Was diese Zahl erzählt:

Was diese Zahl erzählt:

Die Zahl Sechs und das «Sterben» von Jesus

von Michael Stelzner

Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkung

Über das Wesen des Archetyps der Sechs als auch über seine Relevanz im Leben Jesu sowie im Geschehen am Kreuz habe ich mehrere Aufsätze verfasst. Auf ihre Existenz möchte ich im Vorfeld aufmerksam machen, weil sie Zusammenhänge aufzeigen, die dem Leser das hier gezeichnete Bild möglicherweise erst nahebringen. In jedem Falle runden sie es ab. Die Aufsätze sind u.a.

  • „Die letzten Worte Christi am Kreuz und ihre Botschaften“
  • „Das «Sterben» von Jesus am Kreuz im «rechten Geist» und die Bedeutungen von Wein, Galle, Myrrhe, Essig, Schwamm und Rohr“

 

Der nunmehrige Aufsatz greift das Wesen der Sechs in Hinblick auf die Sterbestunde Jesu auf und beschreibt die zum Teil erheblichen, formalen Unterschiede ihrer Darstellung durch die vier Evangelisten. Am Ende soll der Leser erkennen können, dass sie nicht willkürlich sind, sondern vielmehr der Ordnung der Archetypen folgenden und wie diese geometrisch abgebildet werden können.

2. Die Todesstunde Jesu unter dem Aspekt der Archetypen

Sucht man in den vier Evangelien nach der eindeutigen Todesstunde Jesu, gelingt das nicht. In allen vier Evangelien wird die Zahl Sechs direkt oder indirekt genannt, doch wird sie in verschiedenen Zusammenhängen genannt (Mt 27,45; Mk 15,25; Lk 23, 44; Joh 19,14). Dieser in der linearlogischen Ordnung der Zeit hervortretende Bruch (2) ist nicht zu übersehen, deutet aber in allen vier Fällen auf das Wesen der Sechs hin, wo er dann auch seine Erklärung und Lösung findet.

Um Licht ins Dunkel zu bringen, muss man die zugrundeliegende neutestamentliche Zeiteinteilung und die Stellung und Bedeutung der Sechs kennen. Damals teilte man den heutigen 24 Std.-Tag in 12 Tagstunden und 12 Nachtstunden ein. Ein 12-Stunden-Tag begann mit dem Sonnenaufgang und endete mit dem Sonnenuntergang. Da sich aber im Jahresrhythmus die Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang stark verändert, hatten auch die Stunden unterschiedliche Längen. Die Mitte des Tages wurde aber immer mit dem Ende der 6ten Tag-Stunde, also Mittag 12 Uhr unserer Zeit gleichgesetzt. Der Höhepunkt des Lichts erschien mit der Sechs. Analog verhielt es sich mit ihrem Gegenpol. Die Mitte der Nacht entsprach dem Ende der 6ten Nacht-Stunde, also der Mitternacht unserer Zeit.

Der jeweils zeitliche Gipfel des Tag-Seins und des Nacht-Seins war die 6te Stunde, analog dem Stand der Zahl 6 in der Flussform der Zahlen, die ebenso den Gipfel im weltlichen Dasein anzeigt. Die 6 ist eine Mitte, eine trennende und zugleich verbindende Grenze und als solche der Punkt, an dem die universelle Lebensfunktion ihren Höhepunkt erreicht und am deutlichsten sichtbar wird.

Die über die 6 definierte Trennung zwischen Tag- und der Nachtfunktion führt zu zwei unterschiedlichen Perspektiven auf das jeweilige Dasein und dessen Dynamiken. Der Bibel-Exeget muss im Blick auf die jeweils handelnde Person und Entscheidungsträger darauf achten, ob diese die „Nachtperspektive“ oder die „Tagperspektive“ oder beide zugleich vertreten. Eine Bewertung in Gutes und Böses hingegen führt in die Irre.

