Die Basmala eröffnet die einzelnen Koran-Suren. Die Botschaft der 19 Buchstaben der Basmala verbindet die 114 Perspektiven der Suren zugleich zu einem gemeinsamen Ganzen. Die das Ganze eröffnende Basmala findet ihr Ende in der 114ten Sure («Die Menschen»). Das aber ist wie jedes Ende nur ein Ende aus einer dinglichen und somit begrenzten Sicht. Das Ende trifft auf eine trennende und verbindende Grenze. Ihr Symbol ist die 6.
Die Begrenzung der Suren auf die Zahl 114 ist nicht zufällig. Sie ist das Produkt von 6 x 19. Was nach der 6fachen 19 kommt, kann mit den Instrumenten und Parametern der vorangehenden Dimension nicht erfasst werden. Das lehrt uns das Wesen der 7, das ein rein funktionelles und rückwirkendes, aber kein substantiell (be)greifbares ist. Jenen Weg von den Dingen zu den Nicht-Dingen beschreibt der Koran in seinen 114 Suren. Seine religiösen Botschaften bedienen sich dabei zunehmend subtilerer Formen, bis sie sich schließlich auflösen. Die letzte Botschaft, gewissermaßen die Kernbotschaft bedient sich einer Form, die kaum noch eine ist. Wir finden sie in den sogenannten «Vorbuchstaben».
Die sogenannten Koran-Initialen sind Vorbuchstaben bzw. Vorzahlen, die 29 der 114 Koran-Suren vorangestellt sind. Sie sind ungleichmäßig – von Sure 2 beginnend und mit Sure 68 endend – verteilt und wirken wie Fremdkörper ohne Sinn und Bedeutung.
Keine Mathematik kann ihre Ordnung festmachen. Das wirkt tragisch, denn die Religionen versuchen die Ordnung zu erkennen und der in ihre Mysterien Eingeweihte weiß, dass jegliche Ordnung an der Zahl hängt, ohne die Ordnung nicht vorstellbar ist. Die Koran-Initialen bzw. Vorzahlen lassen den die Ordnung Suchenden nun aber auch noch an den letzten Entitäten scheitern. Sie erzählen ihm am Ende, dass sie gerade nicht die Entitäten sind, für die er sie aus seiner linearen Logik heraus hält. Weil das denkende Subjekt nun aber unwiderruflich einer Linearität bedarf, thematisiert die letzte Botschaft des Korans die Grenze selbst. Indem dem Denkenden auch noch sein letztes Zauberinstrument genommen wird, wird er auf sich selbst – den, der die Grenze setzt und die Grenze ist – zurückgeworfen.
Die scheinbar sinnlosen Vorbuchstaben sind die Hüter einer Schwelle zwischen dem göttlichen Sein und dem Dasein des Menschen. Jene Ur-Spannung erfasst der in die Archetypen Eingeweihte bereits im Verhältnis der Archetypen 1 und 2 alias der Einheit und Polarität. Das Ur-Verhältnis ist für alle nur denkbaren Verhältnisse maßgebend. Und so weiß er, dass das Geheimnis der Zahl über ihr mathematisches Potential hinausreicht. Er weiß, dass die Zahl in Form eines Archetypus ein erstes «Anderes»(2) gegenüber der göttlichen Einheit (1) ist.
Die mit der 2ten Sure beginnenden Koran-Initialen erzählen vordergründig vom «Hälftigen», vom «Fehlen» und vom «Fehler», der allem Dasein anhaftet, so auch den Zahlen im Koran. Der durch sie herausgeforderte Leser soll jedoch nicht auf diesem halben Weg stehen bleiben. Hinterfragt er weiter, so stößt er auf die Zahl 19, auf die maßgebende Zahl im Koran. Sie zeigt ihm, dass das göttliche Geheimnis nicht berechnet werden kann. Die 19 zeigt ihm, dass das Nichterkennbare eine Tatsache ist. Sie zeigt ihm aber auch, dass er «erschauen» (5) kann, WARUM die Nichterkennbarkeit existiert, welchen Sinn sie hat und wem sie dient. Wer das Wesen der 19 erschaut, der erschaut DAS, was über die Linearitäten hinaus geht.
Um einige der zahlreichen Aspekte der Initialbuchstaben zu erhellen, habe ich den Aufsatz «Die mysteriösen Koran-Initialen und das polare Wesen der Zahlen» verfasst. Hier geht es nur um den Zusammenhang zwischen der Zahl 19 und den Brüchen in den Linearitäten die das Leben formen und ihm Gestalt geben.
Wie alles existieren auch die Zahlensysteme durch Brüche. So unterscheiden wir beispielsweise das Dezimalsystem vom Sexagesimalsystem, Duodezimalsystem, Binärsystem usw. Jedes System hat seine Stärken und Schwächen. Alle aber nutzen das «Prinzip Zahl». Um das zu ergründen, bedarf es einer triadischen Sicht, wie ich sie in der «Flussform der Zahlen» vorgestellt habe und von der auch der Koran erzählt. Die triadische Flussform ermöglicht eine verbindende Schau der Zahl, die bei einem nur vorübergehenden Rückgriff auf das Dezimalsystem über die Vielheit der Zahlsysteme hinausreicht.
Was aus unserem Dezimalsystem heraus nicht unmittelbar ersichtlich ist, das bringt die Sprache des Korans wieder ans Licht. Sie kann das aufgrund von Besonderheiten leisten, die sie mit der hebräischen Sprache teilt. Beide Sprachen basieren auf einer Ordnung von neun grundlegenden Archetypen, die sich in wachsenden Dimensionen wiederholen. In dieser Ordnung besteht eine Identität zwischen den Buchstaben und den Zahlen. Buchstaben sind Zahlen und umgekehrt.
