboden und ernähren sich vom profanen Grün. Der Mensch hingegen ist ein Bewusstseinswesen und richtet sein Blick nach oben hin zum Ganzen. Er ernährt sich von «dem Grün, das Samen in sich trägt» und seiner Anlage nach sichtbar dem Licht entgegenstrebt.
Die Trennung von Tier und Mensch pflanzt sich in der nachfolgenden Geschlechtertrennung von Mann und Frau fort. Über sie fordert das Körperhafte (4) erstmals das Bewusstsein (5) heraus. Die Zweigeteilten werden sich schnell über die Spaltung erheben und sie auf fruchtbare Weise überwinden. Mit ihr beginnt die Entfaltung des Bewusstseins. Die KAIN-ABEL-Erzählung in der 1. Toledot geht wiederum einen Schritt weiter und gibt dem aufstrebenden Bewusstsein eine handfeste und sichtbare Gestalt.
KAIN versagt zunächst an seiner Herausforderung. Seine Tat bewegt ihn, seinen Blick «nach unten» zu führen. Hier schreitet JHWH ein und entgegnet ihm «So nicht!» (Gen 4,7). JHWH hat nicht nur den Zwist provoziert, er garantiert nach ihm auch den Bestand des Ganzen. Der Einspruch soll sagen, dass das nicht geht! Es ist ein «No-Go», denn es ist eines Menschen und seiner göttlichen Anlage gegenüber unwürdig.
Die Würde entsteht, wenn der Mensch (5) das «Gesetz der Vier» reflektiert und seine Herkunft – die auch die Herkunft der Gottheit JHWH ist – aus der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit (1) begreift, verinnerlicht und in seinem Verhalten gegenüber dem Anderen umsetzt. Damit das dem immer auch mit einem Mangel behafteten, von Menschen gezeugten Menschen im Laufe seines Daseins möglich wird, muss ihm die Gottheit in einem ersten Schritt das Gesetz in Form eines stets sichtbaren Zeichens auf die Stirn schreiben.
Wenn KAIN auf die Frage JHWHs, «Wo ist ABEL, dein Bruder» (Gen 4,9) antwortet «Ich weiß es nicht. Bin ich der Bewahrer meines Bruders?», dann sind das keine zynischen Worte. KAIN weiß tatsächlich nicht, wo sein toter Bruder nun ist. Er kann es nicht wissen, weil er dem Tod noch nicht begegnet ist. Die Erfahrung steht ihm gerade bevor. So fragt er in naiv nach der Beziehung zu ihm und JHWH antwortet darauf, in dem er ihm das Zeichen der Zeichen, die Vier oder das Kreuz auf seine Stirn setzt.
Wie die Vier in genereller Weis die Zwei erhebt, so hatte auch KAIN sich erhoben. Doch hatte er sich nicht in der Weise über die Natur erhoben, wie es die Gottheit der Subjekte im Sinne des Zusammenwachsens gegensätzlicher Bewusstseinsaspekte verlangt. Die Reaktion KAINs war kein wirkliches Erheben. Sie war überheblich, denn sie war respektlos gegenüber dem Ganzen. Als Folge steht für KAIN nun das Getrenntsein schicksalhaft im Fokus seines Daseins. Das Kreuz auf der Stirn des ersten Menschensohns ist ein Zeichen des Widerspruchs und es ist ein Zeichen der Notwendigkeit, Einheit zu bewirken.
JHWH vertreibt KAIN vom substantiellen Ackerboden, der bis dahin die Existenz seines Vaters ADAM, dem «Erdling» und auch seine bestimmt hat. Das ist für ihn furchtbar.³ Das Zeichen auf seiner Stirn erscheint ihm als ein Zeichen des Todes. Für die Gottheit hingegen ist es ein Zeichen ihrer Herkunft und der Herkunft des Menschen aus der Ganzheit und Vollkommenheit und somit nichts Geringeres als ein Schutzzeichen, das seinen Träger für jeden sichtbar vor dessen Vernichtung, also vor dem Tod bewahrt.