Ihr Tun ist deshalb nicht linearlogisch zu bewerten, denn es folgt einer archetypischen, triadischen Struktur, die im konkreten Dasein als Sechs erkennbar wird. Maßgebend ist der jeweilige Blick auf das größere Ganze. Der kann im Konkreten das Gesetz, den Herrscher, das Amt oder schließlich den Grad des Bewusstseins eines Entscheidungsträgers betreffen.

Die so zustande kommenden unterschiedlichen Perspektiven prägen die vier Evangelien. Sie erzählen die Kreuzigung Jesu aus vier Perspektiven. Man kann die Erzählungen deshalb nicht wie das Theologen oft tun, linearlogisch miteinander verknüpfen. Das bedeutet, dass man die Geschehnisse zeitlich nicht harmonisieren kann. Die von den Evangelisten übermittelten Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen haben soll, dürfen nur im Kontext des jeweiligen Evangeliums gedeutet werden. Wer jene Struktur missachtet, der verliert den Blick auf das Ganze hinter den Erzählungen. Wer aus den sieben Kreuzesworten eine lineare Zeitenfolge konstruiert, der erklärt die Evangelisten zumindest für unmündig.

3. Der Archetyp der Sechs und die Erzählungen des Matthäus und des Markus

Die Botschaft der Sechs und ihrer fruchtbaren Unterscheidung ist essentiell und drängt sich vielfach auf. Sie fällt schon beim Vergleich der Erzählungen der ersten zwei Evangelisten regelrecht ins Auge. Bei Matthäus, dem ersten Evangelisten findet die Kreuzigung um die 9ten Stunde statt: „Um die 9te Stunde aber schrie Jesus mit lauter Stimme auf und sagte: Eli, Eli, lema sabachthani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46)

Bei Markus, dem zweiten der Evangelisten ist die 3te Stunde die Stunde der Kreuzigung: „Es war aber die 3te Stunde und sie kreuzigten ihn“ (Mk 15,25). Aus linearlogischer Sicht existiert zwischen Matthäus und Markus bezüglich des Kreuzigungs- bzw. Todeszeitpunkt Jesu eine Differenz von 6 Stunden. Stellt man die Einheit und Gleichheit des von ihnen übermittelten, einen Kreuzeswortes in Rechnung, muss man beide auch aufeinander beziehen. Der „Mittelpunkt der Zeiten“ ist die Sechs! Ihr Archetyp vollbringt mit Hilfe der konkreten Substanzebene das, was scheinbar unmöglich erschien, die Einheit der Gegensätze (s.a. ▲→✡←▽). Über sie verwandelt sich das Bild des Bruches zu einem Bild von Fruchtbarkeit. Das über die Sechs neu erschaute Verhältnis von Zwei zu Eins macht den Fluss sichtbar.

Die Sechs erhebt den Archetyp der Zwei, der sodann mehr ist als nur das Doppelte der Eins. Sie Sechs umfasst den Bruch und das Gebrochene im Bild der Einheit. Solche Zweiheit erzählt ganzheitlich vom mathematischen Bruch 1:2 und vom wahren Wesen des Hälftigen. Die lineare Logik versagt hier. Was für Matthäus noch die 9te Stunde war, ist für Markus einfach nur die fortgeschrittene und potenzierte 3te Stunde. Die beiden Evangelisten reden von ein und dem gleichen aus verschiedenen Perspektive. Die Verbindung der zwei Zeiten ist eine triadische, wie sie in der Flussform der Zahlen anschaulich wird.

