Die Begriff Hexadaktylie bedeutet „Sechsfingerigkeit“ und meint damit das Vorhandensein von 6 anstatt 5 Finger oder Zehen an einer Hand bzw. einem Fuß. Die Sechsfingerigkeit ist medizinisch gesehen eine Fehlentwicklung. Sie ist keineswegs selten und kommt isoliert oder zusammen mit anderen Fehlbildungen in mehr als 90 verschiedenen, komplexen Krankheitsbildern vor. Isoliert, also als Einzelsymptom tritt sie in Europa, Amerika und Asien einmal bei 3.000 Geburten auf. In Afrika findet man sie sogar einmal bei 300 Geburten.
Das Phänomen der Sechsfingerigkeit hat sich wegen seines auffälligen Zahlen- und zugleich Menschenbezugs schon früh als ein Deutungsmotiv in der Bildenden Kunst angeboten. Zudem erwähnt die Bibel es in 2. Sam 21,20ff und 1. Chr. 20,6ff. Dort werden die Riesen, die sogenannten „langen Männer“ mit der Zahl 6 im Sinne der ihnen anhaftenden, verhängnisvollen Linearität identifiziert. Der Riese ist übergebührend in der Substanz verhaftet. Im Gegensatz zum Zwerg überwiegt bei ihm die Substanz mit ihrem noch fehlenden Bewusstsein.
Das rechte Verstehen der Zwei und der aus ihr sich entfaltenden Sechs symbolisiert David, der zweite König der Israeliten. Er durchschaut das wahre triadischen Wesen der Zweiheit und bringt es über die Sechs zur rechten Funktion (siehe Abb. 2-6). Das Siegel Davids ist deshalb das Hexagramm. Ihm gegenüber stehen die Riesen, die „langen Männer“. In 1. Sam 17,4-7ff erlegt David den Riesen Goliath, der in seiner linear gedeuteten Welt verhaftet ist und der wahren Sechszahl nicht gerecht werden kann.

Abb. 2-6 Die Entfaltung der Zweiheit und des Widerspruchs (2) zur fruchtbaren, weil verbindenden Funktion der Sechs ist bei den arabischen Zahlzeichen in Form ihrer Spiegelbeziehung erkennbar.
Die biblische Symbolik stellt das wahre, triadisch zu deutende Wesen der Sechs dem linear gedeuteten und verhängnisvollen gegenüber. Das Unterscheiden und Verstehen der beiden Weltsichten ist von so hoher Bedeutung, dass es im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes thematisiert wird. Johannes führt es u.a. am Beispiel der Zahl 666 aus (Off 13,18), die er dort als die „Zahl des Tieres und des Menschen“ bezeichnet. Sowohl das Tier als auch der Mensch leben in der konkreten, ihnen linear erscheinenden Welt und beide müssen mit der Linearität umgehen. Doch hat die offensichtliche Linearität der Zahl 666 für das Tier eine andere Bedeutung als für den Menschen, denn der Mensch durchschaut sie als eine verkürzte Darstellung eines mehrdimensionalen Geschehens. Er kann sich über die Linearität erheben, sofern er nicht mehr als Tier west.
Der lineare Blick aus der teilhaftigen Welt heraus verfehlt die wahre dritte und erhabene Dimension. Wollte man die drei Sechsen der 666 triadisch darstellen, so müsste man sich der Geometrie bedienen und ein Dreieck zeichnen, dessen drei Ecken eine Sechs tragen.

Abb. 666 Die verfehlende, lineare und die richtige, triadische Sicht auf die 666
Die zwei Seiten der Sechs, die tierische und die göttlich-menschliche thematisieren Künstler, wenn sie das Phänomen der „Sechsfingerigkeit“ darstellen. Will man ihre Botschaft verstehen, muss man beide Aspekte, den linearen und den triadischen in ihrem unauflösbaren Zusammenhang interpretieren. Das ist insofern höchst anspruchsvoll, da jede Sechs mit ihrem negativen und positiven Aspekt den Betrachter immer herausfordert, auch den linearen Aspekt positiv und fruchtbringend zu deuten. An zwei Heiligenbildern mit dargestellter „Sechsfingerigkeit“ möchte ich das aufzeigen. Das eine ist die im Jahre 1504 von Raffael gemalte „Hochzeit der Jungfrau“, auch Vermählung Mariens genannt. Auf ihm hat der rechte Fuß des heiligen Josef sechs Zehen. Das andere Gemälde ist das Gnadenbild der sogenannten heiligen Maria Sechsfinger am linken Altar in der Wallfahrtskirche in Maria Laach am Jauerling (Wachau, Österreich), erstellt um 1480 von einem unbekannten Künstler. Auf dieser Darstellung hat die Hand der Gottesmutter, die das Jesuskind hält, sechs Finger.

Abb.: links – Ausschnitt des Gnadenbildes der Gottesmutter Maria Sechsfinger
Rechts – Die Vermählung Mariens von Raffael
Einmal wird Maria und das andere Mal wird Josef mit der durch Linearität verkürzten Sechs verbunden. Der Schlüssel, um die triadische Sechs mit der linearen Sechs zusammendenken zu können, liegt nicht im Gegensatz von männlich und weiblich, der ein horizontaler ist, sondern vielmehr im vertikalen Gegensatz von profan und heilig, denn die von der „Sechsfingerigkeit“ Betroffenen sind beide heilige Figuren in einer Erdenszene. Beide leben ganz konkret in der scheinbaren Linearität der realen Welt und ihre Handlungen erfüllen dennoch die Forderungen der höheren, göttlichen Sechs.
Darstellungen von „Sechsfingerigkeit“ bei Heiligen kommen aus dem Byzantinismus und sind dort keine Seltenheit. Neben sechs Fingern findet man auch Marien mit drei Händen. Das führte zu der Erklärung, dass die Künstler lediglich die außergewöhnliche Natur der Gottesmutter zeigen wollten. Die Erklärung bleibt aus mehreren Gründen unbefriedigend. Zum einen galt damals ein mit einem 6ten Finger geborenes Kind als missgeboren und dämonisch. Zum anderen waren den Künstlern zu jener Zeit die Bedeutung der Sechs und ihrer Schattenseite sehr gegenwärtig.