Jene Sprache der Zahlen-Archetypen erfasst nun gleich zwei Zählsysteme, das Neuner- und das Zehnersystem (Dezimalsystem). Die neun Archetypen wiederholen sich jeweils in einer anderen Erscheinung. Durch die Folge von Dimensionen werden die scheinbar an der Linearität hängenden Archetypen in eine neue Ordnung erhoben, in die Ordnung der 10. Dort bleiben sie sowohl gegeneinander als auch in Bezug auf ihre augenblickliche Dimension unterscheidbar. Das gelingt durch die Besonderheit der Sprache, denn die in mehreren Dimensionen auftretenden Archetypen unterscheiden sich durch die ihnen zugeordneten, sogenannten Zahlenwerte. Jede Zahl hat danach einen zählenden Reihenwert und einen erzählenden Zahlenwert. Beide Werte sind bis einschließlich der Zahl 10 identisch. Ab der Zahl 11 tritt der Aspekt der zusätzlichen Unterscheidungen hinzu.

Abb. 7 Die 28 Buchstaben des arabischen Alphabets und ihre 28 Zahlenwerte. Ihre Botschaften sind gewaltig aber begrenzt und münden in die Botschaft der «29 initialisierten Suren».
Die «erzählenden Zahlenwerte» (in Abb. 7 / grau hinterlegt) lassen erkennen, dass sie trotz ihrer speziellen Differenzierung noch der maßgebenden religiöse Ordnung der Neun folgen. Die zweifache Zuordnung lässt aber vor allem die besondere Stellung der 19 erkennen. Mit der 19 beginnt eine neue, verbindende dritte Seins-Art (siehe III), welche die vorangehenden zwei polaren Sichtweisen (I + II) übersteigt und zu einem neuen Ganzen verbindet.
Das Zahlen- und Buchstabensystem erfasst zwei Welten die sich auf eine wiederum höhere zubewegen. In der Ordnung der profanen, «gezählten Daseins-Dimension» wird der Wechsel (s.o. 110 alias I-II) mit der Zahl 10 angezeigt. In der heiligen, d.h. ganzheitlichen Ordnung und der von ihr «erzählten Seins-Dimension» zeigt die Zahl 19 den Wechsel zum Geistigen (I-II—III) an. Insofern wundert es nicht, dass die 10te initialisierte Sure ausgerechnet die 19te Sure ist (Abb. 8). Die Ordnung der Koran-Initialen verbindet die profane Weltsicht mit der Sicht auf das Ganze und Heilige.
Die Koran-Initialen lassen den ernsthaften und in (zählenden) Linearitäten verhafteten Leser des Korans nicht entkommen. Der Koran besticht durch viele Linearitäten, die magisch wirken, sich aber endlich doch wieder zugunsten einer höheren auflösen.
Linearitäten sind und bleiben Hilfsmittel, die gelesen, verstanden und schließlich doch überwunden werden müssen. Das beschreibt der Kontext der Offenbarungen, der davon erzählt, dass der Engel Gabriel den Propheten gewaltsam zwingt, einen Text auf einem durch Brokat hügelig (nichtlinear) verzierten Tuch zu lesen. Er kann es nicht. Erst der vierfache göttlichen Nachdruck bringt Mohammed dazu, den Inhalt dann doch noch «zu erschauen».
Der letzte der Initialbuchstaben eröffnet die Sure 68. Er ist das «N(un)» mit der Bedeutung von Fisch. Der letzte Initialbuchstabe ist zugleich der erste, der offenbart wurde. Die Symbolik erzählt von der Einheit von Anfang und Ende. Sie erzählt dabei nicht nur von der Einheit von Geburt und Tod, sondern vor allem von der Einheit des Subjekts mit seinem ihm umgebenden Medium, analog der Bewegung eines Fisches im Wasser.
Mit dem «N(un)», dem Fische-Symbol und seinem Zahlenwert 50 beginnt den Überlieferungen nach die 2te Offenbarung durch den Engel Gabriel. Die ihr vorausgehende 1te Offenbarung bestand aus 5 Versen bzw. 19 Wörter oder 4 x19 (76) Buchstaben.
Die zweite Offenbarung bestand aus 2 x 19 und die dritte Offenbarung aus 3 x 19 Wörtern. Die zweigeteilte 4te Offenbarung ergänzt mit ihrem ersten, aus 4 x 19 Wörtern bestehenden ersten Teil die erste Offenbarung. Die erste Offenbarung und die erste Hälfte der vierten Offenbarung bilden die erste vollständig offenbarte Sure, die Sure 96 («Vom Geronnenen»). Sie besteht aus 19 Versen bzw. 5 x 19 Wörtern. Im so «Geronnenen» hat der vermeintliche Fehler, das «Fehlende» und «Umgekehrte» seinen fruchtbaren Platz eingenommen. Die Sure 96 ist die 19te Sure, sofern man sie umgekehrt, «von hinten» abzählt (s.u. «Das Wesen der Umkehr).

Abb. 8 29 der 114 Koran-Suren sind durch sogenannte Vorbuchstaben «initialisiert». Sie kommen in 14 verschiedenen Formen vor. Die 19te Sure zeigt in ihrem Verlauf der initialisierten Suren einen Bruch an.