4. Der Archetyp der Sechs und die Erzählung des Lukas

Nach Matthäus und Markus folgt Lukas, der Dritte der Evangelisten. Als solcher vereint er die zuvor hervorgetretenen Gegensätze. Lukas ignoriert keinen der beiden Pole und setzt keinen von beiden ins Unrecht. Auffällig ist, dass bei ihm Pilatus an Jesus keine Todesschuld feststellen kann. Deshalb schickt er ihn zu seinem ehemaligen Widersacher Herodes. Auch er kann keine Schuld feststellen, obwohl – im Gegensatz zu Pilatus – Jesus bei Herodes doch nur schweigt. Während Jesus mit Pilatus noch kommuniziert hatte, schweigt er bei Herodes. Mit seinem Schweigen fügt Lukas der einfachen Kommunikation eine andere Kommunikation hinzu, die Kommunikation der aus der Außensicht etwas fehlt. Es ist die „Kommunikation ohne verbale Kommunikation“. Beide Herrscher können bei Jesus keine Schuld finden. Das erstellt eine neue Einheit. Das neue Einvernehmen lässt die einstigen Gegner zu Freunden werden: „Pilatus und Herodes aber wurden an diesem Tag Freunde miteinander; denn vorher waren sie gegeneinander in Feindschaft“ (Lk 23,12). Kurzum: Lukas sieht die Gegensätze aus der Drei heraus und findet in ihr das Verbindende.

Weil die beiden Herrscher nichts Todeswürdiges an Jesus finden, möchte Pilatus ihn nach einer (einfachen) Züchtigung freigeben. Doch kann Lukas, der dritte Erzähler seinem Archetyp entsprechend Pilatus nicht allein aus dessen subjektiver Sicht heraus entscheiden lassen. Die horizontale Übereinkunft mit seinem Gegenspieler Herodes hatte Pilatus, der „Brückenbauer“ schon hergestellt. Nun ging es ihm noch um die vertikale Einheit zwischen ihm, den Herrscher und dem Volk. Dazu lässt er den zu ihm vertikalen Gegenpart zu Wort kommen und ruft eine andere, ergänzende Drei und Funktion zusammen, die aus den Hohepriestern, den Obersten und dem Volk besteht. Dreimal versucht Pilatus Jesus freizugeben. Die ihm entgegentretende, „andere Drei“ hat jedoch ein höheres Gewicht und wird ausschlaggebend. Pilatus entscheidet, „dass ihre Forderung erfüllt werden soll“ (Lk 23,24).

Die Entscheidung des Pilatus entspricht nicht seiner Überzeugung. Doch er kennt die Notwendigkeit der Dynamik (3). Dabei verleugnet er nicht seinen Standpunkt und benennt die Wahrheit weiterhin sehr deutlich. Trotz seines dreimaligen Widerspruchs muss er als Amtsträger die von der Zeitqualität und auch von Jesus selbst geforderte und ihnen geschuldete „Neutralität“ konsequent beachten und Fakten „manifestieren“. In der Außensicht erfüllt Pilatus hier die Nachtseite. Innerhalb dieser aber erfüllen die nunmehr befreundeten Subjekte Herodes und Pilatus die Tagseite. Die Entscheidung des Pilatus hingegen wird zum Bild für das Dunkel, das sich in der 6. bis 9. Stunde verwirklicht: „Und es war schon um die 6. Stunde. Und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur 9. Stunde, über die ganze Erde da sich die Sonne verfinsterte. Der Vorhang des Tempels aber riss mitten entzwei“ ( Lk 23, 44f).

Die vom Dritten, dem Lukas genannte „6. bis 9. Stunde“ greift auf den Ersten und den Zweiten, auf Matthäus und auf Markus zurück, die sie ebenso benennen. Ihre Erzählungen haben einen erdbezogenen Kontext, denen notwendig eine bestimmte Linearität eigen ist. Bei Matthäus ist die 9te Stunde die Stunde der Kreuzigung und bei Markus ist es die 3te Stunde. Bei dem einen ist es die „höchste“ und bei dem anderen die „niedrigste“ der genannten Stunden. Ihre Lineartäten laufen gegeneinander. Das entspricht dem Gesetz der Substanz (4), denn beide Blickweisen entstehen aus der Erdenperspektive und sind von subjektiver Art. Jedem Subjekt, auch dem Gottessohn Jesus haftet eine Halbheit an. Im Falle Jesus bringen das die beiden Zeugen über dessen finalen, emotionalen Aufschrei zum Ausdruck.