KAIN muss sich mit diesem Widerspruch im Laufe seines Daseins auseinandersetzen. Konkret zieht er gen Osten, «dem Licht entgegen» ins Land Nod.⁴ Im abnehmenden Schatten des zunehmenden Lichts kann ihm bewusst werden, dass sein Mangel aus seinem beschränkten Blick auf den Widerspruch zwischen der Eins und der Zwei erwächst. Der Gezeichnete kann das Zeichen nicht unmittelbar unter dem größeren Blickwinkel begreifen, der den Widerspruch in der Zahl Vier auflöst.
Sich mehr und mehr seiner Verfehlung bewusstwerdend errichtet der Erwachende auf neuem Grund eine Stadt. Als Städtebauer legt er Hand an und manifestiert (4) ein größeres Ganzes (1). Eine Stadt führt die unterschiedlichen Subjekte zusammen. KAIN entfaltet das «Gesetz der Vier» (1+2➜4) zum «Gesetz der Subjekte» (5+5➜10). Er führt aber nicht nur die Subjekte seiner Dimension und Lebenssituation zusammen, sondern auch die Dimensionen selbst. Die von ihm erbaute Stadt erhält den Namen HENOCH. Das ist der Name seines Sohnes. So finden Vater und Sohn im dimensionsübergreifenden, neuen Ganzen zusammen. KAIN macht in seinem neuen Verhalten die Spannung fruchtbar, die er zwischen sich und seiner Gottheit JHWH einst wahrgenommen hatte und die einst der Grund dafür war, auf seinen Bruder mit Neid zu reagieren.
Die Erzählung von der Brüdergeschichte ist in Wirklichkeit eine Erzählung von drei Subjekten, von KAIN (5) und ABEL (5), die vom größeren Subjekt (10), von der Gottheit JHWH zusammengehalten werden. Auch die angesprochenen Bewusstseinsdimensionen sind drei: der Ackerbau, die Tierzucht und der Städtebau.
Das erste vom Menschen gezeugte Geschlecht ist Gegenstand der 1. Toledot. Ihr folgt die 2. Toledot, die wiederum von einer Neumanifestation erzählt. Mit ihr beginnt die Erzählung von der Erschaffung des Menschen noch einmal neu, was wiederum den Leser zunächst verwirrt (Gen 5).⁵ Die zweite Toledot manifestiert nach den vorangehenden drei Dimensionen eine vierte. Die erzählt vom göttlichen Sein des Menschen und beginnt mit dem 5. Kapitel der Genesis.
Wieder berichtet der Text – mit einem neuen Anfang von vorn beginnend – von der Erschaffung des Menschen ADAM, der im Bilde der Gottheit erschaffen wird. Der Blick auf diesen ADAM und seine Nachkommen ist aber nun ein anderer, ein ganzheitlicher. Jetzt erst hat der Leser das Rüstzeug, die Entwicklung unter dem Blickwinkel eines unerschütterlichen Ganzen zu lesen und die Auseinandersetzung der Subjekte als einen Schritt zu einem höheren Bewusstsein wahrzunehmen.
Die Überlieferungen der Kabbala erschaffen für den vor der 2. Toledot existierenden Menschen, dessen Bewusstsein sich noch nicht über die «Natur der Dinge» (4) erhoben hat, den Begriff des «Adam Kadmon». Erst die 2. Toledot erzählt vom sich seiner göttlichen Anlage bewusst gewordenen Menschen. Das wird durch das zugleich an ihrem Anfang gestellte Geschlechtsregister deutlich, das den Namen HENOCH als das 5. vom Menschen gezeugte Menschengeschlecht nennt. HENOCH wandelte mit Gott (siehe Symbolik 1—5). Seine Lebenszeit betrug 365 Jahre. Das ist die Zahl eines vollständigen Sonnenjahres. Wie das Ganze mit Ablauf eines Jahres nicht stirbt, so stirbt auch HENOCH nicht. Durch das von ihm erlangte göttliche Bewusstsein tritt an die Stelle des einst noch von KAIN gefürchteten Todes die Unsterblichkeit. Der Bibeltext berichtet: «Und weil er mit Gott wandelte, nahm ihn Gott hinweg, und er ward nicht mehr gesehen» (Gen 5,22ff).