Aus der Erdenperspektive gibt es im Grunde immer drei Ansichten, die des einen und die des anderen und eine dritte, welche beide noch nicht sehen. Im Falle von Matthäus und Markus ist das die des Lukas. Lukas erbebt sich aus der Erdperspektive. Auch er erwähnt die Schicksalsstunden 6 bis 9, aber nicht mehr eine Todesstunde, denn der Tod hat bei ihm schon nicht mehr die Relevanz wie noch bei den Matthäus und Markus. Lukas entwickelt eine vollends geistige Sicht. Das erzählt u.a. der symbolische Vorhang zum Allerheiligsten. Während er bei Matthäus und Markus erst nach und durch den Aufschrei Jesu zerreißt, zerreißt er in der lukanischen Erzählung schon vor seinem physischen Tod, nämlich nach und durch dessen lautstarke und artikulierende Stimme: „Vater ich befehlige meinen Geist in deine Hände!“ (Lk 23,46).

Auch die Erzählung des Lukas kann noch nicht die letzte sein, denn mit ihr stehen sich erneut zwei Sichtweisen gegenüber, die der zwei erdverhafteten Evangelisten Matthäus und Markus einerseits und die Erzählung des Lukas andererseits, der die Ereignisse aus der geistigen Perspektive (3) erzählt. Das bedarf einer erneuten, einer sie verbindenden Erzählung. Das ist die des Johannes.

5. Der Archetyp der Sechs und die Erzählung des Johannes

Der vierte Evangelist ist Johannes. Er stellt klar, dass alles was geschieht, im Sinne der Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit geschieht und er stellt klar, dass das auch für die Welt in ihrem konkreten Dasein gilt. Der Archetyp der Vollkommenheit ist aus der linearlogischen Sicht des Menschen das geschriebene Gesetz. Für den wissenden Jesus hingegen ist er mehr. Für ihn handelt es sich um das göttliche Gesetz, das vom Wesen der Vier und der Einheit aller Dinge erzählt, das auch das Göttliche erfasst. Schrift und Sprache können das Gesetz in seiner Vollkommenheit nur unvollständig erfassen, weshalb Jesus auf die Frage des Pilatus nach seiner Herkunft zunächst schweigt (s. Joh 19,9). Erst auf die Frage, warum er schweigt, kann er auf die vertikale Hierarchie der Dinge verweisen und antworten: „Du hättest keinerlei Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre. Darum hat der, welcher mich dir überliefert hat, größere Sünde (Joh 19,11). Die Antwort des Vierten ist hochkomplex, denn sie umfasst sowohl den Blick nach unten zum Volk als auch den nach oben zur Gottheit.

Die Vier repräsentiert sowohl die göttliche als auch die weltliche Vollkommenheit, obwohl letztere von den Menschen nicht erkannt wird. Für sie ist sie der Ort (4), an dem Recht gesprochen wird. Auf ihm steht der Richterstuhl. Er steht auf einem konkreten „Steinpflaster“ (4), dem sogenannten „Gabbata“ (Joh 19,13). Auf diesem ebenen Fundament (4) entscheiden die Subjekte (5) entsprechend dem Grad ihres Bewusstseins.

Das Volk will mit der Kreuzigung Jesu das Gesetz erfüllt wissen. Es misst dem körperlich existierenden Kaiser mehr Bedeutung bei als Jesus, ihrem geistigen aber für sie noch ungreifbaren König. Auch bei Johannes, dem vierten Evangelisten zollt der hochstehende Pilatus den Umständen Tribut und sündigt. Er „sündigt“ nun wissend darum, dass die Repräsentanten der größeren Kraft auch die größere Sünde tragen. Doch hat Pilatus von Jesus noch viel mehr erfahren. Er hat erfahren, was Sünde im Anblick des Gesetzes wirklich bedeutet. In dessen Vollzug macht Pilatus in der 6ten Stunde zweierlei (Joh 19,14). Er setzt sich auf den Richterstuhl und stellt dem Volk unmissverständlich Jesus als ihren König vor, und er übergibt ihn auf Verlangen des Volkes seinem tödlichen Schicksal.

6. Zusammenfassung

Bei den drei ersten Evangelisten verliert in der 6te bis 9te Stunde die Sonne ihren Schein (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23, 44). Johannes abstrahiert noch weiter und erzählt nur noch von der Sechs (Joh 19,14). Er erzählt dabei von der denkbar einfachsten Struktur, wie sie auch die Geometrie des pythagoreischen Dreiecks der Seitenlängen 3, 4 und 5 erzählt und dabei die Dimension der Sechs hervorbringt.

Alle vier Evangelisten verorten das Kreuzesgeschehen übereinstimmend in diese Zeit. Matthäus und Markus werden dabei auf einfache Weise sehr konkret. Das entspricht ihrer Stellung in der Struktur der Ordnung, denn die zwei Ersten verkörpern die konkrete Polarität in der Welt. Aber erst in der Verbindung der von ihnen genannten Todesstunden (3 bzw. 9) Jesu tritt die zentrale Bedeutung der 6 hervor.

Die Lukas-Erzählung ist gegenüber der Matthäus- und der Markus-Erzählung von abstrakterer Art. Auch sie benennt die 6. bis 9. Stunde. Doch benennt sie weder den konkreten Todeszeitpunkt Jesu, noch enthält sie den emotionalen Schrei am Ende. Sie erzählt nur noch, dass Jesus den Elias mit einer schreienden Stimme anruft (Lk 23,44f). Lukas lässt den „Brückenbauer“ Pilatus in der 6ten Stunde zur Erfüllung des Gesetzes die Entscheidung für das Schicksal Jesu treffen.

Johannes erzählt das Geschehen am Kreuz gegenüber den anderen drei Evangelisten trocken und emotionslos. Seine Erzählung kennt weder einen Schrei noch eine Zeitangabe. Das ihm zugrundeliegende Muster ist ein geometrisches (s. Abb. 1), das die Geheimnisse von Tetraeder und Pyramide enthält.

In allen vier Erzählungen der Evangelisten ist der Vorgang der Verurteilung und Kreuzigung ein Vorgang der Sechs. Die Sechs bestimmt die Dynamik des Geschehens. Sie ist die Zahl der Grenze. Von der einen Seite erscheint sie hochtragisch und ist von der anderen Seite doch das Erlösungsgeschehen im Christentum.

Abb. 1  Die vier Evangelien folgen dem Muster von fraktal fortschreitenden Polaritäten:
Matthäus—Markus || Matthäus-Markus—Lukas || Matthäus-Markus-Lukas—Johannes

7. Ein notwendiger Nachtrag über die Frauen, die Sechs und die Kreuzigung Christi

Die Erzählungen von der Kreuzigung JESU verbildlichen die alles umfassende Verbindung von Gegensätzen. Sie beinhalten nicht nur die Widersprüche in der Welt, sondern ergreifen auch die Verbindung des Diesseitigen mit dem Jenseitigen und zeichnen darin eine fortlaufende und universelle Dynamik aus, die sich über die profane Polarität und ihre Hilfsgrössen Anfang und Ende erhebt. Ihr Archetyp ist die Dreizahl.

Wenn die Erzählungen, wie es vordergründig erscheinen mag, ausschließlich die männliche Perspektive einnehmen würden, dann würden sie dem verbindenden Charakter dieser letzten und höchsten christlichen Inszenierung eklatant widersprechen. Das aber ist nicht der Fall. Alle biblischen Texte geht es endlich um die Triade und mit ihr auf eine veränderte Sicht auf den Archetyp der Zwei, denn jegliche Dynamik entspringt der Zwei.

Welchen Bezug die Frauen zum Geschehen am Kreuz haben, beschreibe ich detailliert im gesonderten Aufsatz «« Die «Frauen und das Kreuz»  im Licht der vier Evangelien »». Die Evangelien klammern die Frauen und die von ihnen ausgehende Dynamik keineswegs aus. Vielmehr entwickeln sie eine eigene, in sich geschlossene Sicht und ergänzen damit die vordergründig beschriebene männliche Sicht. Alle vier Evangelisten tragen ihrem Charakter nach dazu bei (Mt 27,55f; Mk 15,40f; Lk 23,48f; Joh 19,25). Drei von ihnen, MATTÄUS, MARKUS und JOHANNES benennen jeweils drei Frauen. Immer wird zwei von ihnen der Name MARIA zugeordnet. MARIA ist das Symbol für das vollkommene, weibliche Prinzip, dass in seiner Vollkommenheit auch das Andere und scheinbar Unvollkommene einschließt. MARIA ist die personifizierte Vierzahl. Dem «Gesetz der Vier» entsprechend erlöst sie die profane Zwei und den mit ihr einhergehenden Zwiespalt und fügt ihn fruchtbar in ein neues Ganzes ein.

JOHANNES der vierte Evangelist bringt den Zwiespalt zwischen den drei jeweils namentlich genannten Frauen, von denen jedoch nur zwei MARIEN sind, auf den erlösenden Punkt. Auch bei ihm fehlt bei einer der Frauen der Name MARIA, doch lässt er keinen Zweifel mehr darin aufkommen, dass es sich ebenso um eine MARIA handelt, denn er benennt sie unmissverständlich als die «Mutter von JESU» (Joh 19,25)

Die weibliche Sicht auf die Kreuzigung, die in den Erzählungen der Evangelisten über drei Frauen thematisiert wird, steht nicht für sich allein. Wie die männliche der weiblichen Sicht bedarf, verhält es sich auch umgekehrt. Auch die weibliche Sicht bedarf der männlichen. Beide Sichtweisen werden erst durch die jeweils andere vollkommen. Erst wenn die drei unter dem Kreuz stehenden und aufwärts schauenden Frauen (▲) mit den drei gekreuzigten und abwärts schauenden Männern (▽) als eine Einheit gesehen werden, entsteht das Wunder der Sechs, das eine neue Daseinsebene manifestiert (▲+▽➜✡). Der Augenblick des Wunders ist der, in dem die Frau MARIA MAGALENA das leere Grab entdeckt und somit den Tod relativiert.

Das Bild der Kreuzigung ist ein Gleichnis, das auf das Ur-Muster aller Sprachen, auf die Archetypen zurückgeführt werden kann. Das erfahren wir von Matthäus, dem ersten der vier kanonischen Evangelisten: „Dies alles redete Jesus in Gleichnissen zu den Volksmengen, und ohne Gleichnis redete er nichts zu ihnen“ (Mt 13,34).¹

Die Geometrie dient dem Verständnis der Gleichnisse in besonderer Weise. Anhand der nachfolgenden Abbildung möchte ich das Kreuzessymbol und die in ihm eingeschlossenen Weisheiten erhellen. Die dargestellte Geometrie baut auf dem Einheitskreis (r = 1), dem Symbol für die Einheit und Vollkommenheit auf. Jene göttliche Ganzheit umschließt ein Quadrat der Fläche 2. Das Verhältnis des umschließenden Einheitskreises zu dem umfangenen Quadrat gleicht dem Verhältnis der Gottheit (1) zur Welt der Dinge (4). Sie ist ebenso wenig auf linearlogische Weise zu erfassen, wie eine Berechnung der »Quadratur des Kreises« vollkommen sein kann. Wohl aber kann man in der Schau des Musters die wahre Beziehung der Zwei zur Eins und die die sie ausmachenden Entitäten als Archetypen erkennen. Die Geometrie erzählt darüber hinaus von der Vermittlerrolle der Sechs (Hexagramm) in der Beziehung. Über die vollkomme Zahl 6 wird die Gleichheit von Innen und Außen, d.h. von den sechs umgebenden und dem siebten, zentralen Kreis offensichtlich. Die Sechs erlöst die Zwei vom Verdacht der Sünde, analog der MARIA MAGDALENA, die das leere Grab Christi vorfand.

Abb. 2  Das Kreuzsymbol (4) erwächst aus dem Einheitskreis (1). Es entlässt und umfasst den Archetyp der Zwei in Form des Quadrats der Fläche 2. Das die Archetypen verbindende Wirkprinzip ist das der Sechs.

Fußnoten

¹ Siehe auch Apg 8,30:  „Verstehst du auch, was du liest?

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